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MoralMetaethik

„Siehe, dir gefällt die Wahrheit, die im Verborgenen liegt“ (Ps. 51,8)

Zur Frage nach der Wahrheitsfähigkeit moralischer Äußerungen

I. Was ist eigentlich das Problem

Was ist Wahrheit?“ – eine Frage, die uns allen nur zu bekannt ist. Pilatus stellt sie Jesus. Und Je­sus? Nun, er gibt keine Antwort; er sagt nichts. – Zu seiner Verteidigung: Pilatus scheint mit die­ser Frage wohl auch nicht wirklich nach einer Antwort gesucht zu haben… – Was aber wäre die richtige Antwort darauf gewesen? Was wäre dazu zu sagen gewesen, was Wahrheit nun eben ist?

Betrachtet man die ganze Szene, wie sie im Jo­hannesevangelium überliefert ist (Joh 18, 28-40), dann zeigt sich Folgendes: Pilatus reagiert mit der Frage nach Wahrheit auf eine ganz konkrete Situation. Auf der einen Seite dieser Situation steht Jesus von Nazareth, mit seiner Rede davon, dass er „in die Welt gekommen“ ist, um in ihr„Zeugnis von der Wahrheit abzulegen“ – auf der anderen Seite: die Hohepriester, die schreiende Menge, die den Tod dieses Gotteslästerers ver­langen. Was sollte Pilatus also tun? Was wäre richtig gewesen, was dasjenige, was die Situation erfordert hätte? – Und was tut er? Er reagiert, in­dem er etwas sagt… „Was ist Wahrheit?“ – eine Frage, die uns allen also nur zu bekannt ist? Wie oft stellen wir uns diese Frage, wenn wir darüber nachdenken, was die richtigen Handlungen in einer bestimmten Situation sind? Und noch vielmehr: Wie oft be­antworten wir sie, wenn wir darüber diskutieren, welche moralischen Verhaltensweisen und Vor­stellungen nun eben richtig sind oder nicht?

Aber: Können unsere Worte „Wahrheit“ zur Sprache bringen? Konkreter noch: Können un­sere Äußerungen, speziell unsere moralischen Äußerungen, eigentlich „wahr sein“? Können un­sere moralischen Äußerungen also eine Antwort auf die Pilatus-Frage nach der Wahrheit geben, die wirklich dem entspricht und das trifft, was moralische Wahrheit ist? In anderen Worten: Wenn man sagt, dass ein bestimmtes Verhalten, eine bestimmte Tat, oder eine bestimmte Hand­lungsweise ‚moralisch falsch‘ ist, kann das also ‚objektiv‘ wahr sein? Oder ist eine solche Äuße­rung nur ‚subjektiv‘ zu nehmen, da man mit der Sprache ohnehin keine „Wahrheit“ aussagen kann? Ausgehend von jener Pilatus-Frage soll im fol­genden Aufsatz ein Gedankengang entfaltet wer­den, der sich der Frage widmet, ob unsere morali­schen Äußerungen überhaupt wahrheitsfähig sind oder nicht. Dafür wird zuerst gefragt, was man ei­gentlich tut, wenn man solch eine moralische Aussage ‚äußert‘ (2.), sodann wie eine solche Äu­ßerung denn eigentlich wahr sein kann (3.) und danach, wie das im Zusammenhang mit unserer moralischen Wahrnehmung allgemein steht (4.). Die These des Aufsatzes wird sein, dass die Wahrheit moralischer Äußerungen letztlich ‚un­verfügbar‘ bleibt, dass aber dennoch zwei Bedin­gungen für Wahrheit formuliert werden können: einmal die „Kohärenz“ von moralischen Über­zeugungen (notwendige Bedingung) und einmal das (Ein-)Gebunden-Sein moralischer Äußerun­gen im Verhalten in je konkreten lebensweltli­chen Situationen (hinreichende Bedingung). Ab­schließend wird dies gebündelt und nochmals der Bezug zur einleitenden Szenerie rund um die ‚Pilatus-Frage‘ aufgenommen (5.).

II. Was tut man eigentlich, wenn man moralische Äußerungen tätigt?1Die Gliederung orientiert sich im Folgenden an: Niederbacher, Metaethik, 5f/15ff/66ff.

Grundsätzlich kann man unter den ver­schiedensten Gebrauchsweisen unserer Spra­che2Zur „Mannigfaltigkeit“ der Arten und Weisen des Gebrauchs unserer Sprache siehe: Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, 11. Aufl., Frankfurt am Main 2003. drei besonders charakteristische sprachli­che Äußerungsformen abheben:3Vgl. zur folgenden dreifachen Unterscheidung: Werner, Einführung, 203 & Birnbacher, Analytische Einführung, 336 & Quante, Einführung, 45ff. Mit einer sprachlichen Äußerung ist es möglich, (a) etwas zum Ausdruck bringen, (b) jemanden aufzufor­dern etwas zu tun oder zu unterlassen, oder (c) eine Behauptung zu äußern.4Vgl. dazu auch: Quante, Einführung, 47. Ersteres kann als „expressiver“ Sprachgebrauch („Ausdrucksfunktion“), zweiteres als „evokativer“ („Appellfunktion“), und drittes als „deskriptiver“ Sprachgebrauch („Darstellungsfunktion“) verstanden werden. Zu welcher dieser drei Formen sprachlicher Äußerungen lassen sich moralische Äußerungen zuordnen? Die Klä­rung ist zentral, denn: „Von der Antwort auf diese Frage hängt ab, ob […] [eine moralische Äußerung, L.S.] als etwas aufzufassen ist, das wahr oder falsch sein kann.“5Vgl. Fischer, Grundkurs, 36 (kursiv ergänzt).

Moralische Äußerungen sind keine kognitiven Äußerungsformen, sondern…

(a) …ein Ausdruck von Emotionen

Fragt man nun danach, was man eigentlich tut, wenn man eine moralische Äußerung formuliert, dann ist eine mögliche Antwort die, dass man damit eine Emotion zum Ausdruck bringt. Die moralische Äußerung „Diese Handlung ist schlecht!“ will dann nicht behaupten, dass die be-sagte Handlung wirklich schlecht ist und sie will auch nicht dazu auffordern, diese Handlung zu unterlassen. Vielmehr will sie nur die Emotion einer Person gegenüber jener Handlung zum Ausdruck bringen. So verstanden besagt eine moralische Äußerung nicht viel mehr als „meine moralische Missbilligung dieser Handlung“ – sie ist nur ein negativer Zuruf; so hätte man auch einfach sagen können: „‚Pfui!‘, ‚Igitt!‘, Buh!‘“. Selbiges gilt auch für die positive Bewertung einer Handlung. Die Äußerung „Dieses Verhalten ist gut!“ meint ebenfalls nicht mehr und nicht weniger als eine moralische Anerkennung dieses Verhaltens – sie ist ein positiver Zuruf; und: so hätte man auch sagen können: „‚Bravo!‘, ‚Toll!‘, ‚Prima!‘, ‚Hurra!‘“.6Vgl. Niederbacher, Metaethik, 17. Es liegt auf der Hand, dass ein solches Verständnis von moralischen Äußerungen nur schwer mit der Frage nach der Wahrheitsfähigkeit überhaupt in Verbindung zu bringen ist. Denn positive oder negative Zurufe qualifiziert man üblicherweise kaum als „wahr“ oder „unwahr“.

Diese extreme Position, die moralische Äuße­rungen als schlichten, unmittelbaren Ausdruck von Emotionen versteht, als Ausdruck emotiona­ler Billigung oder Missbilligung, ist auch als „Emotivismus“ bekannt.7Vgl. ebd. 16-21. Zentrale Vertreter dieses „Emotivismus“ sind die beiden Philosophen Alfred J. Ayer und Charles L. Stevenson. Zu kleineren Differenzen zwischen Ayer und Stevenson siehe: Quante, Einführung, 49ff. Sie gründet auf einem sehr scharf umrissenen Verständnis dessen, was überhaupt als wahrheitsfähige Äußerung gelten kann. Wahrheitsfähig seien nämlich nur, so die Vertreter des Emotivismus, entweder „empiri­sche“ oder „analytische“ Sätze: Empirische Sätze seien wahrheitsfähig, da man sie durch natur­wissenschaftliche Methoden und Experimente verifizieren kann; analytische Sätze, weil sie nur das aussagen, was als logisch aus sich heraus ent­faltet werden kann (Bsp.: „Alle Junggesellen sind ledig.“).8Vgl. Niederbacher, Metaethik, 19. Demgegenüber sind alle anderen Sätze bzw. Äußerungen – auch moralische – nicht wahrheitsfähig, da sie nicht durch empirische Methoden oder durch analytische Zergliederung verifiziert werden können.

Sowohl das ‚enggeführte‘ Verständnis von Wahr­heit und von Sprache9Zur Kritik dieses Sprach- und Wahrheitsverständnisses siehe auch: Anzenbacher, Einführung, 271-278 und ausführlicher (hier in pflichtenethischer Perspektive): Pieper, Sprachanalytische Ethik, 69-114. als auch die gewöhnliche Intuition, durch moralische Äußerungen nicht nur Emotion auszudrücken, sondern (mindes­tens) auch eine Wirkung zu erzielen, führen über ein rein emotivitisches Verständnis moralischer Äußerungen hinaus – wenngleich richtigerweise doch die hier stark gemachte Rolle von Emotio­nen und Affekten in die späteren Überlegungen mitaufgenommen werden muss.10Vgl. dazu besonders die Abschnitte in Punkt 3.

(b) …eine Aufforderung

Damit kann nun eine weitere mögliche Antwort auf die Frage danach, was man tut, wenn man sich moralisch äußert, gegeben werden: Man äu­ßert eine Aufforderung, die bewirken soll, dass jemand etwas Bestimmtes tut, oder etwas ande­res unterlässt („präskriptiv“/„Appellfunktion“). Diese Konzeption grenzt sich von der Vorstel­lung ab, dass moralische Äußerungen ausschließ­lich zum Ziel hätten, bestimmte Sachverhalte zu beschreiben bzw. nur eine (moralisch-)sachliche Behauptung zu formulieren („deskrip­tiv“/„Darstellungsfunktion“). Mehr noch: Die Vorstellung, dass moralische Äußerungen ‚prä­skriptiv‘ und also Imperativsätze sind, geht zum ersten davon aus, dass alle solchen moralischen Äußerungen grundsätzlich „eigentlich Impera­tive seien, auch wenn sie im Kleid von Indikativs­ätzen aufträten“.11Vgl. Niederbacher, Metaethik, 31 (kursiv ergänzt). Genauer noch müsste man darüber hinaus zum zweiten formulieren, dass eben der Gegenstand, auf den sich eine solche präskriptive moralische Äußerung bezieht (Ob­jekt/Handlung), durch diese Äußerung „als emp­fehlenswert“ (oder als nicht-empfehlenswert) charakterisiert wird.12Vgl. Stahl, Metaethik, 61.

Wie ist das zu verstehen? Im Falle dieser Konzeption sind der imperativi­sche, präskriptive Charakter sowie der „Hand­lungsbezug“ der Äußerung miteinander ver­knüpft. Denn die auffordernde Äußerung be­steht selbst in einem Handlungsbezug, insofern gilt: Die als empfehlenswert charakterisierte Hand­lung ist der Bezugspunkt der auffordernden Äuße­rung selbst. Dadurch ist an diese auffordernde Äußerung über ihren primären, wesentlich prä­skriptiven Charakter hinaus noch eine sekun­däre, deskriptive Dimension geknüpft. Man for­dert auf (präskriptiv), indem man dabei auf etwas als empfehlenswert rekurriert (deskriptiv). Diese deskriptive Dimension wiederum ist der Grund dafür, dass die als empfehlenswert charakteri­sierte Handlung, trotz „subjektiver Präferen­zen“, über das Subjektive hinaus zugleich auch eine „universale Empfehlung“ darstellt.13Vgl. Stahl, Metaethik, 61 & Niederbacher, Metaethik, 61f. Ein sol­ches Verständnis wird auch als „universeller Prä­skriptivismus“ bezeichnet.14Zentraler Vertreter dieses „universellen Präskriptivismus“ ist der Philosoph Richard M. Hares mit seinem einflussreichen Werk The Language of Morals aus dem Jahr 1953. Diese Position nähert sich dem üblichen Ver­ständnis moralischer Äußerungen stärker an, da hier sowohl die Wirkungen in ihrer präskripti­ven Dimension aufgenommen werden, wie auch einer deskriptiven, universalen Dimension Rechnung getragen wird, die wir üblicherweise mitmeinen, wenn wir uns moralisch äußern. Dennoch: Eine durchgängige Rede von „Empfeh­lungen“ deutet bereits darauf hin, dass die Leit­frage dieses Essays – nach der Wahrheitsfähigkeit moralischer Äußerungen – auch hier wiederum an eine Grenze stößt.15Vgl. dazu Fischers Formulierung: „Nur behauptende Aussagen bzw. Urteile können wahr oder falsch sein, nicht hingegen Imperative, Empfehlungen oder Gefühlsäußerungen.“ (vgl. Fischer, Grundkurs, 36). Ähnlich auch Werner: „Alles in allem wird mit solchen [moralischen] Urteilen [in unserem Alltagsgebrauch] so verfahren, als ob sie einen Wahrheitswert hätten (…). Vertreter/innen des Nonkognitivismus stehen damit vor der Alternative, entweder einen Großteil der Verwendungsweisen moralischer Urteile (sowohl in moralischen Alltagsdiskussionen wie in normativ-ethischen Fachdiskursen) als sinnlos zu erklären, oder eine Interpretation dieser Urteile vorzuschlagen, die erklären kann, warum es rational ist, sie mehr oder weniger so zu verwenden, als ob sie wahrheitswert hätten, obwohl dies tatsächlich nicht der Fall ist.“ (vgl. Werner, Einführung, 205).

Moralische Äußerungen sind kognitive Äußerungsformen wie z.B. …

(c) …die Äußerung einer Behauptung

Unter den eingangs erwähnten drei charakteris­tischen sprachlichen Äußerungsformen können moralische Äußerungen schließlich auch noch als solche verstanden werden, die eine Behaup­tung oder eine Überzeugung kommunizieren. Im Unterschied zu den beiden eben besproche­nen (Emotivismus und Präskriptivismus), die als „nicht-kognitive“ moralische Äußerungsformen bezeichnet wurden, handelt es sich hierbei um sogenannte „kognitive“ moralische Äußerungen. Diese kognitive Konzeption geht davon aus, dass im Falle einer moralischen Äußerung im We­sentlichen nicht Emotionen zum Ausdruck ge­bracht werden oder auf Basis von Handlungs­empfehlungen zu etwas aufgefordert wird, son­dern dass vielmehr eine Überzeugung formuliert, ein Urteil gefällt, eine Behauptung konstatiert wird. Bedeutet: Mit einer Überzeugung, einem Urteil oder einer Behauptung ist bereits ein „propositionaler Gehalt“ kommuniziert, also ein bestimmter Inhalt, der als „wahr“ oder „unwahr“ qualifiziert werden kann. Hier wird also davon ausgegangen, dass moralischen Äußerungen durchaus wahrheitsfähig sind.16Vgl. Niederbacher, Metaethik, 34f.

Den Kognitivismus kann man weiter unterschei­den, in einen „subjektivistischen“ und einen „ob­jektivistische“ Kognitivismus. Erst zum „subjek­tivistischen“ Kognitivismus. Während der Emo­tivismus und der Präskriptivismus in gewisser Weise ebenfalls als subjektivistische Konzep-tionen gelten können, da sie implizit immer den Emotionsausdruck oder die Handlungs-empfehlung eines einzelnen Subjekts vor-aussetzen, bleibt deren moralischer Anspruch doch im Bereich des Nicht-Kognitiven (Emotion, Präskription).17Vgl. Quante, Einführung, 54ff. Demgegenüber geht der „subjektivistische Kognitivismus“ zum einen davon aus, dass sich das einzelne Subjekt mit einer moralischen Äußerung zwar im Bereich der wahrheitsfähigen Aussagen bewegt, dass aber zum anderen hier dennoch eine „Minimalposition“ eines rationalen moralischen Anspruchs vertreten wird.18Ebd. 56: „Es sind ausschließlich die Interessen von Subjekten, aufgrund derer die Welt ethische Eigenschaften oder Wertigkeiten bekommt.“

Während diese Position also jener Tatsache Rechnung trägt, dass es immer einzelne Subjekte sind, die mit ihren Interessen (und Motiven) mo­ralische Äußerungen formulieren, bliebt doch hier noch offen, wie unsere gewöhnliche Intui­tion einzuordnen ist, die bei einem moralischen Urteil bzw. einer moralischen Überzeugung ge­rade über die subjektive Dimension hinaus­drängt und auf etwas Wahres, Subjekt-Transzen­dentes Bezug nehmen will. An eben der Stelle kommt der „objektivistische Kognitivismus“ ins Spiel. Vertreter dieser Konzeption gehen davon aus, dass eine moralische Äußerung ein Urteil bzw. eine Überzeugung kommuniziert, die einer bestimmten Handlung eine Qualität zuspricht, „die sie für unabhängig von ihrem Bewusstsein und ihren Einstellungen [existierend] halten“.19Vgl. Niederbacher, Metaethik, 39. Man äußert also etwas, das völlig unabhängig von allen subjektiven Bedingungen (Emotionen, Emp­fehlungen, Wünsche, Erfahrungen, …), eben „objektiv“ als „wahr“ oder „unwahr“ zu gelten hat.20Vgl. ebd. 39ff. Selbstverständlich gilt es auch hier noch gründlicher zwischen verschiedenen Formen eines ‚objektivistischen‘ Kognitivismus zu unterscheiden. Dazu ausführlicher: vgl. Quante, Einführung, 74ff/91ff.

Von Äußerungen – und ihrer Wahrheitsfähigkeit

Der Durchgang durch diese drei Gebrauchswei­sen von Sprache legt also folgendes nahe: Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass unser ge­wöhnlicher Gebrauch moralischer Äußerungen (in einer noch näher zu spezifizierenden Weise) im Bezug zu Emotionen steht. Es ist aber eben­falls nicht von der Hand zu weisen, dass der An­spruch, mit dem wir moralische Äußerungen formulieren, üblicherweise über das rein emoti­onale, aber ebenso über das rein subjektive hin­ausdrängt, auf eine Art ‚objektiver Wahrheit‘. So­sehr es zutreffend ist, dass moralische Äußerun­gen auch präskriptiven Charakter haben, sosehr ist es aber auch plausibel, dass die Wahrheit mo­ralischer Äußerungen nicht darin besteht, pri­mär präskriptiv zu sein. Es legt sich vielmehr nahe, dass moralische Äußerung wesentlich kog­nitiven Gehalt haben, einen bestimmten Inhalt, der als „wahr“ oder „unwahr“ qualifiziert werden kann. Die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit mo­ralischer Äußerungen wird hier deshalb zu­nächst im Ausgang des Kognitivismus, näher des objektivistischen, weiterverfolgt werden. Die entscheidende Frage, die sich nun aber stellt, ist folgende: Wie werden moralische Äußerungen eigentlich wahrheitsfähig? Was macht eine mo­ralische Äußerung zu einer wahren oder unwah­ren moralischen Äußerung? Nochmal anders ge­fragt: Wie genau soll der Wahrheitsanspruch, wie wir ihn mit moralischen Äußerungen übli­cherweise erheben, einlösbar sein? Auf welcher Basis, wodurch wird er einlösbar?21Vgl. Werner, Einführung, 199.

III. WAS MACHT MORALISCHE ÄUßERUNGEN ZU WAHREN MORALISCHEN ÄUßERUNGEN?

Was also macht eine moralische Äußerung zu ei­ner „wahren“ moralischen Äußerung? Folgen wir hier erstmal unserem gewöhnlichen Ge­brauch, dann legt sich nahe, dass die Wahrheit von moralischen Äußerungen darin besteht, dass sie übereinstimmt mit der Wirklichkeit; ge­nauer: dass sie mit bestimmten moralischen Wirklichkeiten, Sachverhalten oder Tatsachen übereinstimmt. Die Aussage „Diese Handlung ist schlecht!“ wäre dann wahr, wenn sie mit der Tat­sache übereinstimmt, dass die besagte Handlung tatsächlich schlecht ist. Kurz: Die Tatsächlichkeit der moralischen Qualität dieser Handlung macht die Aussage „Diese Handlung ist schlecht!“ wahr. Folgt man der Intuition des objektivistischen Kognitivismus, dann legt sich nahe, dass die Wahrheit dieser Äußerungen durch die Überein­stimmung mit subjekt- und bewusstseinsunab­hängigen, also objektiven moralischen Tatsäch­lichkeiten gewährleistet wird.22In der Debatte wird nochmals der Objektivismus von einem Realismus unterschieden. Je nachdem, wie der terminologische Gebrauch von „objektiv“ und „real“ festgelegt wird, lassen sich verschiedene Modelle einer objektivistischen oder realistischen Begründung der Ethik unterscheiden. Als einführender Überblick in die Möglichkeiten: vgl. Quante, Einführung, 74ff & 91ff.

Wahrheit durch bewusstseinsunab-hängige moralische Tatsachen

Wie genau hat man sich aber solche „bewusst­seinsunabhängigen objektiven moralischen Tat­sächlichkeiten“ vorzustellen? Hier sind im Gro­ben zwei unterschiedliche Auffassungen mög­lich: Entweder (a) diese Tatsachen existieren in der gleichen Robustheit, wie alle anderen objek­tiven, bewusstseinsunabhängigen Tatsachen, oder (b) sie existieren zwar objektiv und be­wusstseinsunabhängig, aber nicht in der glei­chen Weise wie andere Tatsachen. Das ist näher zu klären.

(a) Objektive ‚robuste‘ Existenz moralischer Tatsachen

Die erste Variante der Objektivität moralischer Tatsachen geht davon aus, dass solche Tatsachen in der gleichen Weise existieren wie alle anderen bewusstseinsunabhängigen Tatsachen. Wie ist das gemeint? Üblicherweise liegt hier die Vor­stellung zugrunde, dass man moralische Tatsa­chen oder Sachverhalte in der gleichen Weise verstehen, erkennen und begreifen kann, wie man auch natürliche Tatsachen oder Sachver­halte versteht – und deshalb moralische Tatsa­chen auch in der gleichen Art und Weise existie­ren, wie natürliche Tatsachen oder Sachver­halte.23Vgl. Niederbacher, Metaethik, 105. Dass z.B. eine Lüge eine moralisch schlechte Sache sei, wird dann in einer ver­gleichbar ‚robusten‘ Weise als Tatsache verstan­den, wie z.B. der Sachverhalt, dass sich die Erde um die Sonne dreht (‚harter Fakt‘). Anders for­muliert: In ontologischer Hinsicht gibt es natür­lich-empirische Tatsachen genau in der gleichen Weise wie moralische Tatsachen.24Vgl. Niederbacher, Metaethik, 105. Es gibt eine ausführliche Debatte zur Frage nach dem „Naturalismus“ in der Metaethik, die hier nicht weiter thematisiert werden kann. Dazu: vgl. Birnbacher, Analytische Einführung, 360ff. Legt sich diese Vorstellung von unserem ge­wöhnlichen Gebrauch der Rede von der Wahr­heit moralischer Äußerungen her nahe, so gibt es hier doch einige Probleme, die zu beachten sind: Erstens zeigt sich recht schnell, dass mora­lische Tatsachen keineswegs in der gleichen ro­busten Art und Weise existieren, wie dies bei na­türlichen, empirischen, naturwissenschaftli­chen Tatsachen der Fall ist. Denn im Unter­schied zu letzteren sind uns moralische Tatsa­chen schlicht nicht in räumlich-zeitlich messba­ren und mathematisch erfassbaren Verhältnis­sen gegeben. Darüber hinaus drängt sich zwei­tens auch das Problem der Erkennbarkeit dieser Tatsachen auf. Denn in den meisten Fällen scheint es doch äußerst schwierig, eine morali­sche Tatsache, trotz ihrer vermeintlich robusten Existenz, als „wahr“ zu erkennen, und Kriterien dafür zu finden, dass es sich hier um eine objek­tive Wahrheit handeln sollte.25Zu weiteren Problemen, Kritikpunkten und Differenzierungen: vgl. Quante, Einführung, 71ff & Niederbacher, Metaethik, 102.

(b) Objektive ‚leichte‘ Gegebenheit moralischer Tatsachen

Die zweite Variante der Vorstellung einer Objek­tivität moralischer Tatsachen trägt den eben for­mulierten Einwänden bereits ein Stück weit Rechnung. Hier wird davon ausgegangen, dass es nur wenig sinnvoll erscheint, moralische Tat­sachen als in der gleichen Weise „existierend“ zu verstehen wie natürliche Tatsachen. Vielmehr „existieren“ moralische Tatsachen zwar unab­hängig vom Bewusstsein, also objektiv, aber den­noch qualitativ in einer anderen Weise als natür­liche Tatsachen – weshalb dann auch anders von ihnen gesprochen werden muss. Mit anderen Worten: In ontologischer Hinsicht sind morali­sche Tatsachen nicht als „ontologisch-robust“ (existierend) zu verstehen, sondern als „ontolo­gisch-leicht“ (gegeben). Dieses Verständnis einer leichten ontologischen Gegebenheit moralischer Tatsachen hat jedoch wiederum rückwirkend Implikationen für die Frage danach, ob und wie moralische Äußerun­gen durch Übereinstimmung mit moralischen Tatsachen wahr gemacht werden. Denn: Wird nicht mehr von einer ontologisch robusten, ob­jektiven Gegebenheit moralischer Tatsachen ausgegangen, mit denen moralische Äußerun­gen nur mehr übereinstimmen müssen, um als „wahr“ qualifiziert werden zu können, dann ist es schwieriger zu erklären, wie man sich nun konkret diese Übereinstimmung von morali­schen Äußerungen und moralischen Tatsachen vorzustellen hat. Denn um die Übereinstim­mung oder Nicht-Übereinstimmung zweier Punkte zu klären, müssen beide Punkte klar - und ‚robust‘ – lokalisiert, identifiziert und festge­macht werden können. Hat man sich die morali­schen Tatsachen jedoch vielmehr als ontologisch leichte, objektive Gegebenheiten vorzustellen, so lassen sich diese nicht mehr so leicht „festma­chen“.

Gab es also einerseits gute Gründe, die Vorstel­lung von moralischen Tatsachen als ontologisch robust existierende, objektive Tatsachen abzule­gen und durch ein Verständnis zu ersetzen, das sie als ontologisch leicht gegeben auffasst, so trifft man damit andererseits auf das Problem, dass sich die bisherige Annahme, dass morali­sche Äußerungen durch Übereinstimmung mit solchen moralischen Tatsachen wahr gemacht werden, nicht mehr einfach so halten lässt. Denn kann eben der ‚Punkt‘ (= moralische Tatsache) nicht mehr klar festgemacht werden, mit dem moralische Äußerungen übereinstimmen müss­ten, um als „wahr“ qualifiziert werden zu kön­nen, dann verliert auch die Rede von der „Über­einstimmung“ als der wahrmachenden Bezie­hung zwischen Äußerung und Tatsache einiges an Plausibilität.

Wahrheit durch bewusstseinsabhän-gige moralische Tatsachen

Eine weitere Möglichkeit der Rede von „morali­schen Tatsachen“ besteht darin, sie als bewusst­seinsabhängig zu verstehen.26Vgl. dazu: Niederbacher, Metaethik, 100ff. Man würde mora­lische Tatsachen dann zwar als ‚gegeben‘ anneh­men, käme aber zu jenem Schluss, dass die Art und Weise, wie sie gegeben sind, keineswegs na­helegt, dass sie bewusstseinsunabhängig existie­ren. Wie soll man sich das konkret vorstellen?

(c) Verflechtung von Abhängigkeit und Unabhängigkeit

Dies lässt sich etwas erhellen, wenn man morali­sche Tatsachen nicht mehr in Analogie zu natür­lichen Tatsachen versucht zu verstehen, sondern in Analogie zu unserem „Sehvermögen“.27Vgl. zum Folgenden: Fischer, Grundkurs, 216ff & Fischer, Realismus, 63ff & McDowell, Werte, 255-281. Am Beispiel des Sehvermögens wird einerseits er­sichtlich, dass unsere Farbwahrnehmung nichts rein objektives – subjekt- und bewusstseinsunab­hängiges – ist, sondern, dass sie vielmehr in ei­ner grundlegenden Abhängigkeit zu unserem Vermögen steht. Es zeigt sich aber andererseits auch, dass diese Subjekt- und Bewusstseinsab­hängigkeit nicht dazu führt, anzunehmen, dass es sich hierbei um etwas ‚zutiefst Subjektives‘ handelt, sondern dass sie auf einem grundsätzli­chen „Sehvermögen“ basiert, das allen Men­schen aufgrund ihrer physischen Natur gemein­sam ist. Ähnlich verhält es sich dann auch mit den moralischen Tatsachen und ihrer Bewusst­seinsabhängigkeit: Die ‚moralisch objektiven Tatsachen‘ gründen in einem „kulturell gepräg­tes [moralisches] ‚Sehvermögen“, das uns so­wohl als Menschen wie auch „als Angehörige derselben Kultur oder auch derselben religiösen Tradition“ gemeinsam ist.28Vgl. Fischer, Grundkurs, 217.

Vier Fragen stellen sich nun hier: Führt diese Vorstellung nicht ersten dazu, dass moralische Tatsachen dann immer nur relativ zu unserer je­weiligen kulturellen Prägung gegeben sein sollten? Geht dabei aber zweitens nicht die Vorstellung von der Wahrheit/Wahrheitsfähigkeit morali­scher Äußerungen im Sinne von deren universa­ler Geltung verloren? Was bedeutet dieser Ge­danke von der Bewusstseinsabhängigkeit mora­lischer Tatsachen drittens für das Verständnis von Wahrheit als Übereinstimmung (von Tatsa­chen und Äußerungen)? Und was folgt aus dieser Vorstellung von der Bewusstseinsabhängigkeit viertens für unser Verständnis von ‚moralischen Tatsachen‘ selbst? Drohte die Rede von morali­schen Tatsachen schon zuvor unscharf zu werden, stellt sich nun umso mehr die Frage, wie dann überhaupt noch sinnvoll von ‚Tatsachen‘ gespro­chen werden kann. – Eine Auseinandersetzung mit diesen vier Fragen wird den weiteren Verlauf dieses Aufsatzes wesentlich strukturieren. Zuerst zur Letzten der vier Fragen. Die Rede von moralischen ‚Tatsachen‘ kann im Horizont des Gedankens ihrer Bewusstseinsabhängigkeit sinnvoll sein, so man sie vor dem Hintergrund der folgenden Unterscheidung – die an die skiz­zierte Analogie zum ‚Sehvermögen‘ anknüpft – versteht: Danach sind zu unterscheiden (i) eine Dimension der Bewusstseins- und Wahrneh­mungsabhängigkeit im Sinne der subjektiven Überzeugungen und Wahrnehmungen eines ein­zelnen Menschen; darüber hinaus (ii) die Dimen­sion der Bewusstseins- und Wahrnehmungsun­abhängigkeit gegenüber einem einzelnen Men­schen, die aber insofern auch eine Bewusstseins- und Wahrnehmungsabhängigkeit impliziert, als es sich hier um eine Art kulturell je unterschied­lich geformten Bewusstseins bzw. ‚Sehvermö­gens‘ handelt, das auf einer überindividuellen, kollektiven Ebene wirksam ist; und (iii) die Di­mension eines immer noch nicht bewusstseins- und wahrnehmungsunabhängigen menschlich-allgemeinen moralischen ‚Sehvermögens‘. Über das ist jedoch nicht mehr aussagbar ist, als die Tatsache, dass Menschen eben moralisch wer­tend durch die Welt gehen.

Im Rahmen dieser Unterscheidung bezieht sich die Rede von ‚moralischen Tatsachen‘ auf meist höchst allgemeine Grundsätze bzw. Minimalbe­stimmungen (Bsp.: „Gerechtigkeit ist ein erstre­benswertes Gut“; od.: „Gutes zu tun ist eine hand­lungsleitende Maxime“;), oder auf negativ-ethi­sche Grenzbestimmungen (Bsp.: „Vergewalti­gungen sind ausnahmslos zu verurteilen“; od.: „Ein Angriffskrieg auf eine friedliche Nation ist eine zu verurteilende Tat“;), die in jedem Fall über die Dimension (i) hinausreichen, die sich uns aber auch als solche nahelegen, die über die Dimension (ii) und damit auch über jede Art von kultureller Geformtheit unseres moralischen ‚Sehvermögens‘ hinausdrängen. Doch auch wenn man sie in der Dimension (iii) ansiedeln möchte, bedeutet dies immer noch keineswegs, dass es sich dabei um eine Art tatsächlich bewusstseins- und wahrnehmungsunabhängiger Tatsachen handelt. So könnte man die Rede von ‚morali­schen Tatsachen‘ dann vielmehr als einen Ver­such verstehen, die höchst allgemeinen Grunds­ätze bzw. Minimalbestimmungen und negativen Grenzbestimmungen in ihrem quasi transkulturel­len Charakter zur Sprache zu bringen – wenngleich man sich dabei auch dessen bewusst sein sollte, dass solche quasi transkulturellen moralischen Tatsachen dennoch keineswegs (im strengen Sinne) als bewusstseinsunabhängig verstanden werden müssen. Sie sind ein Ausdruck höchster überindividueller und transkultureller Ausformun­gen menschlich-moralischen Bewusstseins bzw. menschlich moralischer Wahrnehmung.

Wahrheit – in ‚Übereinstimmung‘ oder in ‚Einbettung‘?

Damit zur dritten der oben genannten Fragen: Was bedeutet dies für das Verständnis von Wahr­heit als Übereinstimmung (von moralischer Äuße­rung und moralischer Tatsache)? Folgt man der eben explizierten Vorstellung des Sinns der Rede von der Bewusstseinsabhängigkeit moralischer Tatsachen als höchste überindividuelle und transkulturelle Ausformungen moralischen Be­wusstseins bzw. moralischer Wahrnehmung, dann legt es sich nahe, dass jenes Verständnis von Wahrheit nicht weiterführt. Denn für die Klärung einer solchen Übereinstimmung zweier Tatsachen bräuchte es immer noch zwei klar umrissene Entitäten (einmal die moralische Äu­ßerung und einmal die moralische Tatsache) so­wie einen vergleichenden dritten Standpunkt, von dem aus das Übereinstimmen oder Nicht-Übereinstimmen der beiden Entitäten beurteilt werden kann. Wir hatten bereits gesehen, dass sich schon die Vorstellung von ontologisch ro­busten moralischen Tatsachen nicht wirklich halten lässt und die Vorstellung von ontologisch leichten moralischen Tatsachen zu dem Problem führt, dass man diese nicht mehr klar und fest umreißen kann.Dazu tritt nun auch noch das Problem, dass die Rede von ‚moralischen Tatsa­chen‘ überhaupt keine ‚für sich seienden Entitäten‘ meint, sondern vielmehr ein Ausdruck für be­stimmte überindividuelle und transkulturelle Ausformungen moralischer Wahrnehmung ist. Gibt es aber ‚die eine‘ Entität nicht mehr, mit der etwas anderes übereinstimmen soll, dann ver­liert auch die Rede von einer „Übereinstim­mung“ drastisch an Sinn. An dieser Stelle lässt sich ein weiterer gedankli­cher Schritt gehen, der bisher noch nicht Thema der Überlegungen war. Denn es scheint nicht nur mit Blick auf moralische Tatsachen, sondern auch bereits mit Blick auf moralische Äußerun­gen fragwürdig zu sein, von ‚klar und fest um­reißbaren Entitäten‘ zu sprechen, die sowohl von allen übrigen sprachlichen Vollzügen wie auch von allen übrigen moralischen Überzeugungen isoliert und dann auf ihre Übereinstimmung mit moralischen Tatsachen hin untersucht werden könnten. Denn auch im Falle der moralischen Äußerungen zeigt sich, dass sie in wesentlich stärkerem Maße ‚eingebettet‘ sind – in sprachli­che Vollzüge, in soziale Praktiken, in Überzeu­gungszusammenhänge und in Wahrnehmungs­muster. Ähnlich wie bei den moralischen Tatsa­chen bedarf es also auch hier (im Voraus) einer Art künstlichen Isolation und Fixierung, um dann nachträglich überhaupt von einer „Über­einstimmung“ zweier solcher (isolierten) Entitä­ten sprechen zu können. Damit erweist sich nun aber auch die bisher vorausgesetzte Intuition, die Wahrheit moralischer Äußerungen auf dem Weg der „Übereinstimmung“ oder der „Entspre­chung“ von moralischen Äußerungen (subjek­tive Seite) und moralischen Tatsachen (objektive Seite) zu finden, als nicht weiter zielführend. Wie aber könnte dann auf andere Weise von Wahrheit gesprochen werden, wenn jenem Ein­gebettet-Sein von Tatsachen und Äußerungen Rechnung getragen werden soll? Wie können solche Äußerungen als „wahr“ oder „unwahr“ gelten, wenn nicht durch Übereinstimmung?

IV. MORALISCHE WAHRNEH-MUNG UND MORALISCHE WAHRHEIT29Die weiteren Ausführungen orientieren sich am ethischen Ansatz des evangelischen Theologen Johannes Fischer – mit Rekursen auf den amerikanischen Theologen und Ethiker Stanley Hauerwas.

Um die Wahrheitsfähigkeit moralischer Äußerungen angesichts ihrer Einbettung etwas zu erhellen, legt es sich nahe, in aller Kürze nochmals allgemein zu fragen, wie sich unsere moralische Orientierung im Lebensvollzug überhaupt gestaltet30Vgl. dazu ausführlich: Fischer, Grundkurs, 47-53. – und wie moralische Äußerungen in die­sem Rahmen zu verorten sind.

Wahrnehmungsfundiertheit moralischer Orientierung

Zum Recht der nicht-kognitivistischen Konzeptionen

Mit Blick auf die gewöhnliche moralische Orientierung in unserer Lebenswelt kann man grundlegend zwei Ebenen unterscheiden, nämlich zum einen die „Anschauung konkreter Situationen und Handlungen, die wir sprachlich in der Form der Schilderung oder Erzählung artikulieren“ sowie zum anderen die „Überzeugungen, die sich auf generelle Urteile und Regeln beziehen“. Wir orientieren uns üblicherweise also sowohl durch die moralische Wahrnehmung konkreter Situationen wie auch durch rationale moralische Überzeugungen.31Vgl. ebd. 47. Eine Überbetonung der Ebene der rationalen moralischen Überzeugun­gen und der Reflexion auf die allgemeinen Re­geln und Pflichten würde verkennen, dass man sich jenseits des „Lebensnervs jeder Moral“ be­wegt, so man versucht, zur Begründung der mo­ralischen Orientierung einen Standpunkt einzu­nehmen, „der sich außerhalb unserer Verbind­lichkeiten und unseres Sorgens befindet“.32Vgl. Hauerwas, Selig sind die Friedfertigen, 62. Denn: „Die Frage scheint […] nicht so sehr zu sein, ob und inwiefern Gründe [oder allgemeine Überzeugungen und Regeln, L.S.] motivierend sein können“, sondern vielmehr, „welcher Vo­raussetzungen es bedarf, um überhaupt Gründe für Entscheidungen oder Handlungen haben zu können“. Und deshalb legt sich die Folgerung nahe: „Hier kommt […] offenbar Emotionen im Sinne affektiv gehaltvoller Wahrnehmungen zentrale Bedeutung zu.“33Fischer, Grundkurs, 57 (kursiv ergänzt). Das bedeutet nun natürlich keineswegs, dass die kognitive Dimension moralischer Überzeugun­gen, dass also rationale Handlungsgründe und die Reflexion auf allgemeine Regeln und Nor­men, irrelevant seien, so es um die Frage nach unserer moralischen Orientierung geht. Son­dern vielmehr bedeutet es, dass sowohl eine klassische Trennung der Kognition von den Emo­tionen wie auch die Vorordnung der Kognition vor die Emotionen schlicht nicht sinnvoll ist. Der neueren Emotionsforschung zufolge gibt es Gründe anzunehmen, dass „Emotionen selbst als Wahrnehmungen [gelten können], d. h. als kog­nitive Akte […], die einen gefühlten, affektiven Anteil haben, der von ihnen nicht abzutrennen ist“.34Ebd. 50.

Daher legt sich nahe, dass man also den Emotionen eine viel grundlegendere Rolle in un­serer moralischen Orientierung zusprechen müsste, da sie uns wesentlich bestimmen und motivieren. Eine Rede von ‚moralischen Wahr­nehmungen‘, die sich an solchen Einsichten ori­entiert, bezieht sich also auf eben diese Verflech­tung einer affektiven mit der kognitiven Ebene. Erst damit ist über die „notwendige Bedingung“ der kognitiven Dimension hinaus auch die „hin­reichende Bedingung“ für die moralische Orien­tierung erfasst. Ausgehend von dieser Konzeption der morali­schen Orientierung folgt für unser Verständnis von moralischen Äußerungen: Sie bestehen nie isoliert für sich,35Vgl. dazu auch die Überlegungen unter 2 (c). sondern stehen erstens immer schon in einem größeren Zusammenhang mit anderen (moralischen) Überzeugungen. Und dieser Ebene des Ganzen eines „Überzeugungs­zusammenhangs“ wird aber keineswegs eine Au­tonomie zugesprochen (i.S.v.: Vorrang von Kog­nition vor Emotion), sondern er ist zweitens selbst wiederum eingebettet in die moralischen Wahrnehmungen einzelner, konkreter Situatio­nen unserer erfahrenen und erlebten Lebens­wirklichkeit. Und so auch die moralischen Äuße­rungen.36Damit besteht jedoch die Möglichkeit, dass verschiedenste Überzeugungen – in deren Zusammenhang die moralischen Äußerungen eingebettet sind – durch die Wahrnehmung, quasi „bottom up“, verändert werden können.

Wahrnehmungsstruktur und „narrative Tiefenstruktur“

Ist diese moralische Wahrnehmung so grundle­gend für unsere moralische Orientierung und so­mit auch für die Frage nach der moralischen Wahrheit, dann folgen zwei Fragen: (a) Wie ge­nau hat man sich eine solche moralische Wahr­nehmung vorzustellen? (b) Wie genau hat man Zugriff auf diese Wahrnehmung, wie wird sie uns zugänglich, wie wird sie kommunizierbar?

Zu (a). Um die Struktur der moralischen Wahr­nehmung zu verdeutlichen, soll nochmals der Unterschied zur Struktur der moralischen Überzeugung angeführt werden. Für die Letztere gilt: „X ist überzeugt, dass Y der Fall ist“; demgegenüber gilt für die Erstere: „X nimmt Y (…) als Fwahr“ (= eine Person [X] nimmt die Handlung des Lügens [Y] als moralisch falsch [F] wahr). Das bedeutet, dass eine bestimmte moralische Qualität nie einfach neutral und objektiv „wahrgenommen“ wird. Wahrge-nommen wird nie ein neutralesEtwas (die Lüge [Y]), sondern vielmehr immer etwas als etwas (die Lüge als moralisch falsch [Y als F]). Damit ist die Wahrnehmung jeweils entscheidend beeinflusst durch ganz bestimmte, „moralisch relevante Grundmuster“, mit denen eine Situation wahrgenommen wird und die dann das entsprechende Handeln orientieren. Wie oben bereits skizziert37Vgl. den Abschnitt 2. (c) im vorliegenden Aufsatz. sind diese „Wahr­nehmungsmuster“ einerseits bewusstseins- und wahrnehmungsunabhängig, insofern sie nicht von einzelnen Menschen hervorgebracht wer­den; sie sind andererseits aber doch auch be­wusstseins- und wahrnehmungsabhängig, da sie über ein allgemein-menschliches moralisches ‚Sehvermögen‘ hinaus jeweils eine ganz be­stimmte kulturelle, soziale und/oder religiöse Formierung aufweisen und somit „Angehö­rige[n] derselben Kultur oder auch der selben re­ligiösen Tradition“ gemeinsam sind.38Vgl. Fischer, Grundkurs, 216ff. Konkret kann die Wirksamkeit solcher morali­schen Wahrnehmungsmuster dann folgender­maßen aussehen: Im Falle einer konkreten Situ­ation, in der man einer leidenden und verletzten Person begegnet, nimmt man nicht einfach neut­ral und den Status dieser Person wahr, sondern man nimmt diese Situation der Person z.B. als eine solche wahr, angesichts derer es als angemessen und gut erscheint, Hilfe zu leisten (so der Samariter im Gleichnis des unter die Räuber Gefallenen; Lk 10, 25-37).39Dieses Gleichnis ist nicht nur eine schöne Veranschaulichung von „moralischer Wahrnehmung“ allgemein, sondern gibt dem Leser zugleich auch eine eindrucksvolle Darstellung unterschiedlicher Wahrnehmungen einer ganz konkreten Situation: Es ist eine der Pointen dieses Gleichnisses, aufzuzeigen, dass der Pharisäer, der Levit und der Samariter nicht nur unterschiedlich auf die Situation reagierten, sondern dieselbe Situation bereits sehr verschieden wahrgenommen hatten.

Auf die Rückfrage, warum man der Person nun entsprechend Hilfe geleistet hat und warum man dies für moralisch gut erachtet, würde man aller Wahrscheinlichkeit nach die ei­gene Wahrnehmung der Situation schildern und dann ausgehend von dieser ev. noch auf eine all­gemeine Regel rekurrieren. Wie man aber eine solche konkrete Situation jeweils wahrnimmt (über das gegebene Beispiel hinaus), das hängt wiederum davon ab, auf welche Art und Weise diese moralischen Wahrnehmungsmuster durch kulturelle, religiöse und/oder soziale Narrative geformt sind. Damit kann direkt eine Antwort auf (b) gegeben werden. War eben die Rede davon, dass die mo­ralische Wahrnehmung dieser konkreten Situa­tion geschildert, erzählt werden kann und die Wahrnehmungsmuster selbst wiederum durch Erzählungen geformt werden, so legt sich bereits nahe: Das angemessen Mittel, um diese Muster zu thematisieren, ist also das der „Narration“.40Vgl. Fischer, Grundkurs, 47ff & Hauerwas, Selig sind die Friedfertigen, 61-82. Eine solche „narrative Tiefenstruktur“ lässt sich auf mindestens zwei Ebenen anzeigen:41Vgl. dazu und zum Folgenden: Fischer, Grundkurs, 61ff & Fischer, Realismus, 72f. Zum ersten gibt es die elementare Stufe des „alltägli­chen Erlebens“, das diese Wahrnehmungsmus­ter durch Praktiken sowie damit verbundene so­ziale Narrative formt. Zum zweiten gibt es dar­über hinaus eine höhere Stufe des „narrativ evo­zierten Erlebens“. Das meint im weitesten Sinne die „symbolische Erschließung der Lebenswirk­lichkeit“ durch kulturelle, religiöse und/oder sonstige gesellschaftliche Erzählungen (vgl. ge­genwärtig besonders die Film- und Werbeindust­rie).

Das konkrete Maß der Wahrheit – und der Anspruch auf universelle Geltung

Leitdifferenz 1: Basale Perspektive vs. reflexive Perspektive

Was bedeutet dieses ‚Eingebettet-Sein‘ morali­scher Äußerungen in grundlegendere morali­sche Wahrnehmungsmuster für die leitende Frage dieses Aufsatzes nach der Wahrheitsfähig­keit moralischer Äußerungen? Wie kommt nun Wahrheit in der moralischen Wahrnehmung ins Spiel?

Um diese Fragen in einem weiteren Schritt einer Beantwortung entgegenzuführen, erweist es sich als sinnvoll, nochmals eine grundlegende Unterscheidung einzuführen: nämlich die zwi­schen einer „basalen Perspektive“ und einer „re­flexiven Perspektive“ mit Blick auf den morali­schen Urteilsvollzug (wie er bei der moralischen Äußerung als einer Behauptung stattfindet). Der vorliegende Aufsatz und ethische Debatten grundsätzlich, bewegen sich in einer reflexiven Perspektive. Hier wird versucht, darüber nachzu­denken, wie moralische Orientierung im „realen Lebensvollzug“ verstanden werden kann, hier wiegt man Argumente ab, tauscht Überzeugun­gen aus und versucht zu Schlüssen über ein mo­ralisch richtiges Verhalten zu kommen. Das ist zu unterscheiden von der basalen Perspektive ei­nes moralischen Urteils, das wir in oder ange­sichts einer konkreten Situation fällen, die uns eine moralische Entscheidung abverlangt. Besonders vom Ort der Reflexion aus besteht die Gefahr, die Differenz zur basalen Perspektive des moralischen Urteilsvollzuges aus dem Blick zu verlieren, und so aus dem Nachdenken her­aus verschiedene Vorstellungen in den Urteils­vollzug ‚hineinzulegen‘.42Vgl. Fischer, Realismus, 62ff. Versucht man sich aber vor Augen zu führen, welche Dynamik der „basale Urteilsvollzug“ selbst hat, dann zeigen sich (u.a.) folgende Charakteristika: Jedes basale Urteilen ist auf je ganz konkrete Handlungen, Si­tuationen oder Qualitäten bezogen; allerdings nicht im Sinne eines ‚neutralen‘ Sachverhalts, sondern auf die moralische Wahrnehmung eines Sachverhaltes als Etwas (vgl. oben: X nimmt Y als F wahr). Dennoch wird mit diesem Urteilsvoll­zug zugleich der Wahrheitsanspruch erhoben, dass sowohl die Wahrnehmung der Situation als auch die damit einhergehende Bewertung des Wahrgenommenen der Situation angemessen ist. Im basalen Urteilsvollzug ist die urteilende Person also selbst, durch Wahrnehmung und Be­wertung, involviert und erhebt zugleich dennoch einen Anspruch auf Wahrheit.43Vgl. dazu ausführlicher: Ebd. 62-70.

Leitdifferenz 2: Wahrheit im Urteil vs. Geltung der Behauptung

Um diese Differenz zwischen reflexiver und ba­saler Perspektive mit Blick auf den moralischen Urteilsvollzug nochmal etwas zu verdeutlichen ist eine weitere Unterscheidung hilfreich: Wird ein Urteil in der reflexiven Perspektive gefällt, also mittels Argumentierens und Schlussfolgerns, dann handelt es sich mehr um eine „Behaup­tung“ als um ein Urteil im strengen Sinn. Wird ein Urteil demgegenüber in basaler Perspektive gefällt, mit Blick auf die Wahrnehmung und Handlungsentscheidung angesichts einer kon­kreten Situation, dann handelt es sich auch im strengen Sinn um ein „Urteil“, denn dann wird Wahrheit adressiert.44Vgl. zum Folgenden: Ebd. 211f.

Wie ist das zu verstehen? In anderen Worten: Ist die moralische Äußerung eine „Behauptung“ (reflexive Perspektive), dann tritt sie mit einem „diskursiven Anspruch“ auf, der als solcher immer schon ein „Anspruch ge­genüber jemanden“ ist. Das bedeutet zum einen, dass eine „Behauptung“ immer schon in der De­batte um die „Geltung“ von bestimmten morali­schen Äußerungen und Überzeugungen steht und zum anderen, dass eine „Behauptung“ im­mer schon in einen Streit um die „Rechtferti­gung“ bestimmter Äußerungen und Überzeu­gungen eintritt (z.B. die Debatte über die morali­sche Angemessenheit von Waffenlieferungen in Kriegsgebiete). Solch eine moralische Äußerung als Behauptung findet am ‚Ort der Reflexion‘ statt und steht damit immer schon in Bezug auf mora­lische Äußerungen und Überzeugungen einer anderen Person bzw. Personengruppe.45Vgl. ebd. 211f.

Von jenem „diskursiven Anspruch“ der Behaup­tung ist der „sachbezogene Anspruch“ einer mo­ralischen Äußerung als basales Urteil klar abzu­grenzen: Denn hierbei geht es nicht um Fragen der Geltung oder der Rechtfertigung bestimmter moralischer Überzeugungen, sondern vielmehr schlicht darum, „dass die Aussage wahr ist“. Das ist klärungsbedürftig; denn „Wahrheit“ muss hier zunächst von universeller Geltung unterschie­den werden: Wie schon ausgeführt, bezieht sich die Frage nach der universellen Geltung immer schon auf die Behauptung einer Überzeugung ge­genüber anderen Person, inklusive der Rechtferti­gung eben dieser Überzeugung in der Debatte mit diesen anderen Personen. Universelle Gel­tung hat eben eine „diskursive“ Funktion bzw. ei­nen „diskursiven“ Anspruch; sie beansprucht immer Geltung gegenüber jemandem. Ist die Gel­tungsfrage in moralischen Debatten und Diskur­sen auch zentral, so ist sie nichtsdestotrotz nicht mit „Wahrheit“ – und damit auch mit dem „sach­bezogenen Anspruch“ des basalen Urteilsvollzu­ges – zu verwechseln. Was aber meint „Wahr­heit“ dann? Anders gefragt: Worauf bezieht sich der sachbe­zogene Wahrheitsanspruch, wenn nicht auf die Geltung gegenüber anderen Personen im Dis­kurs? Moralische Tatsachen wurden als eine mögliche Antwort bereits (weiter oben) ausge­schlossen.46Vgl. dazu den Abschnitt 3., besonders 3. (c) dieses Aufsatzes. Worauf dann? Recht simpel: Der Be­zugspunkt ist die „urteilstranszendente […] Le­benswirklichkeit“. Allerdings ist der Bezugs­punkt immer nur in der Brechung durch die Wahrnehmung der urteilenden Person gegeben – wie bereits vielfach thematisiert. Diese „Wahr­nehmung“ von konkreten „Situationen und Handlungen“, wie sie am Ort der „urteilstrans­zendenten Lebenswirklichkeit“ widerfahren, wie die „Fähigkeit, diese [Situationen] in ihrer moralischen Bedeutsamkeit angemessen erfas­sen zu können“ und also auch angemessen auf diese konkreten Situationen reagieren zu kön­nen: eben diese Angemessenheit (gegenüber dem Konkreten) ist es, auf die sich das Urteil – im Unterschied zur Behauptung – bezieht und die selbst zum ‚Maß‘ der Wahrheit von moralischen Äußerungen wird.47Vgl. Fischer, Grundkurs, 121.

Die Unterscheidung von Behauptung und Urteil wirft also nochmal ein Licht auf die Unterschei­dung von reflexiver und basaler Perspektive: Im ‚reflexiv-behauptenden‘ Modus zeichnen sich mo­ralische Äußerungen durch eine Distanz, einen Abstand zu konkreten Situationen und Hand­lungskontexten sowie zur Wahrnehmung dersel­ben aus. Demgegenüber sind moralische Äuße­rungen im ‚basal-urteilenden‘ Modus konkret an Situationen, Handlungskontexte und deren Wahrnehmung gebunden. Sie haben die Ange­messenheit einer Handlung gegenüber einem je­weils konkreten Kontext in der urteilstranszen­denten Lebenswirklichkeit zum Bezugspunkt – und zielen damit auf Wahrheit. Das bedeutet dann allerdings, dass das ‚Maß‘ der Wahrheit, an dem sich die Wahrheit einer moralischen Äuße­rung entscheidet, immer schon den Äußerungen voraus bzw. jenseits der Äußerungen selbst liegt. Pointiert also: Die Wahrheit moralischer Äußerun­gen bleibt jenseits von den konkreten lebensweltli­chen Situationen, die der Bezugspunkt (basaler) mo­ralischer Urteilsvollzüge sind, immer ein Stück weit verborgen und unverfügbar.

V. UNVERFÜGBARE WAHRHEIT – UND: NARRATION, TUGEND UND CHARAKTER

Ausgehend hiervon kann nun auch die erste und letzte noch offene der oben behandelten Fragen adressiert werden:48Vgl. dazu Abschnitt 3. (c) dieses Aufsatzes. Ist moralische Wahrheit dann nicht kulturrelativ, weil wahrnehmungsrela­tiv? Die Antwort, die im Anschluss an den gesam­ten Gedankengang dieses Aufsatzes zu geben ist, lautet: Nein, moralische Wahrheit ist nicht ‚kultur­relativ‘. Denn ihre hinreichende Bedingung ist – diesseits (!) unserer je kulturell geformten mora­lischen Wahrnehmung – erst im ‚Maß‘ der je kon­kreten lebensweltlichen Situationen erfüllt. Da­mit sollte aber auch klar sein, dass diese Absage an einen ‚Kulturrelativismus‘ nicht zugleich auf die Annahme eines ‚objektiven Realismus‘ mit Blick auf moralische Wahrheit hinausläuft. Viel­mehr ist hier gemeint (vgl. dazu: 3.), dass das ‚Maß‘ moralischer Wahrheit nicht durch ein Jen­seits der moralischen Äußerungen, also durch eine objektive moralische Tatsache erfüllt ist, sondern nur diesseits, in der je konkreten le­bensweltlichen Situationen zu finden ist. Das be­deutet für das Verhältnis von moralischer Wahr­heit und moralischen Äußerungen konkret: Mo­ralische Äußerungen gehen an der hinreichen­den Bedingung moralischer Wahrheit vorbei, wenn sie in Abstraktion von der je konkreten lebens­weltlichen Situation formuliert werden – also ‚dis­kursiv-reflexiv‘ und ‚behauptend‘. Vielmehr soll­ten demgegenüber die Ausführungen zur ‚basal-urteilenden‘ moralischen Äußerungsweise (vgl. 4.) darauf hindeuten, dass die Frage nach der Wahrheit solcher Äußerungen in die lebensweltli­che Konkretheit der je entscheidenden Situation hin­einführt. Solche Äußerungen, im Sinne der (‚ba­salen‘) Urteilsvollzüge, zielen also auf die Ange­messenheit des Urteils gegenüber der Konkretheit ei­ner bestimmten lebensweltlichen Situation. Wäh­rend auch moralische Äußerungen mit einem ‚diskursiven‘ Anspruch auf universelle Geltung ihre eigene Dringlichkeit, Wichtigkeit und ihren eigenen Ort haben – besonders im politischen Raum bedarf es des diskursiven Aushandelns der Geltung diverser Normen –, ist es doch gerade für eine christliche, theologische Ethik zentral, die ‚basalen‘ Urteile genau und gerade in ihrer Bezo­genheit auf die je lebensweltliche Konkretheit als die moralische Äußerungsform zu verstehen, die auf die hinreichende Bedingung für die Wahrheit ihrer Urteile abzielt. Lässt sich somit die Wahrheit von moralischen Äußerungen nicht letztgültig absichern bzw. nicht argumentativ-rational festmachen, son­dern bleibt sie vielmehr immer ein Stück weit entzogen und also verborgen – sobald man sich jenseits der je konkreten Situationen bewegt –, dann kann man auf zwei Möglichkeiten zurück­greifen, die angesichts dieses letztlich unverfüg­baren ‚Maßes der Wahrheit‘ dennoch handlungs­leitend sind und die auch nochmals die Differenz zu einem ‚situationsethisch‘ argumentierenden An­satz ausmachen:  Zum einen geht es dabei um die Formierung unserer Wahrnehmung, die zum Ziel hat, dass wir Situationen moralisch angemessen wahrnehmen – zum anderen geht es um die For­mierung unserer Handlungsweisen und damit auch unseres Charakters, die zum Ziel hat, dass wir in konkreten Situationen angemessen reagieren.

Die Formierung unserer moralischen Wahrneh­mung geschieht dadurch, dass wir (als christliche Gemeinschaft) uns in eine bestimmte Erzählung, eine Narration bzw. Geschichte mit hineinneh­men lassen. Es ist die Geschichte, die uns die bib­lischen Texte des Alten und des Neuen Testam­tens erzählen, die uns besonders auch nochmals die Gleichnisse Jesu erzählen. In solch einer Ge­schichte eingebettet zu sein, sich z.B. als gerecht­fertigter Sünder zu verstehen, oder sich im Gleichnis vom barmherzigen Samariter zu veror­ten, hat zur Folge, dass solche Narrative die mo­ralische Wahrnehmung konkreter Situationen formen und uns so helfen, auf diese Situationen angemessen zu reagieren. Die Formierung unse­rer Handlungsweise geschieht durch das Thema­tisieren bestimmter Tugenden, die selbst wiede­rum den Charakter formen und dadurch befähi­gen, in konkreten lebensweltlichen Situationen angemessen zu reagieren. Die Angemessenheit der Reaktion gegenüber einer Situation lässt sich also jenseits der Situationen nur sinnvoll thema­tisieren, wenn man sich auf die Ausprägung be­stimmter Tugenden einlässt. – Summa summa­rum bedeutet das für die Wahrheitsfähigkeit mo­ralischer Äußerungen auch in christlichen Ge­meinden / Gemeinschaften, dass deren Wahr­heitelementar an die konkreten lebensweltlichen Situationen und Umstände unseres Handelns gebun­den ist und zusätzlich dazu auch einer kritischen Diskussion um verschiedenste moralische Über­zeugungen bedarf, auch dies immer eingebettet in die Narrative des Alten und Neuen Testaments und in den Kontext einer Formation des Charak­ters durch Tugenden.49Vgl. dazu als zwei mögliche, zu vertretende Entwürfe: Hauerwas, Selig sind die Friedfertigen, 83ff & Wright, Glaube – und dann? 35f.

Nun also: „Was ist Wahrheit?“ – Im Falle von Pi­latus war diese Frage eine Reaktion, die ihn aus der Handlungsverantwortung herausführte, in eine Indifferenz und abstrakte Distanz zu der kon­kreten Situation, in die er gestellt war – die Situa­tion zwischen dem Anspruch und der Person des Jesus von Nazareth einerseits sowie dem An­spruch und den Personen der Hohepriester und der Menge andererseits (skizziert zu Beginn, vgl. in 1.). Im Anschluss an die Gedanken des hier vorgelegten Aufsatzes kann man demgegenüber aber sagen: Die Frage „Was ist Wahrheit?“ mit Blick auf unsere moralischen Äußerungen sollte uns gerade nicht aus den konkreten Situationen, in die wir gestellt sind, herausnavigieren, sondern vielmehr in die konkreten lebensweltlichen Situati­onen, in die konkreten Umstände und in die konkre­ten Handlungskontexte, in denen wir uns immer schon vorfinden, hineinführen. Erst dort findet sich die hinreichende Bedingung und das Maß für die Wahrheit moralischen Äußerungen.

Lukas J. Sulzer

Lukas J. Sulzer

Endnoten

  • 1
    Die Gliederung orientiert sich im Folgenden an: Niederbacher, Metaethik, 5f/15ff/66ff.
  • 2
    Zur „Mannigfaltigkeit“ der Arten und Weisen des Gebrauchs unserer Sprache siehe: Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, 11. Aufl., Frankfurt am Main 2003.
  • 3
    Vgl. zur folgenden dreifachen Unterscheidung: Werner, Einführung, 203 & Birnbacher, Analytische Einführung, 336 & Quante, Einführung, 45ff.
  • 4
    Vgl. dazu auch: Quante, Einführung, 47. Ersteres kann als „expressiver“ Sprachgebrauch („Ausdrucksfunktion“), zweiteres als „evokativer“ („Appellfunktion“), und drittes als „deskriptiver“ Sprachgebrauch („Darstellungsfunktion“) verstanden werden.
  • 5
    Vgl. Fischer, Grundkurs, 36 (kursiv ergänzt).
  • 6
    Vgl. Niederbacher, Metaethik, 17.
  • 7
    Vgl. ebd. 16-21. Zentrale Vertreter dieses „Emotivismus“ sind die beiden Philosophen Alfred J. Ayer und Charles L. Stevenson. Zu kleineren Differenzen zwischen Ayer und Stevenson siehe: Quante, Einführung, 49ff.
  • 8
    Vgl. Niederbacher, Metaethik, 19.
  • 9
    Zur Kritik dieses Sprach- und Wahrheitsverständnisses siehe auch: Anzenbacher, Einführung, 271-278 und ausführlicher (hier in pflichtenethischer Perspektive): Pieper, Sprachanalytische Ethik, 69-114.
  • 10
    Vgl. dazu besonders die Abschnitte in Punkt 3.
  • 11
    Vgl. Niederbacher, Metaethik, 31 (kursiv ergänzt).
  • 12
    Vgl. Stahl, Metaethik, 61.
  • 13
    Vgl. Stahl, Metaethik, 61 & Niederbacher, Metaethik, 61f.
  • 14
    Zentraler Vertreter dieses „universellen Präskriptivismus“ ist der Philosoph Richard M. Hares mit seinem einflussreichen Werk The Language of Morals aus dem Jahr 1953.
  • 15
    Vgl. dazu Fischers Formulierung: „Nur behauptende Aussagen bzw. Urteile können wahr oder falsch sein, nicht hingegen Imperative, Empfehlungen oder Gefühlsäußerungen.“ (vgl. Fischer, Grundkurs, 36). Ähnlich auch Werner: „Alles in allem wird mit solchen [moralischen] Urteilen [in unserem Alltagsgebrauch] so verfahren, als ob sie einen Wahrheitswert hätten (…). Vertreter/innen des Nonkognitivismus stehen damit vor der Alternative, entweder einen Großteil der Verwendungsweisen moralischer Urteile (sowohl in moralischen Alltagsdiskussionen wie in normativ-ethischen Fachdiskursen) als sinnlos zu erklären, oder eine Interpretation dieser Urteile vorzuschlagen, die erklären kann, warum es rational ist, sie mehr oder weniger so zu verwenden, als ob sie wahrheitswert hätten, obwohl dies tatsächlich nicht der Fall ist.“ (vgl. Werner, Einführung, 205).
  • 16
    Vgl. Niederbacher, Metaethik, 34f.
  • 17
    Vgl. Quante, Einführung, 54ff.
  • 18
    Ebd. 56: „Es sind ausschließlich die Interessen von Subjekten, aufgrund derer die Welt ethische Eigenschaften oder Wertigkeiten bekommt.“
  • 19
    Vgl. Niederbacher, Metaethik, 39.
  • 20
    Vgl. ebd. 39ff. Selbstverständlich gilt es auch hier noch gründlicher zwischen verschiedenen Formen eines ‚objektivistischen‘ Kognitivismus zu unterscheiden. Dazu ausführlicher: vgl. Quante, Einführung, 74ff/91ff.
  • 21
    Vgl. Werner, Einführung, 199.
  • 22
    In der Debatte wird nochmals der Objektivismus von einem Realismus unterschieden. Je nachdem, wie der terminologische Gebrauch von „objektiv“ und „real“ festgelegt wird, lassen sich verschiedene Modelle einer objektivistischen oder realistischen Begründung der Ethik unterscheiden. Als einführender Überblick in die Möglichkeiten: vgl. Quante, Einführung, 74ff & 91ff.
  • 23
    Vgl. Niederbacher, Metaethik, 105.
  • 24
    Vgl. Niederbacher, Metaethik, 105. Es gibt eine ausführliche Debatte zur Frage nach dem „Naturalismus“ in der Metaethik, die hier nicht weiter thematisiert werden kann. Dazu: vgl. Birnbacher, Analytische Einführung, 360ff.
  • 25
    Zu weiteren Problemen, Kritikpunkten und Differenzierungen: vgl. Quante, Einführung, 71ff & Niederbacher, Metaethik, 102.
  • 26
    Vgl. dazu: Niederbacher, Metaethik, 100ff.
  • 27
    Vgl. zum Folgenden: Fischer, Grundkurs, 216ff & Fischer, Realismus, 63ff & McDowell, Werte, 255-281.
  • 28
    Vgl. Fischer, Grundkurs, 217.
  • 29
    Die weiteren Ausführungen orientieren sich am ethischen Ansatz des evangelischen Theologen Johannes Fischer – mit Rekursen auf den amerikanischen Theologen und Ethiker Stanley Hauerwas.
  • 30
    Vgl. dazu ausführlich: Fischer, Grundkurs, 47-53.
  • 31
    Vgl. ebd. 47.
  • 32
    Vgl. Hauerwas, Selig sind die Friedfertigen, 62.
  • 33
    Fischer, Grundkurs, 57 (kursiv ergänzt).
  • 34
    Ebd. 50.
  • 35
    Vgl. dazu auch die Überlegungen unter 2 (c).
  • 36
    Damit besteht jedoch die Möglichkeit, dass verschiedenste Überzeugungen – in deren Zusammenhang die moralischen Äußerungen eingebettet sind – durch die Wahrnehmung, quasi „bottom up“, verändert werden können.
  • 37
    Vgl. den Abschnitt 2. (c) im vorliegenden Aufsatz.
  • 38
    Vgl. Fischer, Grundkurs, 216ff.
  • 39
    Dieses Gleichnis ist nicht nur eine schöne Veranschaulichung von „moralischer Wahrnehmung“ allgemein, sondern gibt dem Leser zugleich auch eine eindrucksvolle Darstellung unterschiedlicher Wahrnehmungen einer ganz konkreten Situation: Es ist eine der Pointen dieses Gleichnisses, aufzuzeigen, dass der Pharisäer, der Levit und der Samariter nicht nur unterschiedlich auf die Situation reagierten, sondern dieselbe Situation bereits sehr verschieden wahrgenommen hatten.
  • 40
    Vgl. Fischer, Grundkurs, 47ff & Hauerwas, Selig sind die Friedfertigen, 61-82.
  • 41
    Vgl. dazu und zum Folgenden: Fischer, Grundkurs, 61ff & Fischer, Realismus, 72f.
  • 42
    Vgl. Fischer, Realismus, 62ff.
  • 43
    Vgl. dazu ausführlicher: Ebd. 62-70.
  • 44
    Vgl. zum Folgenden: Ebd. 211f.
  • 45
    Vgl. ebd. 211f.
  • 46
    Vgl. dazu den Abschnitt 3., besonders 3. (c) dieses Aufsatzes.
  • 47
    Vgl. Fischer, Grundkurs, 121.
  • 48
    Vgl. dazu Abschnitt 3. (c) dieses Aufsatzes.
  • 49
    Vgl. dazu als zwei mögliche, zu vertretende Entwürfe: Hauerwas, Selig sind die Friedfertigen, 83ff & Wright, Glaube – und dann? 35f.

Bibliografie

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