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RechtsethikAllgemein

„Auge um Auge, Zahn um Zahn“

Ein inhumanes Rechtssystem?

I. Einleitung

Richard Dawkins nennt den Gott des Alten Testaments einen „rachsüchtige[n], ungerechte[n]…[und]…blutrünstigen…Tyrann.“1Dawkins, Richard, Der Gotteswahn, 6. Aufl., Berlin: Ullstein, 2007, S. 45. 

Mit dieser Einschätzung steht er nicht allein. Sogar Theologen haben für den alttestamentlichen Gott nicht viel Gutes übrig: Dort zeige er sich als Gott der rigorosen und grausamen Rache, während das Neue Testament eher einen Gott der Liebe und Barmherzigkeit zeige. Dabei wird unter anderem auf die Lex Talionis verwiesen (lat.: „Gesetz der Vergeltung“): Das Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ stelle ein inhumanes Rechtssystem dar, das auf Rache und grausamer Verstümmelung basiere. „Gut, dass Jesus dieses rückständige Gesetz in der Bergpredigt außer Kraft gesetzt hat“, argumentieren nicht nur Theologen mit Hinweis auf Mt 5,38-42. 

Was ist von der oben geschilderten Verurteilung der alttestamentlichen Talionsformel zu halten? Wie kann man als Christ auf solche Angriffe reagieren? Und wird die populäre Meinung, Jesus hebe in der Bergpredigt ein ethisch rückständiges Rechtssystem auf, bei näherem Hinsehen tatsächlich bestätigt?

Positionen der Forschung

Die Talionsformel findet sich drei Mal im Alten Testament (2Mo 21,22-25; 3Mo 24,17-22; 5Mo 19,15-21). Es gibt im Grunde drei Interpretationen dieser Stellen:

Die erste Position lässt sich mit konsequent wörtlich beschreiben. Hier wird die gesamte Talionsformel buchstäblich verstanden, was demzufolge neben der Todesstrafe auch eine Verstümmelungsstrafe einschließt, sollte eine dementsprechende Tat begangen worden sein. Dieses buchstäbliche Verständnis hat zwei verschiedene Ausprägungen: Die einen plädieren dafür, dass die Strafe immer den jeweiligen Täter treffe. Andere gehen allerdings von einer „gespiegelten“ Vollstreckung der Lex Talionis aus, die im Falle von 2Mo 21,22-25 nicht den Täter selber träfe, sondern dessen Frau.

Die zweite Gruppe von Forschern versteht die Lex Talionis teilweise wörtlich. Nach dieser Auffassung wird in der Bedeutung zwischen 2Mo 21,23b und 21,24f unterschieden. Der Ausdruck „Leben um Leben“ sei bei einem Mord wörtlich zu verstehen, wobei die Verse 24-25, die sich auf Körperverletzung beziehen, übertragen gemeint seien, was praktisch gesehen in der Regel eine Ausgleichszahlung bedeutet habe. Diese Position steht in einer Traditionslinie der rabbinischen Auslegung.

Eine dritte Forscherposition geht von einer konsequent übertragenen Anwendung der Lex Talionis aus. Sowohl bei Körperverletzung als auch bei Mord sei von einer finanziellen Entschädigung auszugehen.

Ausgangsthese

In diesem Beitrag wird die These der teilweise wörtlichen Interpretation vertreten. Dass diese die beste Auslegungsvariante abbildet, soll in den folgenden Abschnitten gezeigt werden. 

II. Der Befund im AT

Der Kerntext

In der Bibel begegnet uns die Lex Talionis das erste Mal in 2Mo 21,22-25, ein Gesetzestext aus dem sog. Bundesbuch (20,22-23,33), welches wesentliche zivil- und strafrechtliche Bestimmungen sowie kultische Gesetze für das Volk Israel enthält. In 2Mo 21,22-25 heißt es: 

V22 Wenn Männer miteinander streiten und stoßen dabei eine schwangere Frau, sodass ihr die Frucht abgeht, ihr aber sonst kein Schaden widerfährt, so soll man ihn um Geld strafen, wie viel ihr Ehemann ihm auferlegt, und er soll's geben durch die Hand der Richter. V23 Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, V24 Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, V25 Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde.

In dieser Textstelle wird eine für heute eher untypische Situation geschildert: Zwei Männer kämpfen miteinander und treffen dabei eine schwangere Frau, die ihrem Mann wohl zu Hilfe kommen möchte. Dadurch wird bei der Frau eine Frühgeburt ausgelöst, die zu der damaligen Zeit immer eine Todgeburt bedeutete. Wenn es bei diesem „Schaden“ bleibt, soll der Schuldige dem Ehemann der Frau eine Geldbuße bezahlen, was unter der Bewachung von „Richtern“ passieren soll. In V23 wird anschließend die gesetzliche Regelung beschrieben, wenn es nicht bei dem Tod des Fötus bleibt, d.h., wenn zusätzlich der Mutter etwas passiert. In diesem Fall soll das Talionsprinzip angewandt werden („Auge um Auge…“). Was bedeutet dieses konkret? Ist es streng wörtlich anzuwenden? Diese Frage lässt sich nur mithilfe des weiteren Kontextes klären, da die Talionsformel nicht nur auf den Personenschaden in V22-25 bezogen ist, sondern auch als Prinzip für andere in 2Mo 21 dokumentierten  Rechtsfälle Gültigkeit besitzt.2Eine deutliche verbale Verbindung wird zu V26f hergestellt („Auge“, „Zahn“). Darüber hinaus gibt es einen größeren thematischen Bogen von zwischenmenschlichen Vergehen (V12-27), in dem es – die Verse 16 und 17 ausgenommen – um Körperverletzung mit oder ohne Todesfolge geht.

Der weitere Kontext 

V12-13: In diesen Versen geht es um Todesstrafe. Zunächst heißt es in V12 lakonisch: „Wer einen Menschen schlägt, sodass er stirbt, muss getötet werden.“ In V13 wird das Gesetz eingeschränkt: Sollte jemand unabsichtlich den Tod eines anderen Menschen verursachen, kann der Täter in einer Freistadt Asyl aufsuchen. Die Verse 12 und 13 legen also das Prinzip fest, dass bei vorsätzlichem Totschlag das Talionsprinzip „Leben um Leben“ in V23b wörtlich genommen werden soll. Weil die Verse im großen thematischen Rahmen der Körperverletzungsgesetze (V12-27) den Anfang bilden, ist es plausibel anzunehmen, dass das darin geäußerte Prinzip als Regel für die nächsten Verse gilt. Für 2Mo 21,22-25 bedeutet das, dass der Täter auf jeden Fall sterben muss, wenn er vorsätzlich den Tod der Frau herbeigeführt hat. Bei einem Versehen bleibt ihm dagegen die Flucht in eine Asylstadt, wo er geschützt ist.

V18-19: Diese Verse sind der erste Hinweis auf eine übertragene Bedeutung von V24f. Zwei Männer streiten miteinander. Der eine verletzt den anderen dabei. Wenn der Geschädigte nicht stirbt, wird der Täter lediglich dazu aufgefordert, für den Arbeitsausfall und die Heilungskosten aufzukommen. Hier ist keine Rede davon, dass dem Täter die gleichen Verletzungen zugefügt werden sollen wie beim Opfer. Die Talionsformel wird hier also nicht wörtlich verstanden.V20-21: Verse 20 und 21 sind wie V12-13 ein Hinweis auf eine wörtliche Talion im Falle eines vorsätzlichen Totschlags. Wenn ein Herr seinen Sklaven oder seine Sklavin vorsätzlich mit einem Gegenstand schlägt und dadurch seinen bzw. ihren Tod verursacht, dann „muss er gerächt werden.“ Die jüdische Tradition hat diese Formulierung hier immer als Todesstrafe verstanden. Einen weiteren Hinweis auf diese Interpretation finden wir im Samaritanischen Pentateuch,3Der Samar. Pentateuch ist eine besondere hebräische Fassung des Pentateuchs, die dem Volk der Samaritaner (Nach Untergang des Nordreichs [722/721 v.Chr] entstandenes Mischvolk aus Israeliten und östlichen Völkern; vgl. 2Kö 17,24) als Grundlage für Glaube und Kult diente.  wo es heißt, „er muss getötet werden“. Aus diesen zwei Gründen wird deutlich, dass das Prinzip „Leben für Leben“ höchstwahrscheinlich auch im Falle des vorsätzlichen Totschlags an Sklaven durch den Sklavenhalter gilt.

V21 scheint dem auf den ersten Blick zu widersprechen. Wenn man die herkömmlichen deutschen Übersetzungen liest,4Z.B. revElb: „Nur falls er einen Tag oder zwei Tage am Leben bleibt, soll er nicht gerächt werden, denn er ist sein Geld.“ könnte man denken, dass der Sklave einen minderen Wert hätte als beispielsweise der Sklavenhalter, weil der Tod des Sklaven nicht so stark geahndet würde. Man könnte den Vers so verstehen, dass es nicht gerichtlich geahndet wird, wenn die Züchtigung des Sklavenhalters erst nach einigen Tagen zum Tod führt. Dies ist hier jedoch nicht gemeint. Der Alttestamentler Houtman gibt den Vers treffend so wieder: „However, if (after the beating) he is back on his feet for a day or two (and then suddenly dies), then his death may not be avenged. After all, it is his own property” [Falls er jedoch (nach der Attacke) wieder auf die Beine kommt, für einen oder zwei Tage, (und dann plötzlich stirbt), soll sein Tod nicht gerächt werden. Er ist ja sein Eigentum].5Houtman, Exodus, S. 157. Gemäß dieser Interpretation trifft den Sklavenhalter dann keine Todesstrafe, wenn man den Tod des Sklaven oder der Sklavin nicht nachweisbar direkt mit seiner Attacke in Verbindung bringen kann. Liegt nur eine Körperverletzung vor, wird deswegen keine Geldstrafe verhängt, weil der Sklavenhalter durch den Arbeitsausfall seines Sklaven oder seiner Sklavin bereits genug finanziell gestraft ist. 

V26-27: Diese Verse sind wie 18 und 19 ein weiteres Beispiel dafür, dass die Lex Talionis bei Körperverletzung in 2Mo 21 nicht wörtlich angewendet wird. Wenn ein Sklavenhalter seinem männlichen oder weiblichen Sklaven ein „Auge“ oder einen „Zahn“ ausschlägt, wird nicht gefordert, dass bei ihm das Gleiche gemacht werden soll, sondern die Körperverletzung soll damit entschädigt werden, dass er seinen Sklaven bzw. seine Sklavin freilässt. 

Man kann also festhalten: der größere Textzusammenhang von 2Mo 21,22-25 stützt die Ausgangsthese einer teilweise wörtlichen Anwendung.  Die Lex Talionis hat im Falle einer Körperverletzung einen übertragenen Sinn, da diese mit einem entsprechenden Geldbetrag oder einer Freilassung entschädigt werden soll. Bei einem vorsätzlichen Todschlag gilt jedoch „Leben um Leben“, d.h., über den Mörder wird die Todesstrafe verhängt.  

Die Parallelstellen

Die Lex Talionis begegnet uns noch an zwei anderen Stellen im Alten Testament, in 3Mo 24,17-22 und 5Mo 19,15-21. Es gibt einige Ausleger, die zumindest 3Mo 24,17-22 für einen deutlichen Hinweis auf eine wörtliche Umsetzung des talionischen Vergeltungsprinzips halten. Dort wird die Formel „Leben um Leben“ eindeutig in den Zusammenhang mit Mord (V17.21b) und der Entschädigung von Vieh gebracht (V18,21a). Darüber hinaus begegnet uns die Formel „Schaden um Schaden, Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (V20a). Dieses Prinzip soll dann gelten, wenn man dem Nächsten einen „Schaden“ zugefügt hat (V20b). Dieses Nomen meint im AT in der Regel einen körperlichen Makel bei Mensch oder Tier (z.B. 3Mo 21,17; 4Mo 19,2). Da in 3Mo 24,20 von einem zugefügten Makel die Rede ist, bezieht sich V20a auf Körperverletzung. Die beiden Talionsformeln werden folgendermaßen erläutert und zusammengefasst: „Und wenn jemand seinem Nächsten einen Schaden zufügt, soll man ihm antun, was er getan hat“ (V19) bzw. „Der Schaden, den er einem Menschen zugefügt hat, soll ihm zugefügt werden“ (V20). Was heißt das nun konkret? Bei der Betrachtung von 3Mo 24,17-22 wird auf jeden Fall deutlich, dass die Talion bei Mord wörtlich anzuwenden ist (V17). Was die Stelle jedoch offen lässt, ist, ob dies auch bei menschlicher Körperverletzung zu geschehen habe. Die Stelle gibt für diesen Fall weder ein Beispiel von einer übertragenen noch wörtlichen Anwendung. 

In 5Mo 19,15-21 wird die Lex Talionis im Falle einer falschen Zeugenaussage angewendet. Wenn jemand den Tod oder eine andere Bestrafung für seinen Gegner erreichen will, und es mit einer falschen Zeugenaussage vor Gericht durchsetzen möchte (V16), soll ihn die Strafe treffen, die er seinem Gegner gewünscht hat (V19). Diese Strafe soll von Priestern und Richtern beschlossen werden (V17). Dieses erläuterte juristische Prinzip wird mit der Talionsformel „Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß“ (V21) wiedergegeben, eine Phrase, die 2Mo 21,23b-24 entspricht. Genau wie in 3Mo 24 lässt die Stelle offen, ob es bei den damaligen Adressaten aufgrund der dortigen Ausführungen tatsächlich zu einer wörtlichen Anwendung der Talion im Sinne von Verstümmelungsstrafe gekommen ist. Im unmittelbaren Kontext von 5Mo 19,15-21 findet sich nur die Todesstrafe (5Mo 19,11f). Das legt lediglich nahe, dass „Leben um Leben“ hier wörtlich gemeint ist, d.h., dass jemand, der als falscher Zeuge seinem Gegner den Tod wünscht, getötet werden soll. 

Auch die Parallelstellen zu 2Mo 21,22-25 widersprechen der Ausgangsthese nicht. Es lässt sich ein deutlicher Hinweis auf eine wörtliche Anwendung bei Mord finden, jedoch kein expliziter Hinweis auf eine buchstäbliche Ausführung bei Körperverletzung. Die Tendenz geht bei Körperverletzung jedoch stark in Richtung einer übertragenen Anwendung, wenn man annimmt, dass 3Mo und 5Mo von 2Mo geprägt sind, weil sie wahrscheinlich später verfasst wurden (das wird von den meisten Auslegern angenommen). In dem Fall würde der Text in 2Mo eine gute Erklärungsgrundlage für die anderen beiden Stellen bilden.  

Aufgrund der Parallelstellen wird nicht nur die Anfangsthese gestützt, sondern es werden noch zwei weitere wichtige Aspekte deutlich: Zunächst ist festzustellen, dass die Lex Talionis nicht nur im Kontext von konkreter Körperverletzung angewendet wird, sondern auch im Falle von materieller Entschädigung und falscher Zeugenaussage. Neben dem Prinzip, dass ein materieller und körperlicher Schaden entsprechend entschädigt werden soll, wird deswegen außerdem in einem mehr allgemeinen Sinn deutlich, dass die Schwere der Strafe in dem richtigen Verhältnis zur Tat stehen soll. Im Falle der falschen Zeugenaussage kann es keine Ausgleichszahlung geben, weil zu dem Zeitpunkt niemandem materiell geschadet wurde. Somit ist lediglich die Tat allein Maßstab für die Strafe. Der zweite erwähnenswerte Aspekt ist, dass die Formeln der Lex Talionis in 2Mo, 3Mo und 5Mo nicht immer identisch sind. Die Formel „Leben um Leben“ kommt in jeder Stelle vor, während es bei der Formel, die sich in 2Mo 21 und 3Mo 24 eindeutig auf Körperverletzung bezieht, Unterschiede gibt. Nur in 3Mo 24,20 wird das Wort „Schaden“ gebraucht. Keine Talionsformel ist so lang wie die in 2Mo 21,24-25. Dies spricht stark für einen sprichwörtlichen Charakter (zumindest der Passage bezüglich Körperverletzung) und dafür, dass dabei ein bestimmtes Prinzip im Vordergrund steht, nicht eine wörtliche Aufzählung von den in dem jeweiligen Kontext möglichen physischen Schaden.6Das wird außerdem dadurch gestützt, dass die jeweiligen Körperverletzungen in 2Mo 21,12-27 nicht alle mit der Talionformel in 2Mo 21,24-25 abgedeckt werden können. Es ist von keiner Brandverletzung die Rede.  Wenn 2Mo 21,24-25, 3Mo 24,20 und 5Mo 19,21b also sprichwörtlich gebraucht werden, ist zu beobachten, dass Sprichwörter in der Regel im allgemeinen Sprachgebrauch übertragen gemeint sind. Dies ist ein weiteres Argument für die Ausgangsthese einer teilweise wörtlichen Anwendung der Lex Talionis.

III. Vergleich mit dem Codex Hammurabi

Die Lex Talionis ist kein ausschließlich biblisches Rechtsprinzip. Sie findet sich auch in zeitgenössischen Texten anderer Kulturen des Alten Vorderen Orients. Kritiker des biblischen Gesetzes haben deswegen immer wieder behauptet, die biblischen Gebote seien lediglich Produkte der Umwelt und von daher nur modifizierte Kopien altorientalischer Verordnungen. Dabei wird allerdings übersehen: Bei all den Gemeinsamkeiten treten auch erhebliche Unterschiede zutage. Diese sollen exemplarisch anhand eines Vergleichs mit dem Codex Hammurabi (CH) herausgestellt werden, ein altbabylonischer Gesetzestext, der aus dem 18./17. Jh. v.Chr. stammt. 

Im Codex Hammurabi lesen wir eindeutig von einer wörtlichen Talion: „Wenn ein Bürger ein Auge eines (anderen) Bürgers zerstört, so soll man ihm ein Auge zerstören“ (CH §196). Aufgrund der bisherigen Untersuchung können wir sagen, dass das Alte Testament hingegen im Zusammenhang mit der Lex Talionis keinen expliziten Hinweis auf eine Verstümmelungsstrafe enthält. 

Im Codex Hammurabi begegnet uns außerdem eine gespiegelte Talion bei Totschlag, eine Praxis, die der Bibel fremd ist (vgl. 5Mo 24,16): „Wenn ein Bürger eine Tochter eines Bürgers schlägt…wenn diese Frau stirbt, so soll man ihm eine Tochter töten“ (CH §209f). 

Der dritte Unterschied zwischen dem Alten Testament und dem Codex Hammurabi ist, dass im letzteren nirgendwo eine Differenzierung zu finden ist zwischen vorsätzlichem und nichtvorsätzlichem Totschlag (vgl. 2Mo 21,12f). 

Im Codex Hammurabi wird juristisch auch nicht mit gleichem Maß gemessen. Das zeigt sich zum einen darin, dass Bürger einer höheren Klasse nicht die gleich hohe Strafe wie Bürger einer unteren Klasse erhalten: „Wenn ein Bürger die Wange eines Bürgers, der höher gestellt ist als er, schlägt, so bekommt er in der Versammlung sechzig Schläge mit dem Ochsenziemer. Wenn ein Bürger die Wange eines (anderen) Bürgers, der ihm gleich steht, schlägt, soll er eine Mine Silber zahlen“ (CH §202). Zum anderen zeigt sich ein juristischer Klassenunterschied bezüglich der Rechte. Ein Sklave hat im CH kein Recht. Er wird lediglich als Besitz des Sklavenhalters gesehen. Wenn er nach einer Attacke stirbt, bekommt der Herr des Sklaven einfach eine Entschädigungszahlung: „Wenn er [=ein Bürger] eine Sklavin eines Bürgers schlägt und…wenn diese Sklavin stirbt, so soll er ein Drittel Mine Silber zahlen“ (CH §213f). In 2Mo 21,20f wird hingegen deutlich, dass über den Sklavenhalter bei einem Mord an seinem Sklaven wohl dieselbe Strafe verhängt wird, wie bei einem Mordfall zwischen zwei Bürgern (vgl. 2Mo 21,12f). Außerdem wird in 2Mo 21,20f und 2Mo 21,26f erkennbar, dass Sklaven Rechte haben und nicht als bloßer Besitz angesehen werden. Dass für sie die gleichen Rechte gelten wie für einen normalen Bürger, wird in 2Mo 21,20f deutlich, da ein Mord an Sklaven (höchstwahrscheinlich) genauso gerächt werden soll wie der eines Bürgers.

Der fünfte Unterschied zwischen der Talionsformel im Alten Testament und im Codex Hammurabi besteht darin, dass in letzterem Leben nicht als gleichwertig angesehen wird. Eine Fehlgeburt einer Sklavin ist weniger wert als die eines Bürgers: „Wenn ein Bürger eine Tochter eines Bürgers schlägt und bei ihr eine Fehlgeburt verursacht, so soll er zehn Scheqel Silber für ihre Leibesfrucht zahlen…Wenn er eine Sklavin eines Bürgers schlägt und bei ihr eine Fehlgeburt verursacht, so soll er zwei Scheqel Silber zahlen“ (CH §209+213). Außerdem war das Leben der Frau eines Bürgers mehr wert als das Leben der Frau eines niedriger Gestellten: „Wenn ein Bürger eine Tochter eines Bürgers schlägt…und wenn diese Frau stirbt, so soll man ihm eine Tochter töten…Wenn er [eine] Tochter eines Palastangehörigen [schlägt]…und wenn diese Frau stirbt, so soll er eine halbe Mine Silber zahlen“ (CH §209-212). In 2Mo 21,22-25 ist ganz allgemein von „einer schwangeren Frau“ die Rede. Deswegen gilt die Geldstrafe in V22 für Verursachung einer Fehlgeburt jeder Frau.7Aufgrund der Sklavenrechte in 2Mo 21,20f und 21,26f ist es plausibel anzunehmen, dass die Gerichtsinstanz in 21,22 dafür gesorgt hat, dass die Strafzahlung nicht nach sozialer Klasse höher oder niedriger war. Bei dieser Geldstrafe wird kein expliziter Unterschied gemacht wie im oben zitierten Text aus dem Codex Hammurabi.8Eine Beobachtung ist in diesem Zusammenhang noch wichtig: Die Bibel scheint einen Unterschied zu machen zwischen einer Strafe bei einer verursachten Fehlgeburt und bei dem verursachten Tod einer Frau. Das weist auf einen gewissen graduellen Wertunterschied zwischen ungeborenem und geborenem Leben hin, was jedoch nicht in rabbinischer Weise dahingehend ausgelegt werden darf, dass nach alttestamentlichem Recht Abtreibung legal sei. Was auf jeden Fall deutlich wird, ist, dass ungeborenes Leben Wert hat und dessen Zerstörung eine Strafe nach sich zieht und somit gesetzeswidrig ist. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass es bei der verursachten Fehlgeburt in 2Mo 21,22 möglicherweise eine Strafmilderung gibt, weil der Täter vielleicht nicht wahrgenommen hat, dass die Frau schwanger war. In dem Fall hätte sich seine Attacke lediglich gegen die Frau gerichtet, wofür man womöglich eine Differenzierung in der Härte der Strafe annehmen dürfte (vgl. 2Mo 21,12f).

IV. Ergebnis

Die Lex Talionis im Alten Testament ist eine staatlich-juristische Einrichtung, die Strafe und Tat in ein angemessenes Verhältnis setzt. Im Codex Hammurabi haben wir gesehen, dass sozial höher gestellte Menschen nicht letztlich nach ihrer Tat belangt werden, sondern ihre Strafe auch von ihrem gesellschaftlichem Status abhängig gemacht wird, was zu einer zu niedrigen Strafe führen konnte. Gleichzeitig wurden sozial niedriger Gestellte dazu im Verhältnis zu stark bestraft.

Die Lex Talionis sieht die Unterscheidung zwischen vorsätzlichem und nichtvorsätzlichem Totschlag vor, ist bei vorsätzlichem Totschlag auf jeden Fall wörtlich und bei Körperverletzung im übertragenen Sinne zu verstehen. Bei ihrer Anwendung wird aufgrund des gesamtbiblischen Kontextes ausgeschlossen (5Mo 24,16), dass sie anstelle des Täters Stellvertreter unter Strafe stellt, wie es im Codex Hammurabi an einigen Stellen passiert.  

2Mo 21,12-27 macht außerdem deutlich, dass das menschliche Leben über alle gesellschaftlichen Klassen hinweg als gleichwertig angesehen wird. Es gibt keine Unterscheidung zwischen Mann und Frau, Sklave und Sklavenhalter bzw. Bürger sowie zwischen ungeborenem Leben von Frauen verschiedener sozialer Klassen. 

Eine soziale Gleichheit gibt es auch in den Rechten und im Strafmaß. Alle Menschen werden für die gleichen Taten gleich bestraft und jeder Mensch hat ein Recht auf gleiche Entschädigung bzw. darauf, dass im Falle seines Mordes der Täter ebenfalls zu Tode kommt. 

Eine starke Betonung in 2Mo 21,12-27 liegt somit auf dem besonderen Schutz der „Schwachen“ der Gesellschaft, weil die Rechte von Frau und Sklave und der Wert eines ungeborenen Lebens besonders herausgestellt werden. Dies ist im Alten Vorderen Orient absolut einzigartig. 

Aufgrund dieser Ergebnisse kann man zu dem Schluss kommen, dass die alttestamentliche Lex Talionis kein grausames Rechtssystem repräsentiert, wenn man alttestamentliches Recht mit heutigem westlichen Recht vergleicht. Im Gegenteil: Sie stimmt – abgesehen von der Todesstrafe, die nur für die USA gilt – grundsätzlich damit überein. Die Überzeugungen von juristisch verankerter Gleichheit der Rechte, des Strafmaßes, der sozialen Klassen und der Geschlechter sind auch heute feste Säulen des westlichen Rechtssystems, genauso wie eine Differenzierung zwischen Tatmotiven, eine Verantwortlichkeit allein des Täters, ein Absehen von Verstümmelungsstrafe und ein angemessenes Verhältnis zwischen Tat und Strafe. Das alttestamentliche Recht geht sogar über das heutige moderne Recht hinaus, weil es ungeborenes Leben konsequent unter Schutz stellt, was in heutiger Zeit durch ein stets lockerer werdendes „Abtreibungsrecht“ immer weniger der Fall ist. Außerdem ist deutlich geworden, dass die Lex Talionis kein Instrument eines grausamen Gottes ist, der damit einer unangemessenen emotional-bösen Racheaktion Ausdruck verleiht. Im Gegenteil: Sie ist ein juristisches Prinzip, das beabsichtigt, Taten gerecht und angemessen zu bestrafen. Es richtet sich gegen Willkür und unangemessen hohe oder lockere Strafen.  

V. Die Lex Talionis heute

Die Lex-Talionis-Passage in 2Mo 21,12-27 hat Grenzen in ihrer Anwendung für heute. Es handelt sich um einen Gesetzestext an die gerichtliche Instanz der Nation Israel unter dem Alten Bund. Im Neuen Testament geht es um die Gemeinde des Neuen Bundes, deren Ethik nicht unter dem Rahmen einer politischen Theokratie ausgeübt werden soll. Dort, im neuen Bund, wird Ethik gewissermaßen „privat“ verortet, weil Gott die politische Macht zwar souverän bestimmt, sie aber an weltliche Regenten übergeben hat (Röm 13,1ff). Dies bedeutet allerdings nicht, dass der Exodustext keinerlei Anwendungen für neutestamentliche Gläubige und für die Gegenwart enthält. Dieser Text gibt uns grundsätzliche Informationen über Gottes Sichtweise zum menschlichen Leben. Er gibt ungeborenem Leben Wert, er macht keinen ethnischen oder sozialen Klassenunterschied zwischen Menschen. Diese beiden Gedanken führen Gott dazu, den besonderen Rechtsschutz von „Schwachen“ und Benachteiligten hervorzuheben. Wir Christen tun gut daran, uns diese Perspektive anzueignen und sie in unserem Leben sichtbar werden zu lassen. Das kann sich z.B. darin äußern, dass wir uns in diakonischer und gesellschaftsbezogener Weise für benachteiligte Frauen und ethnische Gruppen sowie für das Lebensrecht von Ungeborenen einsetzen. In der Gemeinde kann sich das unter anderem darin zeigen, dass wir keine Menschen aufgrund ihres sozialen oder ethnischen Standes bevorzugen oder benachteiligen (vgl. Jak 2,1ff). 

Diese Prinzipien werden nicht etwa durch Jesus in Mt 5,38-42 aufgehoben. Jesus hebt in den „Antithesen“ (Mt 5,21-48) die Gültigkeit des Alten Testament keineswegs auf (Mt 5,17-20), sondern stellt seinen Jüngern im Licht seiner messianischen Lehre und Praxis eine neue Art der Anwendung des alttestamentlichen Gesetzes vor, die als Richtlinien in dem von ihm verkündeten Reich Gottes gelten (vgl. Mt 5,3.10.19f; 6,10.33; 7,21). Es geht in Mt 5,38-42 um die persönliche Ethik eines Christen, nicht um eine allgemeine juristische Ethik. Die Lebensführung eines Nachfolgers Jesu soll nicht bestimmt sein von dem Vergeltungsprinzip, sondern von dem aufopferungsvollen Verzicht auf persönliche Rechte um der Sache des Evangeliums willen. 

© 2011 Institut für Ethik & Werte

Bert Görzen

Bert Görzen

Pastor der FeG Mainz

Endnoten

  • 1
    Dawkins, Richard, Der Gotteswahn, 6. Aufl., Berlin: Ullstein, 2007, S. 45. 
  • 2
    Eine deutliche verbale Verbindung wird zu V26f hergestellt („Auge“, „Zahn“). Darüber hinaus gibt es einen größeren thematischen Bogen von zwischenmenschlichen Vergehen (V12-27), in dem es – die Verse 16 und 17 ausgenommen – um Körperverletzung mit oder ohne Todesfolge geht.
  • 3
    Der Samar. Pentateuch ist eine besondere hebräische Fassung des Pentateuchs, die dem Volk der Samaritaner (Nach Untergang des Nordreichs [722/721 v.Chr] entstandenes Mischvolk aus Israeliten und östlichen Völkern; vgl. 2Kö 17,24) als Grundlage für Glaube und Kult diente. 
  • 4
    Z.B. revElb: „Nur falls er einen Tag oder zwei Tage am Leben bleibt, soll er nicht gerächt werden, denn er ist sein Geld.“
  • 5
    Houtman, Exodus, S. 157.
  • 6
    Das wird außerdem dadurch gestützt, dass die jeweiligen Körperverletzungen in 2Mo 21,12-27 nicht alle mit der Talionformel in 2Mo 21,24-25 abgedeckt werden können. Es ist von keiner Brandverletzung die Rede. 
  • 7
    Aufgrund der Sklavenrechte in 2Mo 21,20f und 21,26f ist es plausibel anzunehmen, dass die Gerichtsinstanz in 21,22 dafür gesorgt hat, dass die Strafzahlung nicht nach sozialer Klasse höher oder niedriger war.
  • 8
    Eine Beobachtung ist in diesem Zusammenhang noch wichtig: Die Bibel scheint einen Unterschied zu machen zwischen einer Strafe bei einer verursachten Fehlgeburt und bei dem verursachten Tod einer Frau. Das weist auf einen gewissen graduellen Wertunterschied zwischen ungeborenem und geborenem Leben hin, was jedoch nicht in rabbinischer Weise dahingehend ausgelegt werden darf, dass nach alttestamentlichem Recht Abtreibung legal sei. Was auf jeden Fall deutlich wird, ist, dass ungeborenes Leben Wert hat und dessen Zerstörung eine Strafe nach sich zieht und somit gesetzeswidrig ist. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass es bei der verursachten Fehlgeburt in 2Mo 21,22 möglicherweise eine Strafmilderung gibt, weil der Täter vielleicht nicht wahrgenommen hat, dass die Frau schwanger war. In dem Fall hätte sich seine Attacke lediglich gegen die Frau gerichtet, wofür man womöglich eine Differenzierung in der Härte der Strafe annehmen dürfte (vgl. 2Mo 21,12f).

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