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RechtsethikAllgemein

Die Todesstrafe

Eine Bewertung aus biblisch-theologischer und ethischer Sicht

I. Einleitung

Während die Todesstrafe in Europa fast vollständig abgeschafft ist,1In Russland ist die Todesstrafe nicht offiziell abge­schafft, es besteht aber seit Mai 1996 ein Morato­rium. Weißrussland ist das einzige Land in Europa, das die Todesstrafe noch anwendet (letzte Hinrich­tung 2014). Vgl. Hood / Hoyle, Death Penalty, 503-508. kommt sie in anderen Teilen der Welt – Asien, Afrika und Nordamerika – noch regelmäßig zur Anwendung. Jährlich werden weltweit Tau­sende Menschen hingerichtet, die meisten unter totalitären Regimen.2Siehe ebd. 169-174. Für einige Länder kann die Anzahl der Hinrichtungen nur geschätzt werden, weil keine offiziellen Daten vorliegen. Das gilt ins­besondere für China, Iran und Nordkorea, wo sehr viele Todesurteile vollstreckt werden. Allein China ist für etwa 80 bis 90 Prozent aller Hinrichtun­gen verantwortlich (wahrscheinlich min­destens 3000 im Jahr 2014). In der westli­chen Welt kommt die Todesstrafe in den Vereinigten Staaten noch regelmäßig zum Einsatz (35 Hinrichtungen im Jahr 2014), während die meisten anderen Länder darauf verzichten. In den europäischen Ländern wird die Todesstrafe meist mit einem in­humanen Rechtssystem assoziiert und weit­gehend abgelehnt. 

Bis in die Moderne wurde die Todesstrafe dagegen als selbstverständlich vorausge­setzt. Die Aufklärung trug dann zu einer Infragestellung überlieferter Straftheorien bei. Der Impuls, überkommene Traditionen zu prüfen und gegebenenfalls aufzugeben, führte Befürworter wie Gegner dazu, die Todesstrafe in neuem Licht zu sehen. Ver­schiedene Begründungsansätze wurden kritisch durchdacht und ihre Abschre­ckungswirkung erstmals infrage gestellt. Doch die Gegner der Todesstrafe blieben eine kleine Minderheit, bis sich die Ab­schaffung im 20. Jahrhundert – ausgehend von einzelnen Präzedenzfällen – durch­setzte. Internationale Allianzen gegen die Todesstrafe und einige Menschenrechtsor­ganisationen thematisierten die Frage bald nicht mehr unter der Rubrik der Strafpoli­tik, sondern unter der der Menschenrechte. Während der Umschwung durch eine Reihe technischer Faktoren in modernen Staaten (z.B. die Errichtung ausbruchsicherer Ge­fängnisse) erheblich begünstigt wurde, wa­ren letztlich weltanschauliche Faktoren ausschlaggebend. Dazu gehörten sowohl humanistische Strafphilosophien als auch theologische und sozialethische Neube­wertungen der Frage in den christlichen Kirchen. 

Für eine christlich begründete Ethik stellt sich die Frage, wie man die Todesstrafe einordnen soll. Im Alten Testament ist sie immerhin vorausgesetzt und auch im Neuen Testament wird dem Staat das Recht zu strafen nicht abgesprochen. In welche Bot­schaft sind die biblischen Aussagen zur Todesstrafe eingebettet? Was sollte mit ihr damals erreicht werden und wie lassen sich diese Strafziele unter den Gegebenheiten des modernen Staates verwirklichen? Soll­ten Christen die Todesstrafe heute ablehnen oder nicht? Und welche Gründe lassen sich für die jeweilige Position angeben?

Im ersten Teil dieses Beitrages soll geklärt werden, in welchem Kontext die Bibel von der Todesstrafe spricht. Im Anschluss wird die gegenwärtige Situation in Deutschland, den Vereinigten Staaten, und China darge­stellt. Darin soll deutlich werden, welche Probleme in modernen Rechtsstaaten und noch mehr in Unrechtsstaaten mit der To­desstrafe verbunden sind. Im letzten Teil werden Sinn und Legitimität der Todes­strafe theologisch und ethisch bewertet.

II. Biblischer Befund

Die biblischen Aussagen zur Todesstrafe müssen in ihrem heilsgeschichtlichen Rah­men verstanden werden. Die wichtigsten Fundstellen zur Todesstrafe im Alten Tes­tament lassen sich zwei Perioden zuordnen: zum einen der Vorgeschichte Israels (Gen 1-11), in der Gott einen Bund mit Noah schließt und auf den er nach jüdischem Verständnis alle Menschen verpflichtet; sodann der Geschichte des theokratisch verfassten Reiches Israels, dessen Leben Gott in den Weisungen der Tora geordnet hat. 

Im Neuen Testament beginnt mit der Mis­sion Jesu ein neuer Kontext. Seine Lehre zeichnet sich durch die Aufforderungen zu Vergebung, Feindesliebe und Gewaltlosig­keit aus. Darüber hinaus ist die Darstellung der Obrigkeit und ihrem „Schwert“ in Röm 13,1-7 relevant. 

Im Blick auf die Todesstrafe ergeben sich dabei zwei Ausgangsfragen: Welche Aus­sageabsicht lässt sich aus den relevanten Bibelstellen zur Todesstrafe herauslesen? Lassen sich innerbiblische Entwicklungen erkennen und welche Bedeutung haben sie für ihre Auswertung im Kontext unserer heutigen Zeit?

2.1. Todesstafe im Alten Testament

Die Urgeschichte der Menschheit 

Die Urgeschichte beginnt mit Gottes schöp­ferischem Handeln, dem die Menschen in Gestalt von Adam und Eva nicht mit Dank­barkeit und Ehrerbietung, sondern mit Misstrauen und Auflehnung begegnen (Gen 3). Die Störung des Gottesverhältnisses zeigt sofort seine Auswirkungen auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Kain erschlägt seinen Bruder Abel und lädt so schwere Schuld auf sich. Gott verurteilt diesen Mord, aber er gewährt auch Gnade. Kain muss für seine Tat nicht sterben, son­dern erhält von Gott ein Zeichen, dass ihn niemand töten möge (Gen 4,15).

Gen 9,6 wird häufig als Einführung der Todesstrafe verstanden. Nach der Sintflut etabliert Gott Regeln über die Beziehungen der Kreaturen untereinander, um ein er­neutes Ausbrechen der Gewalt auf Erden zu verhindern. In diesem Zusammenhang sagt er: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll durch Menschen vergossen wer­den; denn nach dem Bilde Gottes hat er den Menschen gemacht.”3Bibelzitate folgen, sofern nicht anders angegeben, der revidierten Elberfelder Übersetzung (2008). Eine grundsätzliche Frage ist, ob dieser Vers eine Rechtspraxis – wie etwa die Institution der Todesstrafe – vorschreibt oder einen ethischen Grundsatz – den Wert des Menschen – beschreibt. 

Die hebräische Syntax lässt offen, ob die Verben futurisch („dessen Blut wird ver­gossen werden“) oder modal („dessen Blut soll vergossen werden“) aufzufassen sind. Die poetische Satzstruktur deutet eher auf eine Redewendung hin als eine Vorschrift. Der vorige Vers 5 sagt aus, dass Gott für Blutschuld Rechenschaft verlangen wird. Das legt nahe, auch Vers 6 als Aussage, nicht als Anweisung, zu interpretieren: Gott kündigt an, wie er künftig handeln wird.Die gängige Übersetzung „dessen Blut soll durch Menschen vergossen werden“ inter­pretiert „Mensch“ (Hebr. ʾādām) als den Ausführenden. Dahinter steht im Hebräi­schen der Präpositionalausdruck bā-ʾādām. Die Präposition markiert jedoch nur äu­ßerst selten das Handlungssubjekt eines passiven Verbs. Wahrscheinlicher ist, dass die Präposition hier den Wert kennzeich­net.4Vgl. Dtn 19,21; 2 Sam 3,27; 1 Kön 16,34. In der hebräischen Grammatik wird diese Verwendung als beth pretii bezeichnet; siehe dazu Jenni, Präposition Beth, 150-151; Ernst, Menschenblut, 252-253; Pehlke, Anmerkungen, 81-83; vgl. Steck, Mensch, 126-128. Nach Zehnder (Cause, 83-87) sprechen die syntaktischen Argumente dagegen überwiegend für ein beth causae; doch die Parallelen für beth causae mit Verb im Nifʿal sind nicht so zahlreich und ein­deutig, dass sie diese Interpretation für Gen 9,6 wahrscheinlich machen. „Mensch“ bezieht sich wie in der ers­ten Satzhälfte auf den getöteten Menschen: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut wird um des Menschen willen vergossen werden.“ 

Dieser Grundsatz ist im Rahmen der Urge­schichte und ihres spezifischen Beitrages zur alttestamentlichen Theologie zu begrei­fen. Sie begründet nicht die israelitische Rechtspraxis – das geschieht später im si­naitischen Bund – sondern legt religiöse Grundentscheidungen frei. Dementspre­chend betrifft Gen 9,6 nicht die staatliche Institution der Todesstrafe, sondern grund­sätzliche Werte, insbesondere die Würde des Menschen als Ebenbild Gottes. Der Vers schreibt also nicht vor, dass ein Staat die Todesstrafe anwenden muss.5Vgl. Pehlke, Anmerkungen, 84-86. Vielmehr ist in diesem Zusammenhang Gott derje­nige, der Schuldige zur Rechenschaft zieht (V. 5). Vers 6 ist von daher keine Anwei­sung an Menschen, Mörder hinzurichten, sondern eine Erklärung, dass Gott die Schuldigen am Ende bestrafen wird. Er ist insofern eine Feststellung über den Wert des Menschenlebens, der in Gottes Augen so hoch ist, dass niemand ungestraft einen anderen töten darf. 

Gottes Bundesgeschichte mit dem Volk Israel 

In den fünf Büchern Mose ist für einige Vergehen die Todesstrafe vorgesehen. Da­runter fallen vor allem Angriffe auf das Leben, aber auch sexuelle Tabubrüche und schwere religiöse Vergehen wie Blasphe­mie und Götzendienst. Diese Vergehen sollten damit als besonders schwerwiegend hervorgehoben werden. In einigen Fällen waren wahrscheinlich mildere Strafmaße (wie Ersatzzahlungen) oder auch Begnadi­gungen möglich. So verbietet Num 35,31 Lösegeldzahlungen im Fall von Mord, was andeutet, dass sie bei anderen Vergehen durchaus möglich waren. Spr 6,35 impli­ziert, dass im Fall von Ehebruch der ge­schädigte Ehemann anstelle der Todesstrafe auch ein Lösegeld akzeptieren konnte.

Mehrere juristische Innovationen tragen dazu bei, unmenschliche Härte zu vermei­den. Schuldige dürfen nur dann mit dem Tod bestraft werden, wenn mindestens zwei Augenzeugen vorhanden sind (Dtn 17,6). Das Gesetz unterscheidet zwischen Mord und fahrlässiger Tötung sowie zwischen dem Wert menschlichen Lebens und dem Wert von Eigentum. Eigentumsdelikte wer­den grundsätzlich nicht mit dem Tod be­straft. Das Alte Testament hebt sich darin von anderen Gesellschaften von der Antike bis in die Frühmoderne ab.6Vgl. Greenberg, Postulates, 289-295. In anderen Kulturen der Antike war die Todesstrafe für Eigen­tumsdelikte üblich. In Europa konnte Diebstahl noch bis ins 19. Jahrhundert mit dem Tod bestraft werden; vgl. Hood / Hoyle, Death Penalty, 51.

Wie häufig die Todesstrafe in der israeliti­schen Gesellschaft angewandt wurde, lässt sich kaum beurteilen. Die spätere rabbini­sche Tradition legte die Bedingungen für Todesurteile so eng aus, dass sie kaum er­füllbar waren und Hinrichtungen extrem selten wurden. Zu alttestamentlichen Zeiten kamen Todesurteile aber durchaus vor, wie aus einigen Erzählungen hervorgeht (z. B. 1 Kön 2,28-34; 21,11-13). Doch das Bild ist nicht einheitlich: David muss nach seinem Ehebruch und Mord nicht sterben (2 Sam 12,7-13). Er ist auch offenbar in der Lage, den einzigen verbleibenden Sohn einer Witwe zu begnadigen (2 Sam 14,5-11).7Die stärkste Formulierung findet sich in den môt jûmāt-Sätzen (Ex 22,12; Lev 20,9-16 u. ö.), die im Blick auf bestimmte Begehen festlegen „er wird gewiss getötet werden“ und so eine unausweichliche Verurteilung andeuten. Sie galten neben Verbrechen gegen das Leben vor allem für einige sexuelle und religiöse Vergehen. Dennoch bleibt unklar, inwie­fern sie in der Praxis als durch Menschen ausge­führtes Todesurteil umgesetzt werden sollten, u. a. weil viele dieser Tatbestände im Normallfall die Möglichkeit von Augenzeugen ausschließen. Vgl. Hieke, Todesstrafe, 349-374.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Alte Testament die Todesstrafe unter bestimmten, engen Voraussetzungen be­fürwortet. Dabei sind die Regelungen von Kapitalverbrechen im mosaischen Gesetz ausschlaggebend. Allerdings muss der the­ologische Kontext der alttestamentlichen Rechtsprechung berücksichtigt werden. Sie ist Teil des Bundes zwischen Gott und Is­rael, der neben Gottes Heiligkeit auch seine Gnade betont. Dies spiegelt sich in der Vergebung wieder, die er schuldigen Men­schen erweist (etwa im Fall von David). Schließlich betont Gott gegenüber dem Propheten Hesekiel: „Ich habe kein Gefal­len am Tod dessen, der sterben muss… So kehrt um, damit ihr lebt!“ (Hes 18,32).

Die Todesstrafe in Israel ist direkt mit den damaligen historischen und heilsgeschicht­lichen Gegebenheiten verbunden. Sie wurde vor allem für solche Vergehen verhängt, die in der israelitischen Theologie der Land­gabe als verunreinigend galten und damit die ganze Gesellschaft bedrohten (Lev 20,22-24; Num 35,31-34). Die Todesstrafe verhinderte die Verunreinigung des Landes und hatte insofern einen sakralen Aspekt. Dieses Prinzip hängt so eng mit Israels heilsgeschichtlicher Situation zusammen, dass es sich nicht direkt auf moderne Ge­sellschaften übertragen lässt. Um zu beur­teilen, was das für heute bedeutet, müssen auch neutestamentliche Aussagen berück­sichtigt und muss der biblische Befund in systematisch-theologische Überlegungen eingebunden werden.

2.2. Todesstrafe im Neuen Testament 

Im Neuen Testament besteht in mehrfacher Hinsicht eine andere Situation. Politisch ist die Glaubensgemeinschaft keine souveräne, theokratisch verfasste Größe mehr, sondern eine Minderheit inmitten eines heidnischen Großreiches. In theologischer Perspektive wird deutlich, dass Christen bis ans Ende der Geschichte auch Bürger irdischer Rei­che sind, dass in Jesus Christus aber Gottes kommendes Reich angebrochen ist, das im Leben der christlichen Gemeinde erfahrbar werden soll. Irdische Reiche gehören damit zum „Vorletzten“, denn die „letzte“, die vollendete Gestalt eines vollendeten Ge­meinschaftswesens ist die neue Stadt Got­tes, die vom Himmel herabkommen wird. So kennzeichnet das Neue Testament eine Betonung von Vergebung und Feindesliebe, während zugleich die (von Gott her be­grenzte) Autorität des Staates nicht bestrit­ten wird.

Feindesliebe und Gewaltlosigkeit

Jesus ruft seine Nachfolger auf, ihre Feinde zu lieben (Lk 6,27-29.35). Er predigt Ver­gebung (Mt 6,14f; 18,21-35); selbst am Kreuz bittet er noch um Vergebung für seine Henker (Lk 23,34). In der Bergpredigt hebt Jesus das alttestamentliche Talions­prinzip („Auge um Auge, Zahn um Zahn“) auf. An seine Stelle tritt nicht nur die Fein­desliebe, sondern sogar eine Haltung der Gewaltlosigkeit gegenüber dem Bösen (Mt 5,38-48). Das berührt insbesondere die To­desstrafe, weil sie auf dem Talionsprinzip basierte.8Siehe Lev 24,17-21; Deut 19,18-21; vgl. Görzen, Auge um Auge, 2-5. Wenn wir uns fragen, ob Christen die Hinrichtung von Menschen, die ihnen oder ihren Angehörigen geschadet haben, befürworten sollten, lautet Jesu Antwort offenbar „Nein“.

Allerdings ist die Bergpredigt in erster Li­nie an Jesu Jünger gerichtet, nicht an die staatliche Obrigkeit. Die Entscheidung, auf Gewalt zu verzichten, beinhaltet die Bereit­schaft, verletzlich zu sein und womöglich Opfer eines Angriffs zu werden.  Diese Entscheidung treffen Personen in der Nach­folge Jesu für sich selbst, nicht aber für andere. Die Bereitschaft, Opfer zu sein, ist keine allgemeine Bürgerpflicht. Aus diesem Grund erkennt christliche Ethik auch die Rolle staatlicher Autorität zum Schutz der Bevölkerung (vgl. Röm 13,1-7). Die Ethik der Bergpredigt sollte deshalb nicht mit Prinzipien staatlicher Justiz gleichgesetzt werden. Dennoch gibt die biblische Vision aber auch dem staatlichen Rechtshandeln zumindest ein Ideal vor: Eine Gesellschaft sollte anstreben, Gewalt zu minimieren und Versöhnung zu ermöglichen. 

Der Fall der Ehebrecherin

In Joh 7,53-8,11 wird Jesus aufgefordert, den Fall einer Frau, die beim Ehebruch er­tappt wurde, zu beurteilen. Der Abschnitt findet sich nicht in den ältesten und zuver­lässigsten Handschriften des Johannesevan­geliums, aber er wird in der Diskussion um die Todesstrafe meistens berücksichtigt, weil er das Thema unmittelbar anspricht.9Vgl. Carson, John, 333. Nach dem alttestamentlichen Gesetz wird Ehebruch mit dem Tod bestraft (Lev 20,10). 

Im Gesamtkontext des Johannesevangeli­ums erwarten die Leser zu Recht, dass Je­sus einen besseren Ausweg findet als die Todesstrafe. Sie kennen ihn als den, der die Schuld der Welt wegnimmt (Joh 1,29), der nicht gekommen ist um zu verdammen, sondern um zu retten (3,17). Sein Vorgehen im Fall der Ehebrecherin entspricht seinem Auftrag „zu suchen und zu retten“ (Lk 19,10). 

Jesus antwortet den Anklägern: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie.“ Das ist kein Plädoyer gegen die Todesstrafe. Aber Jesus macht deutlich, dass es ihm um Umkehr und Versöhnung geht. Nachdem die Ankläger davon abse­hen, die Frau zu verurteilen, sagt er zu ihr: „Auch ich verurteile dich nicht. Geh hin und sündige von jetzt an nicht mehr!“ (Joh 8,10) Dieser Satz ist programmatisch: Jesus steht für positive Veränderung. Solche Ver­änderung setzt voraus, dass die betroffene Person am Leben bleibt.

Man sollte in diesen Abschnitt nicht zu viel hineinlesen. Jesus schafft die Todesstrafe nicht ab; er kritisiert sie nicht einmal expli­zit. Aber seine gnadenvolle Haltung gegen­über Sündern, die in dieser Begegnung be­sonders hervorgehoben wird, ist für Chris­ten Anlass genug, über die Strafpraxis ihrer Gesellschaft nachzudenken.10Vgl. Burge, John, 246-248. Für diejeni­gen, die sich mit der Mission Jesu identifi­zieren, muss es näher liegen, für Gnade einzutreten als die Todesstrafe zu fordern. 

Die Obrigkeit als Dienerin Gottes

In Römer 13,1-7 ruft Paulus zum Gehorsam gegenüber der Obrigkeit auf. Er äußert sich damit zu dem bereits erwähnten Unter­schied zwischen Staat und Gemeinde. In der Gemeinde gilt, das Böse mit Gutem zu überwinden (Röm 12,21) und so dem Weg Jesu zu folgen. In der Gesellschaft ist der Staatsgewalt demgegenüber der Auftrag gegeben, Böses vom Guten zu unterschei­den und das Böse als Böses zu strafen. In diesem Sinne erklärt Paulus, dass die Ob­rigkeit von Gott eingesetzt ist, um gerecht zu richten und so die moralische Grundord­nung der Gesellschaft zu sichern. Er schreibt: „Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zum Guten. Wenn du aber das Böse tust, so fürchte dich! Denn sie trägt das Schwert nicht umsonst, denn sie ist Gottes Dienerin, eine Rächerin zur Strafe für den, der Böses tut“ (Röm 13,4).

Als Symbol der Strafgewalt des Staates beinhaltet das „Schwert“ vermutlich auch die Todesstrafe.11Dunn (Romans, 764) sieht im „Schwert“ einen Bezug auf die Todesstrafe. Dagegen zeigen Fried­rich, Pöhlmann und Stuhlmacher (Historische Situa­tion, 140-144), dass der konkrete Sprachgebrauch allgemeiner auf die „staatliche Polizei- und Strafge­walt“ hinweist. Aber auch das würde die Todesstrafe miteinbeziehen; vgl. Moo, Romans, 801-802. Man könnte den Ab­schnitt daher als theologische Legitimation der Todesstrafe interpretieren: Weil der Mensch als Gottes Ebenbild besonderen Schutz genießt, hat zunächst nur Gott das Recht, menschliches Leben zu nehmen. Doch die staatliche Obrigkeit handelt in der Bestrafung von Verbrechern als „Gottes Dienerin“ und erhält zu diesem Zweck eine einzigartige Legitimation, todeswürdige Vergehen mit dem Tod zu bestrafen. 

Allerdings repräsentiert das „Schwert“ nicht ausschließlich die Todesstrafe, son­dern beinhaltet sie allenfalls als eine mögli­che Form staatlicher Gewalt. Zudem speist sich die Legitimität der staatlichen Justiz auch aus der Anerkennung der ihr von Gott gesetzten Grenzen. Paulus unterstellt nicht, dass jedes staatliche Handeln legitim ist, weil die Obrigkeit „Dienerin Gottes“ ist.12Die frühen Christen waren sich sehr bewusst, dass die staatliche Obrigkeit auch ungerecht strafen kann, war doch schon die Kreuzigung Jesu unrechtmäßig gewesen (ähnlich die Hinrichtungen von Johannes und Jakobus, Mk 6,10; Apg 12,2). Vielmehr hat sich der Staat dadurch als Dienerin Gottes auszuweisen, dass sein Handeln dem ihm von Gott verliehenen Auftrag der moralischen Unterscheidung von Gut und Böse gerecht wird. 

Wir erhalten im Neuen Testament letztlich keine umfassende Theorie des Staatswesens oder der Strafjustiz, somit auch keine um­fassende Legitimation der Todesstrafe. Paulus argumentiert nicht, dass die Todes­strafe ein notwendiges Element der Straf­justiz sein muss, sondern ordnet die voraus­gesetzte Praxis seiner Zeit theologisch ein.

2.3. Ertrag

Die Vorschriften der Tora zur Todesstrafe waren ausnahmslos für Israel bestimmt. Das bedeutet nicht, dass sie für andere Ge­sellschaften bedeutungslos sind. Israels Gesetzgebung hatte schon damals Vorbild­charakter (Deut 4,6-8). Auch Jesus betont, es gehe ihm nicht darum, die Tora abzu­schaffen (Matt 5,17). Doch bei der konkre­ten Anwendung alttestamentlicher Vor­schriften gibt die Lehre Jesu die Richtung vor. Er distanziert sich konsequent von Gewalt und vermeidet es, sich in der Tora­auslegung auf Stellen zu berufen, die Ge­waltanwendung legitimieren könnten.13Siehe Stassen / Gushee, Kingdom Ethics, 197-199. Für Christen liegt die bleibende Bedeutung der Tora dementsprechend in den ethischen Prinzipien, die sie enthält, etwa die höhere Wertung von Leben gegenüber Eigentum, nicht in den konkreten Strafmaßen. Das Neue Testament enthält darüber hinaus keine Vorschriften zur Todesstrafe; es setzt sie lediglich als damals geltendes staatli­ches Recht voraus. Eine biblisch begrün­dete Ethik muss also nicht zu einer Befür­wortung der Todesstrafe führen.

Andererseits nötigt die biblische Theologie auch nicht zu einer grundsätzlichen Ableh­nung der Todesstrafe, sondern kann sie durchaus als legitimen Ausdruck staatlichen Rechtshandelns anerkennen. Die Akzente, die gerade im Neuen Testament auf Gnade, Vergebung, Wehrlosigkeit und Feindesliebe gesetzt werden, lassen sich allerdings durchaus als Gründe dafür angeben, der Todesstrafe kritisch gegenüber zu stehen. So haben dann auch in der frühen Kirche Bischöfe um Gnade für Verurteilte gebe­ten.14Vgl. O’Donovan, Todesstrafe, 639. Jedoch lässt sich die gebotene Fein­desliebe nicht als Gegensatz zur Gerechtig­keit interpretieren. Während Gewaltlosig­keit im Neuen Testament ein Aspekt der Christusnachfolge ist, hat der Staat den Auftrag, die moralische Ordnung der Ge­sellschaft zu schützen. Mit dieser Ver­pflichtung ist die Legitimität staatlicher Gewalt verbunden. Die neutestamentlichen Aussagen zum Thema bestreiten nicht, dass der Staat im Rahmen seines Auftrages die Todesstrafe anwenden darf. Es sind also weitere Kriterien nötig, um zu bewerten, ob sie in modernen Gesellschaften legitim und sinnvoll sein kann. 

Ein Aspekt dieser Frage ist auch die Tatsa­che, dass sich die Gesellschaft gegenüber der Antike grundlegend verändert hat: (a) In der Antike waren Freiheitsstrafen nur begrenzt möglich und üblich. Moderne Staaten haben dagegen die nötigen Kapazi­täten, um Verbrechen konsequent auf diese Weise zu ahnden. (b) Dazu kommen die Unwägbarkeiten einer komplexen, anony­men Gesellschaft. In der Antike war es eher möglich, den Kreis möglicher Täter durch Zeugenaussagen einzugrenzen. Die Bevöl­kerung war kleiner und enger vernetzt, Be­ziehungen hatten einen öffentlicheren Cha­rakter. Biblische Erzählungen deuten darauf hin, dass im Fall von Mord die Schuldigen oft bekannt waren.15Vgl. Exod 2,14; 2 Sam 3,28-29; 13,32; 1 Kön 16,16; 2 Kön 9,25-26; 12,21; 14,5; Jer 40,14. Heute ist die Beweis­führung deutlich komplexer. Trotz – oder gerade wegen – moderner forensischer Methoden besteht ein größeres Bewusstsein für das Risiko, Unschuldige zu verurteilen. Das führt zu einer gesunden Zurückhaltung davor, das schwerstmögliche Strafmaß zu verhängen. Schließlich hat die Todesstrafe gegenüber der Freiheitsstrafe den Nachteil, dass sie bezogen auf den Einzelfall irrever­sibel ist.16Zwar erleidet auch ein unschuldig zum Gefängnis Verurteilter irreversiblen Schaden, er kann aber im Fall einer Freisprechung zumindest ansatzweise entschädigt werden.  (c) Darüber hinaus hat die Erfah­rung gezeigt, wie schwierig es ist, die To­desstrafe in die komplexen Strafjustizsys­teme moderner Rechtsstaaten zu integrie­ren. Die Frage, wer für welche Verbrechen sterben muss, führt unausweichlich zu Willkür und Ungerechtigkeit, wie im Fol­genden noch näher ausgeführt werden soll.

III. Gegenwärtige Situation

Heute finden wir die Todesstrafe einerseits unter totalitären Regimen und andererseits in einer kleiner werdenden Anzahl von Rechtsstaaten. In Deutschland hing ihre Abschaffung direkt mit ihrem Missbrauch im Dritten Reich zusammen. Die Lage in den Vereinigten Staaten illustriert die Her­ausforderungen, die mit ihrer Anwendung in demokratischen Rechtsstaaten verbunden sind. Das Beispiel China zeigt dagegen, welche Funktion sie unter totalitären Herr­schaftssystemen einnimmt.

3.1. Die Abschaffung der Todesstrafe in Deutschland

Artikel 102 des Grundgesetzes für die Bun­desrepublik Deutschland lautet: „Die To­desstrafe ist abgeschafft.“ Das Zustande­kommen dieses Artikels, der heute als selbstverständlich gilt, hatte seine Wurzeln in den zurückliegenden Unrechtspraktiken der deutschen Geschichte. Nach dem zwei­ten Weltkrieg befürwortete die deutsche Öffentlichkeit die Todesstrafe noch mehr­heitlich, was angesichts der hohen Krimi­nalitätsrate jener Zeit und dem allgemeinen Gefühl der Wehrlosigkeit nicht über­rascht.17Hötzel, Debatten, 3-5. Dennoch beschloss der parlamenta­rische Rat, der die Verfassung für die Bundesrepublik ausarbeitete und verabschiedete, die Todesstrafe abzuschaf­fen. Die Debatten standen unter dem Vor­zeichen der Verbrechen des Nationalsozia­lismus. Die deutsche Vergangenheit hatte gezeigt, wie anfällig die Todesstrafe für Missbrauch war. In der Weimarer Republik war ihr Anwendungsbereich noch auf drei Straftatbestände beschränkt gewesen; unter der nationalsozialistischen Herrschaft wurde er so stark ausgeweitet, dass schließ­lich jedes zweite Gerichtsurteil ein Todes­urteil war. Die Vergangenheit hatte außer­dem deutlich gemacht, dass die Todesstrafe den Zusammenbruch einer Gesellschaft nicht verhindern kann. Vor allem aber hatte sie demonstriert, dass der Staat die Bevöl­kerung nicht nur vor privaten Verbrechen schützen, sondern sich auch in Selbstbe­grenzung gegenüber ungerechtfertigten Übergriffen üben muss.18Vgl. ebd. 17-25.

Klassische Argumente gegen die Todes­strafe – ihre Irreversibilität und mangelnde Abschreckungswirkung – wurden ebenso genannt.19Vgl. ebd. 18. Aber sie hätten wohl kaum die Mehrheit der Abgeordneten überzeugt, wenn die Ausarbeitung der neuen Verfas­sung nicht im Schatten der nationalsozialis­tischen Vergangenheit gestanden hätte. Be­fürworter der Todesstrafe warnten zwar vor einer überstürzten Entscheidung und spra­chen sich dafür aus, die Frage dem künfti­gen Gesetzgeber zu überlassen.20Vgl. ebd. 20-23. Doch ihre Bedenken wurden überstimmt. Die Ab­schaffung der Todesstrafe sollte ein klares Zeichen gegen ihren Missbrauch als In­strument des Terrors setzen.

Die Entwicklung in Deutschland entsprach dem europäischen Trend. Portugal, die Nie­derlande und San Marino hatten die Todes­strafe bereits im 19. Jahrhundert abge­schafft. Die skandinavischen Länder folgten in der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts.21Vgl. Hood / Hoyle, Death Penalty, 49-50, 504-506. Bis Ende des 20. Jahrhunderts strichen auch die verbleibenden europäischen Länder die Todesstrafe aus ihrem Strafrecht. Parallel dazu wandte sich die öffentliche Meinung mehrheitlich gegen sie. Diese Haltung wurde auf internationaler Ebene bekräftigt. Das 6. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (1983) verbietet die Todesstrafe im Normalfall, das 13. Zu­satzprotokoll (2002) auch im Kriegsfall. Die Abschaffung der Todesstrafe ist zudem Voraussetzung für den Beitritt in die Euro­päische Union, was auch über ihre Grenzen hinaus auf die Politik in Osteuropa und der Türkei Auswirkungen hat.22Vgl. ebd. 50-57.

3.2. Die Todesstrafe in den Vereinigten Staaten

Schon in den siebziger Jahren gingen viele Gegner der Todesstrafe davon aus, dass die Vereinigten Staaten bald dem europäischen Trend folgen würden. In den zehn Jahren von 1967 bis 1976 fanden dort keine Hin­richtungen statt, bedingt durch ein vom obersten Gericht verordnetes Moratorium. Nach dessen Aufhebung nahm die Zahl der Hinrichtungen in den folgenden zwei Jahr­zehnten allerdings deutlich zu und erreichte um die Jahrtausendwende ihren Höchst­stand. Seitdem geht sie wieder langsam zurück.23Vgl. ebd. 129-130. Wurden im Jahr 2000 noch 85 Menschen hingerichtet, waren es 2014 noch 35. Einige US-Bundesstaaten haben die Todesstrafe abgeschafft (zuletzt Nebraska im Mai 2015). Offiziell existiert sie noch in 31 Staaten, von denen 24 in den letzten zehn Jahren Todesurteile auch vollstreckt haben. Die meisten Hinrichtungen finden in Texas statt, gefolgt von Ohio, Oklahoma, Florida, Alabama, Georgia und Missouri, womit der geographische Schwerpunkt in den Südstaaten der USA liegt.24Laut Death Penalty Information Center, Searcha­ble Execution Database. 

Seit Ende der 90er Jahre ist die Gefahr, dass Unschuldige hingerichtet werden, ein Schwerpunkt der amerikanischen Diskus­sion. Im Staat Illinois waren seit Ende des Moratoriums (1977) dreizehn unrechtmä­ßige Todesurteile aufgehoben worden, wäh­rend im selben Zeitraum nur zwölf Todes­urteile vollstreckt wurden. Die hohe Anzahl an unrechtmäßigen Verurteilungen veran­lasste den damaligen Gouverneur George Ryan dazu, ein Moratorium zu erklären und eine Untersuchungskommission zu beru­fen.25Vgl. Hood / Hoyle, Death Penalty, 133 Diese bemängelte in ihrem Bericht systemische Verfahrensfehler und Willkür in der Anwendung der Todesstrafe.26Siehe State of Illinois, Report, 7-11. Auch in anderen Staaten wurden Rufe nach Re­form daraufhin lauter. 

Ein Problem, das schon lange kritisiert wird, ist die ungleichmäßige Anwendung der Todesstrafe. Für das gleiche Verbre­chen werden Schwarze eher zum Tod ver­urteilt als Weiße, Männer eher als Frauen und Mörder, deren Opfer weiß waren, eher als solche, deren Opfer schwarz waren. Dazu kommt geographische Ungleichheit. Selbst in Staaten, die die Todesstrafe re­gelmäßig praktizieren, gehen die entspre­chenden Todesurteile auf eine kleine Min­derheit der Countys zurück.27Vgl. Smith, Geography, 230-235. Countys sind vergleichbar mit deutschen Landkreisen. Auch inner­halb dieser Countys sind die Kriterien, die bei Mordfällen zwischen der Todesstrafe und der lebenslangen Haftstrafe entschei­den, meist unklar. Wenn schließlich jemand zum Tod verurteilt wird, ist damit noch nicht gesagt, dass dieses Urteil auch voll­streckt wird. Die Hinrichtung geschieht, wenn überhaupt, erst viele Jahre später. Das Element der Willkür existiert also auf allen Ebenen des Strafprozesses, selbst nach jahrzehntelangen Bemühungen um einheit­liche und faire Regelungen.28Vgl. Hood / Hoyle, Death Penalty, 136-139.

Das Problem liegt offenbar im System: Rechtsstaatliche Gerichtsprozesse erfordern ein hohes Maß an Gewissheit. Bei Kapital­verbrechen muss sichergestellt werden, dass nur diejenigen hingerichtet werden, die besonders schwerer Verbrechen schuldig und voll zurechnungsfähig sind. Das hat zwei mögliche Konsequenzen: Entweder wird jeder einzelne Fall so rigoros geprüft, dass es in der Praxis nur selten zu Todes­urteilen kommt und noch seltener zu Hin­richtungen. Oder aber die Gerichtsverfahren werden dahingehend abgekürzt, dass sich notwendigerweise Fehler einschleichen. Die Erfahrung zeigt, dass beide Varianten letztlich die Legitimation der Todesstrafe untergraben. Im ersten Fall reduziert sich die Zahl der Hinrichtungen im Vergleich zur Anzahl der Morde so stark, dass die Todesstrafe ihre Abschreckungswirkung verliert und die Auswahl derjenigen, die für ihr Verbrechen sterben müssen, willkürlich erscheint. Im zweiten Fall wird die Verur­teilung Unschuldiger in Kauf genommen.29Vgl. Supreme Court of the United States, Gegen­stimme Breyers im Fall Glossip v. Gross, 576 U. S. ____ (2015), 32. Auch die Vollstreckung der Todesurteile birgt erhebliche Probleme. Seit den achtzi­ger Jahren hat sich die Giftspritze als be­vorzugte Hinrichtungsmethode durchge­setzt. Doch die Methode erweist sich bei genauerer Betrachtung nicht als so human, wie sie auf den ersten Blick hin scheint. Weil Ärzte durch ihre Mithilfe gegen medi­zinische Ethik verstoßen würden, muss auf Personal mit geringer medizinischer Aus­bildung zurückgegriffen werden. Wenn die Verantwortlichen keine geeignete Vene finden oder auf andere Schwierigkeiten stoßen, sind sie schnell überfordert. Dazu kommt, dass die zur Tötung verwendeten Chemikalien nur noch schwer erhältlich sind. Die EU verbietet den Export zu Zwe­cken von Hinrichtungen und amerikanische Pharma-Konzerne weigern sich ebenfalls, die entsprechenden Mittel zu liefern. Jus­tizvollzugsanstalten vertrauen daher auf kleinere Firmen, deren Namen geheim ge­halten werden und die keiner unabhängigen Qualitätskontrolle unterliegen. Die verwen­deten Pharmazeutika entsprechen längst nicht mehr den drei Stoffen, die in der Zu­sammensetzung der Giftspritze ursprüng­lich vorgesehen waren. Stattdessen muss auf weniger potente Alternativen zurückge­griffen werden, was in den letzten Jahren mehrfach zu Komplikationen – teilweise mit erheblichen Qualen für den Hinzurich­tenden – geführt hat.30Der Giftcocktail bestand ursprünglich aus Thio­pental, einem Barbiturat, das zur Betäubung dient, Pancuroniumbromid, was die Muskeln lähmt und so zur Erstickung führt, und Kaliumchlorid, was das Herzt stoppt. Die drei Chemikalien werden nachei­nander injiziert. Thiopental ist inzwischen kaum noch erhältlich und wird daher in der Regel durch Midazolam oder Pentobarbital ersetzt; letzteres wird in ausreichend starker Dosierung teilweise auch allein verwendet. Betäubung und Muskellähmung machen es im Normalfall unmöglich, zu beurteilen, ob der Betroffene Schmerz empfindet. Vgl. Hood / Hoyle, Death Penalty, 185-193.

3.3. Die Todesstrafe in China

Die große Mehrheit der weltweiten Hin­richtungen findet in China statt. Die genaue Zahl ist ein Staatsgeheimnis, liegt aber allen Schätzungen zufolge jährlich bei mehreren Tausenden. Ein breites Spektrum an Tatbe­ständen kann zur Todesstrafe führen, von Mord über Drogenhandel bis hin zur Wirt­schaftskriminalität. Hinrichtungen werden häufig direkt im Anschluss an den Urteils­spruch vollstreckt, wodurch die Möglich­keit von Berufungsverfahren eliminiert und die Gelegenheit, für begangene Verbrechen Reue zu zeigen, reduziert wird.31Vgl. Hood / Hoyle, Death Penalty, 117-121.

In China sind die Gerichte keine unabhän­gige Gewalt, wie in den westlichen Demo­kratien, sondern direkt von der Kommunis­tischen Partei, indirekt auch von der öffent­lichen Meinung, abhängig. Die Todesstrafe dient der Partei als politisches Instrument, mit dem sie darauf abzielt, dem Gerechtig­keitssinn der Bevölkerung und ihrem Ver­langen nach Vergeltung derart zu entspre­chen, dass diese die Legitimität des beste­henden Herrschaftssystems nicht infrage stellt. Insbesondere bei Skandalen und schweren Verbrechen, die Unruhe auslösen könnten, tragen harte Urteile gegen Einzel­täter dazu bei, von systemischen Ursachen der Probleme abzulenken. Todesurteile ge­gen korrupte Beamte etwa schützen das System, das die Korruption hervorgebracht hat, vor eingehender Kritik. Darüber hinaus können Urteile gegen Oppositionelle un­mittelbar politisch motiviert sein, sodass die Todesstrafe zum Mittel der Repression wird32.Vgl. Miao, Capital Punishment, 239-244.

I.V. Theologisch-ethische Reflexion

Wie ist die Todesstrafe im Licht biblischer Aussagen und angesichts der Gegebenhei­ten moderner Gesellschaften zu bewerten? Um diese Frage zu klären, müssen wir uns den Zielen zuwenden, die der Strafjustiz zugrunde liegen. 

Zunächst geht es dabei um die Ziele der Justiz in Rechtsstaaten. Im Unterschied zu ihnen dient Strafe unter totalitären Regimen wie China immer auch dem Erhalt des dik­tatorischen Herrschaftssystems. Indem sich die staatliche Obrigkeit absolut setzt, miss­achtet sie ihre Bestimmung als „Dienerin Gottes“ (Röm 13,4), wodurch auch ihre Strafpraxis an Legitimität verliert. Um the­ologisch legitim zu sein, muss sich die Jus­tiz darauf ausrichten, das moralisch Gute zu bewahren und das Böse zu bestrafen. 

Einige Gegner der Todesstrafe argumentie­ren, dass Töten grundsätzlich falsch sei und auch der Staat kein Recht dazu habe. Eine solche Argumentation ist aber wenig über­zeugend. Der Staat hat die Verantwortung, die gesellschaftliche Ordnung zu wahren, und muss deshalb auf Angriffe auf die Ge­sellschaft verhältnismäßig reagieren. In extremen Situationen – etwa bei Terroran­schlägen, Geiselnahmen oder Bürgerkrieg – kann dazu auch tödliche Gewalt notwendig sein. Insofern kann man dem Staat das Recht zu töten nicht grundsätzlich abspre­chen, selbst wenn er auf die Möglichkeit der Todesstrafe verzichtet.33Vgl. O’Donovan, Todesstrafe, 643. Für eine christ­liche Beurteilung der Frage reicht es auch nicht, sich auf das fünfte Gebot zu berufen. Dieses richtet sich gegen Mord und Tot­schlag; die Todesstrafe bleibt davon unbe­rührt. Vielmehr muss der Sinn der Strafe bewertet werden.

Traditionell werden drei Funktionen von Strafe unterscheiden.34Vgl. O’Donovan, Ways, 102, der klarstellt, dass diese Funktionen nicht als drei unterschiedliche Theorien aufzufassen sind.

  1. Die retributive Funktion bezieht sich auf die Wiederherstellung der Gerechtigkeit durch Vergeltung oder Wiedergutmachung. Ein Vergehen verletzt die geltende Ordnung und resultiert dadurch in Schuld. Gerech­tigkeit fordert die Ahndung dieser Schuld. 
  2. Die protektive Funktion der Strafe be­wahrt die Gesellschaft vor Verbrechen, weil sie potentielle Täter von möglichen Verge­hen abschreckt. Gleichzeitig bestätigt und verstärkt sie das ethische Bewusstsein der Gesellschaft und trägt so zur sittlichen Ord­nung bei. 
  3. Die rehabilitative Funktion zielt auf die Wiederherstellung des Täters, auf seine Akzeptanz geltender Normen und auf seine Reintegration in die Gesellschaft.

Diese Funktionen der Strafe vertrat im We­sentlichen bereits Thomas von Aquin.35Vgl. Summa Theologia II/II, q66 a.6.  Er argumentierte dabei, dass die retributive Funktion vor allem in Gottes Verantwor­tungsbereich liegt. Sie kommt erst im letz­ten Gericht zur vollen Geltung. Der Staat müsse sich dagegen primär an den protekti­ven und rehabilitativen Funktionen orientie­ren.36Siehe Megivern, Death Penalty, 113. Thomas selbst begründete die Todes­strafe hauptsächlich mit der protektiven Funktion: Der Staat schütze die Gesell­schaft, indem er Menschen, die ihr Schaden zufügen, entfernt.37Siehe ebd. 115-118.

4.1. Schuld und Vergeltung

In der Moderne ist die Frage der Retribu­tion eine wichtige Weichenstellung im Blick auf die Todesstrafe geworden. Einer­seits neigt die theologische Diskussion dazu, die Bedeutung der retributiven Funk­tion von Strafen im Blick auf Christi Ver­söhnungstat am Kreuz einzuschränken. Durch den Kreuzestod sei bereits Sühne für Schuld geleistet worden, sodass die Gesell­schaft kein Recht mehr habe, Vergeltung zu üben.38Vgl. Track, Strafe, 212-213; O’Donovan, Ways, 102-103 Anm. 2. Doch damit wäre letztendlich jede Form von Strafe aufgehoben. Denn erst die retributive Komponente macht Strafe zur Strafe und setzt Grenzen dafür, was als ge­rechte Strafe gelten kann.39Vgl. O’Donovan, Ways, 103.  Ginge es nur darum, die Gesellschaft vor Schaden zu schützen und Menschen zu rehabilitieren, könnte man auch diejenigen „bestrafen“, die einen bloßen Hang zur Gewalttätigkeit oder zum Verlust der Selbstkontrolle haben, selbst wenn sie (noch) kein Verbrechen begangen haben. Das retributive Prinzip bestimmt nötige Grenzen, innerhalb derer die Strafe auf den Schutz der Gesellschaft und die Rehabilitation des Täters zielt. Es schreibt außerdem vor, dass das konkrete Strafmaß im Blick auf die Schwere der Schuld verhältnismäßig sein muss.

Andererseits kann das Retributionsprinzip durchaus zur Legitimation der Todesstrafe dienen, wenn es als absoluter Maßstab des Strafvollzugs interpretiert wird. Immanuel Kant vertrat die Meinung, die Strafe müsse dem Verbrechen direkt entsprechen. Ein Mörder müsse also sein Leben verlieren, und zwar selbst dann, wenn das Wohl der Gesellschaft auch durch eine mildere Strafe sichergestellt wäre; andernfalls würde die Gesellschaft Ungerechtigkeit tolerieren.40Vgl. Megivern, Death Penalty, 224-225. Dem ist aus christlicher Sicht entgegenzu­halten, dass es Gott ist, der für Gerechtig­keit sorgt (Röm 12,19). Der Staat partizi­piert zwar an Gottes Gerichtshandeln, inso­fern er von Gott zu diesem Zweck einge­setzt ist (Röm 13,1-4).41Vgl. Wilckens, Röm 12-16, 35. Aber menschliche Richter sind selbst Sünder, die Gottes ge­rechtem Gericht unterliegen. Es ist für sie weder möglich noch nötig, Gottes absolutes Maß an Gerechtigkeit umzusetzen. Er selbst wird dafür sorgen; wenn Menschen es täten, müssten alle verurteilt werden, nicht nur Mörder (vgl. Mt 5,21-22).

Ein weiterer Aspekt der Vergeltung ist ihr Wert für die Opfer und ihre Angehörigen. Menschen, die unter schweren Verbrechen gelitten haben, erwarten zu Recht ein Urteil gegen die Schuldigen. Befürworter der To­desstrafe betonen, dass sie Angehörigen von Ermordeten hilft, nach ihrem Verlust wieder Sicherheit und Gerechtigkeit zu empfinden. Insofern sei sie eine angemes­sene und gerechte Strafe. Doch lehrt die Erfahrung, dass Todesurteile den Zurück­gebliebenen nicht helfen. Im Gegenteil, der langwierige Prozess, der zur Hinrichtung führt, konfrontiert sie immer wieder mit dem Verbrechen, das ihr Leben zerstört hat. Und das Empfinden der Leere und der Ver­bitterung bleibt auch nach dem Tod des Schuldigen bestehen.42Vgl. Stassen / Gushee, Kingdom Ethics, 194-195; Richard, End anguish.

4.2. Schutz der Gesellschaft

Die Orientierung am Retributionsprinzip erfordert also nicht die Anwendung der Todesstrafe, zumal die rehabilitative Funk­tion der Strafe entgegensteht. Ein Mensch, der getötet wird, kann nicht mehr rehabili­tiert werden. In der Diskussion um die To­desstrafe spielt deshalb die protektive Funktion der Strafe eine wichtige Rolle.

Befürworter der Todesstrafe argumentieren, sie sei in besonderer Weise geeignet, die Gesellschaft vor Unrecht zu schützen. Ers­tens trage die Todesstrafe dazu bei, potenti­elle Täter abzuschrecken. Dabei geht es nicht nur darum, dass diese Strafe in abstracto eine starke Abschreckungswir­kung hat – was nicht zu leugnen ist – son­dern darum, dass sie im Vergleich zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe eine höhere Abschreckung habe. Die höhere Abschre­ckungswirkung der Todesstrafe sei sowohl intuitiv plausibel als auch empirisch beleg­bar. Wer damit rechnen kann, für Mord sein Leben zu verlieren, wäre wahrscheinlich weniger geneigt, dieses Verbrechen zu be­gehen. 

Einige empirische Studien, die Daten zu Todesurteilen und Morden vergleichen, kommen zu dem Ergebnis, dass jede Hin­richtung mehrere Morde verhindert.43Je nach Studie ist von fünf bis achtzehn Morden die Rede, die durch jede Hinrichtung verhindert werden. Siehe Sunstein / Vermeule, Capital Punish­ment, 711-712; Schirrmacher, Ethik 6, 221-223. Aus diesem Grund sei die Todesstrafe zu befür­worten. Die Alternative sei, eher Mörder schonen zu wollen, als das Leben unschul­diger Menschen zu schützen. Zweitens habe die Todesstrafe den Vorteil, dass sie Wie­derholungstaten unmöglich mache.44Vgl. Schirrmacher, Ethik, 285-287. Man­che Täter stellen auch im Gefängnis noch eine Gefahr dar – für andere Gefangene, für Gefängniswärter und gegebenenfalls auch für die übrige Bevölkerung, wenn sie ent­lassen werden. Drittens trage die Todes­strafe auch zur Ordnung der Gesellschaft bei, weil sie ein deutliches Zeichen gegen schwere Verbrechen setze und so das Ver­langen nach Gerechtigkeit befriedige. Sie verhindere dadurch, dass Geschädigte auf­grund ihrer Rachegefühle zur Selbstjustiz greifen.

Die Frage, ob die Todesstrafe stärker ab­schreckt als eine lebenslange Haftstrafe, wird kontrovers diskutiert, weil angesichts widersprüchlicher empirischer Studien un­klar bleibt, ob tatsächlich ein nennenswerter Abschreckungswert vorliegt. Schwankun­gen in der Kriminalitätsrate werden von zahlreichen Faktoren beeinflusst. Welche Veränderungen auf die Todesstrafe zurück­zuführen sind, ist nahezu unmöglich festzu­stellen. Es scheint zwar plausibel, dass po­tentielle Täter aufgrund der möglichen To­desstrafe von einem Kapitalverbrechen ab­sehen. Aber Verbrecher handeln oft nicht rational; außerdem gehen sie nicht davon aus, dass sie gefasst werden. Darüber hin­aus ist es ebenso möglich, dass Hinrichtun­gen die Mordrate erhöhen, weil sie den Wert des Lebens relativieren und zur Ver­rohung der Gesellschaft beitragen. Interes­sant ist in diesem Zusammenhang, dass die Mordrate in den US-Bundesstaaten mit To­desstrafe höher liegt als in denen ohne To­desstrafe.45Vgl. Stassen / Gushee, Kingdom Ethics, 196-197. Rein empirisch gesehen lässt sich kaum beurteilen, ob Korrelationen (po­sitive wie negative) zwischen Hinrichtun­gen und Kriminalitätsraten im Sinne von Kausalität zu interpretieren sind.46Siehe National Research Council, Deterrence, 90-91. Vgl. Donohue / Wolfers, Uses, 794: „Wir wis­sen, dass die Auswirkungen [der Todesstrafe auf die Mordrate] nicht groß sind, aber wir sind noch nicht einmal sicher, ob sie positiv oder negativ sind“ (englisches Original: „We are confident that the effects are not large, but we remain unsure even of whether they are positive or negative.“). Selbst einige Befürworter der Todesstrafe bemän­geln die empirischen Argumente dafür, dass die Todesstrafe Verbrechen verhindere.47Z. B. Kramer, Ethics, 30-38. Dazu kommt die ethische Frage, ob die Abschreckungswirkung, wenn sie gegeben wäre, die Todesstrafe legitimieren könnte. Denn der Zweck heiligt nicht die Mittel. Einen Menschen zu töten, um potentielle Täter abzuschrecken, stellt letztlich eine unzulässige Verzweckung eines Menschen dar.48Vgl. Kramer, Ethics, 39-44.

Die weiteren Argumente für die Todesstrafe spielen in der Diskussion nur eine unterge­ordnete Rolle. Wiederholungstaten lassen sich auch durch Gefängnisstrafen, wenn nötig mit anschließender Sicherheitsver­wahrung, vermeiden. Das Risiko, dass Häftlinge im Gefängnis gewalttätig werden, ist durch angemessene Strategien im Straf­vollzug eher zu reduzieren als durch An­drohung der Todesstrafe. Für die gesell­schaftliche Ordnung und den Verzicht der Bevölkerung auf Selbstjustiz ist entschei­dend, dass Verbrechen gründlich aufgeklärt und konsequent bestraft werden. Die To­desstrafe ist dazu nicht nötig, wie die Rechtspraxis in zahlreichen Ländern inzwi­schen gezeigt hat.

Die genannten Funktionen der Strafe – ret­ributiv, protektiv und rehabilitativ – spre­chen insgesamt also eher gegen die Todes­strafe. Das gilt zumindest für moderne Ge­sellschaften, in denen die Freiheitsstrafe als praktikable (und oft sogar finanziell günsti­gere) Alternative zur Verfügung steht. 

4.3. Gericht und Gnade

Oliver O’Donovan betont, dass Christi Tod am Kreuz das staatliche Richten prägen soll. Die Kreuzigung Jesu zeigt Gottes Ge­richt über Sünde, offenbart aber gleichzeitig Gottes Gnade. 

Diese Verbindung von Gnade und Gericht wird zum Vorbild für menschliche Justiz. Im Licht der Auferstehung erkennen wir, dass Gericht auch eine Gelegenheit zur Versöhnung ist.49Siehe O’Donovan, Desire, 256-257. Dass Gott den Menschen im Gericht Gnade angeboten hat, sollte für menschliche Autorität mindestens zwei Konsequenzen haben: Zum einen führt das Bewusstsein, dass alle schuldig sind und unter Gottes Gericht stehen, zur Demut im Richten. Zum andern bewegt die von Gott empfangene Gnade Menschen in staatlichen Positionen dazu, im Gericht selbst gnädig zu handeln.

Gewiss können Menschen Gericht und Gnade nie in der vollkommenen Weise ver­binden, wie Gott es am Kreuz getan hat. Trotzdem kann ein Gerichtsurteil Spuren der Gnade enthalten. Dazu muss es einer­seits die Wahrheit über das begangene Ver­brechen ausdrücken, andererseits Wege aufzeigen, die zum Leben im Einklang mit der Gesellschaft zurückführen – ob der Verurteilte davon Gebrauch macht oder nicht.

Darin liegt der theologische Nachteil der Todesstrafe. Sie ist ein endgültiges Urteil, das die Möglichkeit der Versöhnung ver­neint. Wenn ein Mörder zur Freiheitsstrafe verurteilt wird, erhält er eine Gelegenheit, die er selbst seinem Opfer verwehrte. Aus weltlicher Sicht mag das unfair erscheinen; aus Sicht des Evangeliums reflektiert es die Geduld, die Gott uns Menschen diesseits des letzten Gerichts erweist (Röm 2,4; 2 Pet 3,9).

V. Fazit

Die biblisch-theologischen und sozialethi­schen Überlegungen führen insgesamt zu der Schlussfolgerung, dass sich die Todes­strafe grundsätzlich dem legitimen Straf­handeln zurechnen lässt, das Gott in die Verfügungsgewalt des Staates gelegt hat, damit dieser dem Guten, also moralisch begründeten Rechtsnormen, zur Geltung verhelfen, und zugleich dem Bösen, also den die Gemeinschaft bedrohenden Angrif­fen vor allem auf das Leben von Menschen, wehren kann. Zugleich ist deutlich gewor­den, dass die Praxis der Todesstrafe sich daran messen lassen muss, inwieweit sie diesem Ziel dient. Wir fanden deutliche Hinweise darauf, dass dies in Staatsdiktatu­ren wie China schon grundsätzlich nicht der Fall ist, weil es hier keine unabhängige Justiz gibt, sondern ihr primärer Auftrag ist, die Herrschaft der Kommunistischen Partei zu sichern. Aber auch in einem Rechtsstaat wie den USA trägt die Praxis der Todes­strafe nicht zu größerer Rechtssicherheit, sondern zu weiterer Ungerechtigkeit bei, die nachweislich unschuldigen Menschen das Leben gekostet hat. 

Deutlich geworden ist auch: Christen wis­sen darum, dass das letzte und allein un­fehlbare Urteil über einen Menschen Gott zukommt und dass sie im Wissen darum dazu berufen sind, Feindesliebe und Verge­bungsbereitschaft als Zeichen des in Jesus Christus angebrochenen Gottesreiches zu leben. 

Was können diese Einsichten nun konkret für Christen heute bedeuten? 

1. Christen dürfen die Todesstrafe ab­lehnen, ohne die ethische Autorität der Bibel infrage zu stellen. Manche Christen empfinden es als intellektuelle Spannung, in einer Gesellschaft ohne Todesstrafe zu leben, obwohl die Bibel bestimmte Verbre­chen als todeswürdig benennt. Sie fühlen sich entweder verpflichtet, die Todesstrafe für diese Vergehen (oder zumindest für Mord) zu befürworten, was in der heutigen Gesellschaft schwer zu kommunizieren ist. Oder sie lehnen die Todesstrafe überzeugt ab und schreiben das alttestamentliche Ge­setz einem niedrigeren moralischen Niveau zu, das später korrigiert wurde. 

Beide Reaktionen sind unnötig. Es wäre anachronistisch, die Todesstrafe im Alten Testament an der Strafjustiz moderner Ge­sellschaften zu messen. Wir leben in einer anderen Zeit – heilsgeschichtlich, politisch und ökonomisch. Die Todesstrafe erfüllte im alten Israel, sofern sie nicht missbraucht wurde, eine legitime Funktion. Dennoch verpflichten uns die biblischen Aussagen nicht, ihre Strafmaße in der modernen Ge­sellschaft beizubehalten, und sowohl theo­logische als auch ethische Erwägungen sprechen dagegen.

2. Christen in Europa können dankbar sein, dass die Todesstrafe hier abge­schafft wurde. Die Umsetzung der Todes­strafe ist in modernen Rechtsstaaten mit erheblichen Problemen behaftet. Dazu hat die Erfahrung gezeigt, dass sie sich in der Praxis ungerecht auswirkt. Theologisch ist die Todesstrafe weniger kompatibel mit dem Evangelium. Sie setzt ein Zeichen ge­gen die Möglichkeit der Versöhnung; sie lässt sich im Vergleich zur Freiheitsstrafe schwerer mit den christlichen Idealen der Vergebung und Feindesliebe vereinbaren. Wir leben in einer Gesellschaft, die auf die Todesstrafe verzichten kann. Wir sollten dankbar sein, dass sie das – zumindest in Europa – auch tut.

3. Christen sollten sich für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe einsetzen. Die meisten Todesurteile werden in Staaten gefällt, die keine fairen Gerichtsprozesse gewährleisten und für grobe Menschen­rechtsverletzungen verantwortlich sind. Auf diesem Hintergrund ist die Abschaffung der Todesstrafe ein sinnvolles Ziel, wenn sie auch im Vergleich zu Themen wie Armut, Hungersnot und Sklaverei ein weniger dringendes Problem darstellt. Für Privatper­sonen ist ein erster, einfacher Schritt in die richtige Richtung, ein Bewusstsein über die Realität der Todesstrafe zu pflegen. Ebenso ist es sinnvoll, politische Bemühungen der europäischen Länder zur Abschaffung der Todesstrafe zu befürworten. Darüber hinaus können sich Christen auch über die Beteili­gung an Unterschriftenaktionen und durch das Engagement  in (christlichen) Men­schenrechtsorganisationen für dieses Ziel einsetzen.

© 2015 Institut für Ethik & Werte

Daniel Lanz

Endnoten

  • 1
    In Russland ist die Todesstrafe nicht offiziell abge­schafft, es besteht aber seit Mai 1996 ein Morato­rium. Weißrussland ist das einzige Land in Europa, das die Todesstrafe noch anwendet (letzte Hinrich­tung 2014). Vgl. Hood / Hoyle, Death Penalty, 503-508.
  • 2
    Siehe ebd. 169-174. Für einige Länder kann die Anzahl der Hinrichtungen nur geschätzt werden, weil keine offiziellen Daten vorliegen. Das gilt ins­besondere für China, Iran und Nordkorea, wo sehr viele Todesurteile vollstreckt werden.
  • 3
    Bibelzitate folgen, sofern nicht anders angegeben, der revidierten Elberfelder Übersetzung (2008).
  • 4
    Vgl. Dtn 19,21; 2 Sam 3,27; 1 Kön 16,34. In der hebräischen Grammatik wird diese Verwendung als beth pretii bezeichnet; siehe dazu Jenni, Präposition Beth, 150-151; Ernst, Menschenblut, 252-253; Pehlke, Anmerkungen, 81-83; vgl. Steck, Mensch, 126-128. Nach Zehnder (Cause, 83-87) sprechen die syntaktischen Argumente dagegen überwiegend für ein beth causae; doch die Parallelen für beth causae mit Verb im Nifʿal sind nicht so zahlreich und ein­deutig, dass sie diese Interpretation für Gen 9,6 wahrscheinlich machen.
  • 5
    Vgl. Pehlke, Anmerkungen, 84-86.
  • 6
    Vgl. Greenberg, Postulates, 289-295. In anderen Kulturen der Antike war die Todesstrafe für Eigen­tumsdelikte üblich. In Europa konnte Diebstahl noch bis ins 19. Jahrhundert mit dem Tod bestraft werden; vgl. Hood / Hoyle, Death Penalty, 51.
  • 7
    Die stärkste Formulierung findet sich in den môt jûmāt-Sätzen (Ex 22,12; Lev 20,9-16 u. ö.), die im Blick auf bestimmte Begehen festlegen „er wird gewiss getötet werden“ und so eine unausweichliche Verurteilung andeuten. Sie galten neben Verbrechen gegen das Leben vor allem für einige sexuelle und religiöse Vergehen. Dennoch bleibt unklar, inwie­fern sie in der Praxis als durch Menschen ausge­führtes Todesurteil umgesetzt werden sollten, u. a. weil viele dieser Tatbestände im Normallfall die Möglichkeit von Augenzeugen ausschließen. Vgl. Hieke, Todesstrafe, 349-374.
  • 8
    Siehe Lev 24,17-21; Deut 19,18-21; vgl. Görzen, Auge um Auge, 2-5.
  • 9
    Vgl. Carson, John, 333.
  • 10
    Vgl. Burge, John, 246-248.
  • 11
    Dunn (Romans, 764) sieht im „Schwert“ einen Bezug auf die Todesstrafe. Dagegen zeigen Fried­rich, Pöhlmann und Stuhlmacher (Historische Situa­tion, 140-144), dass der konkrete Sprachgebrauch allgemeiner auf die „staatliche Polizei- und Strafge­walt“ hinweist. Aber auch das würde die Todesstrafe miteinbeziehen; vgl. Moo, Romans, 801-802.
  • 12
    Die frühen Christen waren sich sehr bewusst, dass die staatliche Obrigkeit auch ungerecht strafen kann, war doch schon die Kreuzigung Jesu unrechtmäßig gewesen (ähnlich die Hinrichtungen von Johannes und Jakobus, Mk 6,10; Apg 12,2).
  • 13
    Siehe Stassen / Gushee, Kingdom Ethics, 197-199.
  • 14
    Vgl. O’Donovan, Todesstrafe, 639.
  • 15
    Vgl. Exod 2,14; 2 Sam 3,28-29; 13,32; 1 Kön 16,16; 2 Kön 9,25-26; 12,21; 14,5; Jer 40,14.
  • 16
    Zwar erleidet auch ein unschuldig zum Gefängnis Verurteilter irreversiblen Schaden, er kann aber im Fall einer Freisprechung zumindest ansatzweise entschädigt werden. 
  • 17
    Hötzel, Debatten, 3-5.
  • 18
    Vgl. ebd. 17-25.
  • 19
    Vgl. ebd. 18.
  • 20
    Vgl. ebd. 20-23.
  • 21
    Vgl. Hood / Hoyle, Death Penalty, 49-50, 504-506.
  • 22
    Vgl. ebd. 50-57.
  • 23
    Vgl. ebd. 129-130.
  • 24
    Laut Death Penalty Information Center, Searcha­ble Execution Database. 
  • 25
    Vgl. Hood / Hoyle, Death Penalty, 133
  • 26
    Siehe State of Illinois, Report, 7-11.
  • 27
    Vgl. Smith, Geography, 230-235. Countys sind vergleichbar mit deutschen Landkreisen.
  • 28
    Vgl. Hood / Hoyle, Death Penalty, 136-139.
  • 29
    Vgl. Supreme Court of the United States, Gegen­stimme Breyers im Fall Glossip v. Gross, 576 U. S. ____ (2015), 32.
  • 30
    Der Giftcocktail bestand ursprünglich aus Thio­pental, einem Barbiturat, das zur Betäubung dient, Pancuroniumbromid, was die Muskeln lähmt und so zur Erstickung führt, und Kaliumchlorid, was das Herzt stoppt. Die drei Chemikalien werden nachei­nander injiziert. Thiopental ist inzwischen kaum noch erhältlich und wird daher in der Regel durch Midazolam oder Pentobarbital ersetzt; letzteres wird in ausreichend starker Dosierung teilweise auch allein verwendet. Betäubung und Muskellähmung machen es im Normalfall unmöglich, zu beurteilen, ob der Betroffene Schmerz empfindet. Vgl. Hood / Hoyle, Death Penalty, 185-193.
  • 31
    Vgl. Hood / Hoyle, Death Penalty, 117-121.
  • 32
    .Vgl. Miao, Capital Punishment, 239-244.
  • 33
    Vgl. O’Donovan, Todesstrafe, 643.
  • 34
    Vgl. O’Donovan, Ways, 102, der klarstellt, dass diese Funktionen nicht als drei unterschiedliche Theorien aufzufassen sind.
  • 35
    Vgl. Summa Theologia II/II, q66 a.6. 
  • 36
    Siehe Megivern, Death Penalty, 113.
  • 37
    Siehe ebd. 115-118.
  • 38
    Vgl. Track, Strafe, 212-213; O’Donovan, Ways, 102-103 Anm. 2.
  • 39
    Vgl. O’Donovan, Ways, 103. 
  • 40
    Vgl. Megivern, Death Penalty, 224-225.
  • 41
    Vgl. Wilckens, Röm 12-16, 35.
  • 42
    Vgl. Stassen / Gushee, Kingdom Ethics, 194-195; Richard, End anguish.
  • 43
    Je nach Studie ist von fünf bis achtzehn Morden die Rede, die durch jede Hinrichtung verhindert werden. Siehe Sunstein / Vermeule, Capital Punish­ment, 711-712; Schirrmacher, Ethik 6, 221-223.
  • 44
    Vgl. Schirrmacher, Ethik, 285-287.
  • 45
    Vgl. Stassen / Gushee, Kingdom Ethics, 196-197.
  • 46
    Siehe National Research Council, Deterrence, 90-91. Vgl. Donohue / Wolfers, Uses, 794: „Wir wis­sen, dass die Auswirkungen [der Todesstrafe auf die Mordrate] nicht groß sind, aber wir sind noch nicht einmal sicher, ob sie positiv oder negativ sind“ (englisches Original: „We are confident that the effects are not large, but we remain unsure even of whether they are positive or negative.“).
  • 47
    Z. B. Kramer, Ethics, 30-38.
  • 48
    Vgl. Kramer, Ethics, 39-44.
  • 49
    Siehe O’Donovan, Desire, 256-257.

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