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WirtschaftsethikGerechtes Wirtschaften

Ist „Fair Trade“ wirklich fair?

Eine wirtschaftsethische Untersuchung des Fair-Trade-Konzepts

1. Einleitung

Für viele Zeitgenossen sind heute Themen der Umwelt und Gesundheit sowie soziale Fragen nach Menschenrechten und Arbeitsbedingungen in der Dritten Welt von großer Bedeutung. Durch Medien gestützt wächst die öffentliche Wahrnehmung über die Ungleichheit zwischen den Lebensbedingungen der westlichen Welt und den Entwicklungsländern. In diese Entwicklung gliedert sich auch das „Fair Trade“ (FT) Konzept ein, welches sich zunehmender Beliebtheit erfreut. FT verspricht durch Sicherstellung ethischer Rahmenbedingungen in der Produkterzeugung sowie -vermarktung mehr Gerechtigkeit im Welthandel und will dadurch die Armut bekämpfen. Das leuchtet vielen Konsumenten ein. Sie sind bereit, für FT-Produkte mehr zu bezahlen, in der Hoffnung, damit die sozialen Verhältnisse in den Produktionsländern zu verbessern. Das FT-Konzept enthält dabei eine Kritik des scheinbar „unfairen“ konventionellen Freihandels und greift die Fragestellung einer ethisch gerechten Gesellschaftsordnung auf. 

Dieser Beitrag hat nun das Ziel, das FT-Konzept kritisch zu hinterfragen. Wie „fair“ ist „Fair Trade“ wirklich und ist der klassische Welthandel wirklich „unfair“?

2. Das Fair-Trade-Konzept

Die Entstehung des heutigen FT-Konzepts geht auf eine Initiative der nordamerikanischen Mennoniten und „Brethren-Churches“ zurück, die um 1946 die „Ten Thousand Villages“ (früher „self help crafts“) Organisation gründeten. Sie wollten damit einen regionalen, „fairen“ Handel aufbauen. Die europäischen Studentenbewegungen der 1960er übernahmen bald die Idee eines „fairen“ Handels und integrierten diese in die zunehmende Kritik an der freien Marktwirtschaft und dem kapitalistischen Welthandel. Beschränkten sich diese FT-Bewegungen zu-nächst nur auf den Verkauf in kleinen „Weltläden“, so fand in den 1990ern ein Wandel hin zu multinationalen Konzernen statt, die sich FT auf die Fahnen geschrieben haben.1Vgl. zur Darstellung der Entwicklungsgeschichte von Hauff und Claus 2012, S. 84ff.

2.1 Handels- und entwicklungspolitische Konzeption des Fair Trade  

Hinter dem Begriff „Fair Trade („gerechter Handel“) steht die Überzeugung, eine solidarische Partnerschaft mit Produzenten in Entwicklungsländer aufzubauen, die durch den „fairen“ Handel einen angemessenen Preis für ihre Produkte erhalten sollen. FT umfasst in diesem Rahmen zwei konzeptionelle Zielgrößen. Auf der einen Seite verlangt das handelspolitische Konzept des FT die Schaffung einer „gerechten“ Rahmenordnung des Welthandels im Gegensatz zu einem angeblich „ungerechten“ und „ausbeuterischen“ Freihandel.2Vgl. FINE 2001, S. 1 sowie Liebig und Sautter 2000, S. 115-117. Auf der anderen Seite wird ein entwicklungspolitisches Konzept verfolgt, in welchem die „unfair“ behandelten Produzenten in Entwicklungsländern einen „gerechten“ Lohn für „gute“ Arbeit erhalten sollen. Demnach wird mittels der Weltmarktintegration von Entwicklungsländern eine Hilfe zur Selbsthilfe für Produzenten gefordert, infolge derer eine Armutsbekämpfung stattfinden solle.

Bezeichnend für FT ist dabei die Schaffung von mehr „Gerechtigkeit“ im internationalen Handel sowie die Unterstützung der vom Freihandel „benachteiligten“ Produzenten, um insgesamt einen nachhaltigen Entwicklungsbeitrag zu leisten. Benachteiligte Produzenten sind im Sinne des FT meist Kleinproduzenten, welche in armen Verhältnissen leben, oft durch die herrschenden Marktbedingungen diskriminiert werden und keinen freien Zugang zum Weltmarkt haben. Um von FT unterstützt zu werden, müssen diese Produzenten preislich und qualitativ verkäufliche Produkte erzeugen und die durch das FT-Zertifizierungssystem vorgegebenen wirtschaftlichen Voraussetzungen der Arbeitsbedingungen und Produktionsverfahren erfüllen.3Vgl. ebd., S. 136-140. FT beschränkt sich daher überwiegend auf Exportprodukte aus südamerikanischen Entwicklungsländern, welche bereits einen ausreichenden Entwicklungsstand erreicht haben (z.B. Mexiko).4Vgl. Sidwell 2008, S. 10f. Konsumenten erhalten demgegenüber aufgrund des FT-Labels die Möglichkeit, sich mittels des Kaufs der gekennzeichneten Produkte für eine Unterstützung des FT-Konzeptes zu entscheiden.

2.2 Handels- und entwicklungspolitische Instrumente des Fair Trade

Das FT-Konzept kann in der Realität zwar verschiedene Ausgestaltungsformen sowie -strukturen annehmen und sich zwischen den einzelnen FT-Organisationen unterscheiden, beinhaltet jedoch generell die im Folgenden aufgeführten Instrumente:

(1) „faire“ Preise, welche generell über den durchschnittlichen (Welt-)Marktpreisen liegen und die Lebenshaltungs- sowie Produktionskosten des Produzenten decken sollen. Der Mindestpreis wird zu diesem Zweck in kooperativer Absprache festgelegt und dem jeweiligen Produzenten als Abnahmepreis garantiert. 

(2) Vorfinanzierungen, in deren Rahmen den Produzenten kostengünstige Kredite angeboten werden. 

(3) Direktankäufe, um den Zwischenhandel zu reduzieren. 

(4) langfristige Lieferbeziehungen mit bindenden Handelskontrakten, durch welche den jeweiligen Produzenten eine höhere Planungssicherheit aufgrund partnerschaftlicher Beziehungen zwischen Händlern und Erzeugern geboten werden soll. 

(5) Produkt- und Qualitätsberatungen, mittels derer spezifische Informationen der Produktentwicklung sowie des Absatzmarketings weitergegeben werden. 

Und demgegenüber auf Seiten der lizenzierten FT-Produzenten das FT-spezifische 

(6) Zertifizierungssystem, welches von den jeweiligen Unternehmungen Gesundheits-, Umwelt- und Sozialfördermaßnahmen fordert. Hierbei sind FT-Produzenten zur Einhaltung vorgeschriebener Umweltstandards der jeweiligen FT-Organisation verpflichtet, innerhalb derer die ökologische Landwirtschaft nicht zwingend vorgeschrieben, aber der Einsatz von bestimmten Pestiziden verboten ist. Des Weiteren müssen die Arbeitsbedingungen an den International Labour Organization (ILO) Kernarbeitsstandard angepasst werden und folglich ein gesundheitsverträgliches und menschenwürdiges Arbeitsumfeld (Verbot von Kinder- oder Sklavenarbeit)5Die Vorgaben der Arbeitsbedingungen umfassen des Weiteren auch die Positionsstärkung der Frau in den jeweiligen Unternehmungen sowie die Einhaltung der Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen. schaffen.6Vgl. Fair Trade e.V. 2013 sowie Liebig und Sautter 2000, S. 114f.

Insgesamt geschieht die konzeptionelle Um-setzung des FT somit anhand einer erhöhten Planungssicherheit (1-4), der produktspezifischen Informationsbereitstellung (5) sowie der Vorgabe eines gesundheits-, umwelt- und sozialfördernden Zertifizierungssystems (6), durch welches das FT-Konzept handels- so-wie entwicklungspolitische Förderungsansätze für ausgewählte Produzenten in wirtschaftlich eingeschränkten Regionen und Ländern bereitzustellen versucht.

3. Eine handelspolitische Kritik des Fair-Trade-Konzeptes

Innerhalb des FT wird der konventionelle Freihandel generell als „unfair“ bezeichnet, wobei meist die Handelsbeschränkungen (Protektionen), die „Ausbeutung“ von Produzenten aus Entwicklungsländern sowie die inländische Wirtschaft gefährdenden „Dumping-Exporte“ als Ursachen genannt werden.7Vgl. Krugman, Obstfeld und Melitz 2012, S. 72. FT versteht den eigenen Ansatz dagegen als „fairen“ und damit „gerechten“ Welthandel.8Vgl. FINE 2001, S. 1.

3.1 Eine Wohlfahrtsanalyse des Freihandels

Die traditionelle Freihandelstheorie, wie sie von Adam Smith und David Ricardo begründet wurde, hat allerdings ebenfalls den Selbstanspruch, ein gerechtes Handelssystem zu bieten. Sie möchte die (Gesamt-)Wohlfahrt9(Gesamt-)Wohlfahrt meint im ökonomischen Sinne eine Ressourcenverteilung zwischen den einzelnen Individuen einer Gesellschaft, welche von diesen als bestmöglich beurteilt wird (effiziente Ressourcenallokation). maximieren. FT ist von daher keineswegs das einzige Konzept, das sich „Fairness“ und „Gerechtigkeit“ im Sinne des zunehmenden Wohlstandes auf die Fahnen geschrieben hat. Diesen Selbstanspruch hat auch der Freihandel.Die Grundlage der Freihandelstheorie unterscheidet sich jedoch generell vom Konzept des FT. Ihr Fundament ist der vergleichende Kostenvorteil, durch welchen die Vorzüge des freien Handels zwischen Ländern nicht aufgrund der absoluten Produktionskosten entstehen, sondern von den relativen Produktionskosten der Güter zueinander abhängen. Weisen miteinander handelnde Länder unterschiedliche Produktionskosten auf, so muss ein Land für die Produktion eines bestimmten Gutes auf weniger Einheiten eines alternativen Gutes verzichten (Opportunitätskosten)10Meint die Kosten für entgangene Erträge oder Nutzen einer nicht realisierten Handlungsalternative um die realisierte Gütereinheit zu erlangen. Die Folge ist: für jedes Land wird es im Freihandel attraktiv, sich auf Güter mit einem Kostenvorteil zu spezialisieren und diese zu handeln. Demgemäß ermöglichen die Kostenvorteile, seien sie durch Technologie- (Ricardianisches Modell) oder Faktorausstattungsunterschiede (Heckscher-Ohlin-Handel) bedingt, im Rahmen des Freihandels die (Gesamt-)Wohlfahrt einer Nation über ihre natürliche Ressourcenbeschränkung hinaus zu steigern.11Vgl. Krugman, Obstfeld und Melitz 2012, S. 297ff. Der Spezialisierungseffekt (durch Arbeitsteilung) führt daher zu einer optimalen Ressourcennutzung, wobei Güter dort hergestellt werden, wo sie relativ gesehen am günstigsten produziert werden können.12Vgl. Weiss 1999, S. 203-205. Infolgedessen entstehen allerdings zwischen den handelnden Ländern produktivitätsbedingte (z.B. Geografie, Institutionen oder andere Faktoren) Ungleichheiten des Wohlstandsniveaus, wobei allerdings die (Gesamt-) Wohlfahrt ansteigt.13Vgl. Hall und Jones 1999, S. 113f. sowie Acemoglu, Johnson und Robinson 2001, S. 1395 und Sachs 2001, S. 28f.

Die „neue Freihandelstheorie“ ergänzt die positiven Wohlfahrtseffekte des klassischen Freihandels nun um die Globalisierungseffekte, welche ohne traditionelle Annahmeschwächen (z.B. kleine Länder, homogene Güter u.s.w.) auskommen. Diese umfassen die durch Globalisierung entstehenden Wettbewerbsverschärfungen, in deren Folge Produzenten im Freihandel einer wachsenden Konkurrenz ausgesetzt werden. Durch diese scheiden ineffiziente Unternehmungen aus dem Markt aus und monopolistische Strukturen können aufgehoben oder zumindest reduziert werden. Des Weiteren werden für die verbleibenden Produzenten die Absatzmärkte erweitert, weshalb diese von Skaleneffekten („economies of scale“)14Skaleneffekte bezeichnen die bei einer Ausweitung der Produktion entstehenden Kostenreduktionen. sowie Verbundeffekten („economies of scope“)15Verbundeffekte meinen die Kosteneinsparungen, welche bei der gemeinschaftlichen Produktion von mehreren Produkten entstehen. profitieren können.16Vgl. Weiss 1999, S. 203-205. In Ergänzung hierzu bietet die Globalisierung aufgrund von technologischen Entwicklungen das Potenzial des Produktivitätsfortschrittes, da es Produzenten durch die weltweite Wissensvernetzung ermöglicht wird, ausländische Investitionen zu tätigen, neue Forschungsgebiete zu erschließen und an einem weltweiten „Know-How“ Transfer teilzunehmen.17Vgl. Coe und Helpman 1995, S. 875f. sowie Weiss 1999, S. 203-205 und Lee 2006, S. 2086f. Demnach folgt für den einzelnen Produzenten aus dem Freihandel eine Wettbewerbssteigerung sowie die Option, Kostenreduktionen und Produktivitätsfortschritte zu realisieren. Dabei werden die im Wettbewerb verbleibenden Produzenten zu einer effizienten und nachhaltigen Produktion gezwungen (allokative und produktive Effi-zienz), ohne welche sie langfristig nicht im internationalen Handel bestehen können (dynamische Effizienz).18Vgl. Bernhofen und Brown 2005, S. 221f.

Mittels Spezialisierungs- und Globalisierungseffekten bietet freier Handel folglich allen Ländern die Möglichkeit, natürliche Beschränkungen des wirtschaftlichen Wachstums (Ressourcenausstattungen) zu überwinden und nicht nur die eigene, sondern auch die weltweite Wohlfahrt und Entwicklung zu steigern.19Vgl. Stiglitz und Charlton 2005, S. 12. Durch die Globalsierung kam es deshalb auf das Ganze gesehen tatsächlich zu einer Wohlstandssteigerung, wenn diese auch nicht für alle Handelsteilnehmer gleich aussah.

Folglich führt sowohl die traditionelle als auch die neue Freihandelstheorie anhand von Spezialisierungs- und Globalisierungseffekten gute Argumente für eine bestmögliche Verwertung der knappen Ressourcen auf, welche gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtsgewinne erzeugen und langfristig einen positiven Entwicklungsbeitrag (Armutsreduktion) leisten können. Der Freihandel ist von daher keineswegs von sich aus „ungerecht“ oder „unfair“, wie oft unterstellt wird. Allerdings ist hierbei zu beachten, dass aufgrund ungleicher Produktivitätsniveaus durch den Freihandel auch immer Wohlstandsunter-schiede entstehen. Die ethische Frage ist dabei allerdings, ob Wohlstandsunterschiede generell als „ungerecht“ oder „unfair“ bezeichnet werden können.

3.2 Eine Unterscheidung der Tausch- und Verteilungsgerechtigkeit

In der Auseinandersetzung mit einem „fairen“ bzw. „unfairen“ Welthandel ist es notwendig, den schillernden Begriff der „Gerechtigkeit“ eindeutiger zu bestimmen, auch wenn Philosophen, Sozialwissenschaftler und Ökonomen diesen Begriff seit Jahrhunderten in unterschiedlichster Weise interpretieren.20Vgl. Sautter und Volf 1992, S. 68 sowie Liebig und Sautter 2000, S. 114.

Platon fasste Gerechtigkeit dabei als universales Ordnungsprinzip auf, als eine vollkommene Tugend des Menschen, welche sämtliche Tugenden umschließe. In dessen Nachfolge stand Aristoteles, der eine Differenzierung zwischen der individuellen Gerechtigkeit, als Tugend innerhalb einer gesellschaftlichen Ordnung (ähnlich zu Platon) und der kollektiven Gerechtigkeit vornahm. Die kollektive Gerechtigkeit bezeichnet hierbei eine objektive Norm, die in der Einhaltung des Naturrechts (lat. „ius naturae“) sowie der verhältnismäßigen Gleichheit bestand. 

Seit der Aufklärungsepoche fand eine stärkere Betonung dieser Unterscheidung statt. Während Immanuel Kant die Gerechtigkeit weiterhin als individuelle Fragestellung verstand, setzten sich in der Gerechtigkeitstheorie Konzepte der „Gesellschaftsverträge“ von Vertretern wie etwa Thomas Hobbes, John Locke bis hin zu Jean-Jacques Rousseau durch. Diese suchten Gerechtigkeit nun nicht mehr in der individuellen, sondern vielmehr in einer kollektiven Ordnung als „hohes Prinzip“ (Primärwert). Dem folgten Gesellschaftstheoretiker wie Adam Smith und später Jeremy Bentham als Begründer des Utilitarismus, nach welchem das dominierende sozialethische Prinzip die (Gesamt-) Wohlfahrt (gesamtgesellschaftlicher Nutzen) sei, nicht der Nutzen des Einzelnen. Hier ist nun nicht das gerecht, was dem einzelnen Menschen nützt, sondern das, was der Allgemeinheit dient. 

John Rawls führte die Gerechtigkeitstheorie schließlich zu einem vorläufigen Ergebnis zusammen, in welchem er konsequent zwischen einer individuellen und kollektiven Gerechtigkeit trennte. Die Gleichheit aller Menschen setze demnach eine Gleichverteilung der Grundgüter (Freiheit, Chancen, Einkommen, Vermögen) voraus. Allerdings ist auf-grund einer ungleichen Verteilung der Anfangsausstattung (Ressourcenausstattung) die Gleichverteilung der Grundgüter nicht mehr gegeben. Dementsprechend schlussfolgert Rawls anhand der Konsensethik, dass eine gerechte Verteilung vorhanden ist, wenn aus einer Ungleichverteilung größere Vorteile für die gesamte Gemeinschaft erzielt werden als durch eine Gleichverteilung.21Vgl. Hägglund 1984, S. 440-443 sowie Neschke 2013. Dieser Gedanke entspricht dabei dem Gerechtigkeitsverständnis des konventionellen Freihandels.

Im Rahmen der Konsensethik ist es nun wiederum wichtig, zwischen zwei innergesellschaftlichen Formen der Gerechtigkeit zu unterscheiden. Zum einen umfasst die Tauschgerechtigkeit (lat. „iustitia commutativa“) mit dem Grundsatz „jedem das Seine“ (lat. „suum cuique“) die sogenannte Markt- bzw. Leistungsgerechtigkeit der Zuteilung (Allokation) von Grundgütern nach dem Gleichheitsprinzip (Äquivalenzprinzip). Dies bildet das Verhältnis zwischen „Gleichen“ ab, welche einen angemessenen Tausch von Leistung und Gegenleistung vollziehen. Kommt hier der freie Tausch zustande, so ist er nach Auffassung beider Tauschpartner auch gerecht, da diese ansonsten nicht handeln würden. Zum anderen bezeichnet die Verteilungsgerechtigkeit (lat. „iustitia distributiva“) eine Verteilungs- bzw. Bedarfsgerechtigkeit der Verteilung von Marktgütern nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip. Dem-entsprechend beschreibt dieses das Verhältnis zwischen „Ungleichen“, welches von einer übergeordneten Instanz angemessen berück-sichtigt werden soll und Menschen mit gleichen Gegebenheiten gleich behandelt (horizontale Gerechtigkeit), während unterschiedliche Gegebenheiten proportional berücksichtigt werden sollen (vertikale Gerechtigkeit) und zu diesem Zweck eine Umverteilung stattfindet.22Vgl. Hägglund 1984, S. 440f. Die Tauschgerechtigkeit gewährleistet daher unbeschränkte Handlungsoptionen in der zwischenmenschlichen Interaktion, wohingegen die Verteilungsgerechtigkeit eines übergeordneten Rahmen der Vorstellung von Grundgüterausstattungen und Umverteilungsmechanismen bedarf.

Die Verteilungsgerechtigkeit wird allerdings oft mit einer sogenannten sozialen Gerechtigkeit verwechselt, in welcher Gerechtigkeit an den gesamtwirtschaftlichen Verteilungsergebnissen gemessen wird. Hierbei sei die soziale Gerechtigkeit erst erreicht, wenn alle Menschen das Gleiche besitzen („Gleichheit aller“). Dieses Gerechtigkeitsverständnis findet man auch in der FT-Bewegung. Innerhalb dieses Ansatzes wird jedoch ein Missbrauch der Verteilungsgerechtigkeit vollzogen, da diese nur gemeinsam mit der Tauschgerechtigkeit zu verstehen ist, da infolge der ungleichen Anfangsausstattungen aller Menschen das Verteilungsresultat der Gleichheit aller eine Ungleichbehandlung der verschiedenen Individuen bedeuten und somit die wirt-schaftliche Betätigungsfreiheit einschränken würde. Dies führt aufgrund des fehlenden Gleichheitsprinzips zu einer negativen Anreizwirkung der hiervon diskriminierten Akteure, in deren Folge eine ineffiziente Ressourcenverwendung entstünde. Das Fehlen der Tauschgerechtigkeit beschränkt in diesem Rahmen die wirtschaftliche Dynamik und demgemäß die gemeinschaftliche Wohlfahrt.23Vgl. ebd., S. 441-443 sowie Sautter und Volf 1992, S. 68. Folglich würde die Gleichverteilung für die Gemeinschaft größere Nachteile erzeugen als eine Ungleichverteilung, wodurch der Konsensethik widersprochen wäre. 

Die Verteilungsgerechtigkeit muss somit vielmehr in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext gesehen werden. Nur wenn das Gleichheitsprinzip für die handelnden Akteure gewährleistet wird, ist es möglich, anhand des Leistungsfähigkeitsprinzips und eines institutionellen Rahmens, Umverteilungsmechanismen zu installieren. Dabei sind Diskriminierungen im Rahmen der horizontalen Gerechtigkeit zu unterbinden und Ansprüche auf ein menschenwürdiges Dasein anhand der vertikalen Gerechtigkeit zu beachten.24Vgl. Rawls 1975, S. 81 sowie Sautter und Volf 1992, S. 68 und Rawls 2006, S. 78. Somit setzt der marktwirtschaftliche Begriff der „Gerechtigkeit“ die gleichzeitige Existenz der Tauschgerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit zwingend voraus und basiert grundlegend auf einer Konsensethik.

3.3 Gerechtigkeit im Alten und Neuen Testament

Eine Differenzierung des Begriffes der Gerechtigkeit findet sich interessanter Weise auch schon in der Bibel. Im Alten und Neuen Testament nimmt der Begriff Gerechtigkeit eine zentrale Stellung ein. Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit stehen hierbei immer mit Gott selbst in Verbindung, „denn gerecht ist der HERR, gerechte Taten liebt er“ (Ps 11,7). Gerechtigkeit ist ein Wesenszug Gottes, welcher als göttlicher Anspruch auf die Menschen übertragen wird.25Vgl. Faix 2010, S. 78-81. Allerdings ist eine Unterscheidung zwischen der theologischen Gerechtigkeit im Sinne einer Rechtfertigung des Menschen vor Gott und einer (sozial-)-ethischen Gerechtigkeit des Menschen in seinem gesellschaftlichen Umfeld nötig. Im Weiteren wird demnach nur die sozial-ethische Gerechtigkeit der Bibel als Forderung des gottgewollten Verhaltens betrachtet.26Vgl. Hägglund 1984, S. 441.

Diese zwischenmenschliche Gerechtigkeit umfasst dabei zunächst einmal einen sozial-ethischen Standard der Volksgemeinschaft, entsprechend des göttlichen Rahmens (Tora) und der sozialen sowie moralischen Gebot der Bibel (vgl. 5Mo 16,20; 1Sam 26,23; Spr 12,28; Zef 2,3). Im Zentrum steht meist ein konkretes gemeinschaftsförderndes Verhalten von Personen(gruppen), welches das Ziel ei-ner Wiederherstellung der Gemeinschaft verfolgt (vgl. Spr 11,18; 14,34; 15,9). Die Gerechtigkeit besteht aber weniger im absoluten Sinne, noch in der gerichtlichen Situation, und verfolgt auch nicht die Umsetzung der Rechte des Einzelnen. Vielmehr ist der Begriff an das soziale Umfeld gebunden und sucht in diesem eine „kollektive Gerechtigkeit“.27Vgl. Brown, Driver und Briggs 2000, S. 842 sowie Holladay und Köhler 2000, S. 303 und Gesenius und Tregelles 2003, S. 703. Gerecht ist das, was der Gemeinschaft nutzt.

Das Ideal der alttestamentlichen Gemeinschaft verlangt demgemäß, „dass sie [Nach-kommen Abrahams] den Weg des HERRN bewahren, Gerechtigkeit und Recht zu üben“ (1Mo 18,19) und misst das menschliche Verhalten an diesem Ideal (vgl. 2Sam 8,15b). So ist der Anspruch an das Gottesvolk, „Richter und Aufseher sollst du dir einsetzen [...], damit sie das Volk richten mit gerechtem Gericht“ (5Mo 16,18) und diese „gerecht zwischen einem Mann und seinem Bruder und dem Fremden bei ihm“ (5Mo 1,16) richten sollen. Gerechtigkeit im AT setzt dabei die eben genannte Tauschgerechtigkeit voraus, denn „du [Volk Israel] sollst die Person des Geringen nicht bevorzugen und die Person des Großen nicht ehren, in Gerechtigkeit sollst du deinen Nächsten richten“ (3Mo 19,15; vgl. 5Mo 1,17a), und verwirft die Diskriminierung einzelner Personen(gruppen). Des Weiteren bleibt auch das Gleichheitsprinzip in der zwischenmenschlichen Interaktion erhalten, denn „wenn ihr etwas verkauft, sei es ein Verkauf an deinen Nächsten oder ein Kaufen aus der Hand deines Nächsten, dann sollt ihr euch gegenseitig nicht übervorteilen“ (3Mo 25,14). Folglich wird ein freier Tausch von Angebot und Nachfrage vorausgesetzt, der nicht durch Marktverzerrungen beeinträchtigt werden soll, denn „gerechte Waage, gerechte Gewichtsteine, [...] sollt ihr [Volk Israel] haben“ (3Mo 19,36; vgl. 5Mo 25,15; Hes 45,10). Die aus der Marktgerechtigkeit entstehenden Ungleichheiten eines Wohlstandsgefälles werden hierbei im Rahmen des Tun-Ergehen-Zusammenhangs der Weisheitsliteratur als gerecht verstanden, sodass „Arm wird, wer mit lässiger Hand schafft, aber die Hand der Fleißigen macht reich“ (Spr 10,4; vgl. 6,10f.). Allerdings erfahren soziale Umverteilungen aufgrund von Marktversagen (z.B. Betrug, Bestechung, u.s.w.) durch die Prophetenliteratur starke Kritik und werden als ungerechtes und gottloses Handeln beschrieben, denn „sie bedrängen den Gerechten, nehmen Bestechungsgeld und drängen im Tor den Armen zur Seite“ (Am 5,12).

Im Gegensatz zu dieser auftretenden Ungerechtigkeit erwartet das Alte Testament vielmehr, in Ergänzung der Tauschgerechtigkeit die Umsetzung einer Verteilungsgerechtigkeit. Demgemäß fordert das Alte Testament: „Wenn dein Bruder verarmt [...], dann sollst du ihn unterstützen wie den Fremden und Beisassen, damit er neben dir leben kann“ (3Mo 25,35; vgl. 5Mo 15,7-10; Jes 58,10). Der wirtschaftlich Schwache („Arme“) hat folglich Anspruch auf das Leistungsfähigkeitsprinzip, durch welches er gemäß einer vertikalen Gerechtigkeit wirtschaftliche Unterstützung durch das Volk erhält. So sollst „du [Volk Israel] nicht Zins von ihm [dem Armen] nehmen und sollst dich fürchten vor deinem Gott, damit dein [verarmter] Bruder neben dir lebt“ (3Mo 25,36; vgl. 5Mo 24,13). 

Zu beachten ist allerdings, dass diese Texte keine Nivellierung und Gleichheit der individuellen Wirtschaftskräfte voraussetzen oder erwarten, wie sie bei der FT-Bewegung oft unausgesprochen gefordert wird, sondern vielmehr vom Fortbestand wirtschaftlicher Ungleichheiten ausgehen, „denn der Arme wird nicht aus dem Land verschwinden“ (5 Mo 15,11a). Die Verteilungsgerechtigkeit wird dementsprechend anhand von Transferzahlungen fest in den ordnungspolitischen Rahmen des Gottesvolkes eingebunden. Zentral ist hierbei das „Jahr des Zehnten“, in welchem das Volk Israel „am Ende von drei Jahren [...] den ganzen Zehnten [... des] Ertrages von jenem Jahr aussondern [... soll] und der Levit [...] und der Fremde und die Waise und die Witwe [... sollen] kommen und essen und sich sättigen“ (5Mo 14,29f.; vgl. 5Mo 26,12), wobei die aufgeführten Personen(gruppen) generell wirtschaftlich schwache und meist verarmte Sozialschichten zusammenfassen.28Vgl. Ross 2000, S. 356. Das Leistungsfähigkeitsprinzip wurde des Weiteren mittels eines „Erlassjahres“ bzw. „Sabbatjahres“ (jedes 7. Jahr, vgl. 5Mo 15,9; 31,10) sowie des „Jobeljahres“ (jedes 7. Sabbatjahr, vgl. 3Mo 25,8) gewährleistet. In diesem Rahmen fand für das Gottesvolk (nur Hebräer) alle sieben Jahre (Sabbatjahr) eine (a) Stilllegung der Landwirtschaft (vgl. 2Mo 23,11; 3Mo 25,2-7; 25,18-22), (b) Armenunterstützung (vgl. 5Mo 15,7-11), (c) Schuldenerlassung (vgl. 3Mo 25,1-4; 5Mo 15,1-3) sowie eine (d) Sklavenentlassung (vgl. 2Mo 21,2ff.; 5Mo 15,12ff.) bzw. alle fünfzig Jahre (Jobeljahr) eine (e) Grundbesitzrückübereignung und (f) umfassende Sklavenentlassung (vgl. 3Mo 25,10) statt.29Vgl. Meinhold 1988, S. 280f. sowie Faix 2010, S. 79-81 und Cardellini 2013. Demnach gewährleistete das Alte Testament ein spezifisches Sozialsicherungs- und Transfersystem, welches anhand des Leistungsfähigkeitsprinzips wirtschaftliche Ungleichheiten berücksichtigte.

Die (sozial-)ethische Gerechtigkeitsvorstellung des Neuen Testaments schließt sich unmittelbar an die des Alten Testaments an, weshalb auch die neutestamentlichen Begriffe eine Trennung zwischen der theologischen und sozialethischen Gerechtigkeit grundlegend zum Verständnis dieser nötig machen. Während gerade die paulinischen Theologie den Begriff der Gerechtigkeit im Vergleich zum Alten Testament stark erweitert (Rechtfertigungslehre bei Paulus), weicht das neutestamentliche Konzept der sozialethischen Gerechtigkeit nicht vom Alten Testament ab. Auch hier sind diejenigen „glückselig, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten“ (Mt 5,6; vgl. Ps 11,7; vgl. Ps 33,5a), wobei die Gerechtigkeit weiterhin in den übergeordneten göttlichen Rahmen eingebunden wird und primär auf das Kollektiv fokussiert ist (vgl. Lk 1,6 und 2Sam 8,15b).Die zwischenmenschliche Gerechtigkeit im Neuen Testament beschreibt ebenfalls einen ethischen Standard des gemeinschaftlichen Zusammenlebens und der Beziehung zwischen Personen(gruppen). Gerecht ist demnach, das dem Menschen Zustehende zu bekommen und anderen Menschen das ihnen Zustehende zu gewährleisten.30Vgl. Newman 1993, S. 46 sowie Louw und Nida 1996, S. 451 und Liddell 1996, S. 202. Demnach bleibt der Anspruch der Tauschgerechtigkeit auch im NT gewahrt, denn „alles nun, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut ihr ihnen auch“ (Mt 7,12). Hierbei wird neutestamentlich eine unterschiedliche Ressourcenausstattung der einzelnen Individuen anhand von „Gnadengaben“ (vgl. Röm 12,6; 1Kor 12,8ff.) sowie der „Ämterlehre“ (vgl. Eph 4,12; 1Kor 12,28) betont, welche immer auch zu Ungleichheiten zwischen sozialen Stellungen führt. Des Weiteren findet sich jedoch bei der Beschreibung der Jerusalemer „Urgemeinde“ auch die Verteilungsgerechtigkeit, denn „sie verkauften die Güter und die Habe und verteilten sie an alle, je nachdem einer bedürftig war“ (Apg 2,44f.; vgl. 4,34). Die neutestamentliche Gerechtigkeitsvorstellung umfasst daher ebenfalls das Leistungsfähigkeitsprinzip, wobei die ethisch-politische Umsetzung einer absoluten Gerechtigkeit erst in der eschatologischen Zukunft erwartet wird, denn „wir erwarten [... einen] neuen Himmel und eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt“ (2Pe 3,13).31Vgl. Hägglund 1984, S. 441.

Die sozialethische Gerechtigkeitsvorstellung der Bibel weicht somit nicht von einer Konsensethik ab, in welcher der gesamtgesellschaftliche Nutzen aus einer Tauschgerechtigkeit mittels der Verteilungsgerechtigkeit gemäß des Leistungsfähigkeitsprinzips den einzelnen Individuen der Gemeinschaft zugeteilt wird. Die sozialethische Dimension der biblischen Gerechtigkeit ähnelt von daher eher den Prinzipien des Freihandels, als der der FT-Bewegung.

3.4 Der gerechte Lohn im Alten und Neuen Testament  

Wie sieht es aber mit dem biblischen Verständnis eines „fairen Lohnes“ aus? 

Auch bei der Analyse der alt- und neutestamentlichen Lohnvorstellung ist zunächst eine Differenzierung zwischen dem theologischen und ethischen Lohn vorzunehmen. Während die theologische Bedeutung des Lohnes in der göttlichen Vergeltung des menschlichen Handelns besteht (eschatologisch), meint die ethische Lohnvorstellung vielmehr das zu zahlende Entgelt für real geleistete Arbeiten und Leistungen.32Vgl. Huber 1991, S. 450 sowie Winter 1991, S. 448.

Der Begriff Lohn wird im Alten Testament dabei meist vom Wortstamm „für Lohn arbeiten“ her verstanden. Bezieht sich dieser auf menschliche Tätigkeiten (vgl. 1Mo 29,15; 31,7.41; Rt 2,12), so meint er eine reale Entlohnung für geleistete Arbeit oder Dienstleistungen (1Sam 2,5; 2Sam 4,10),33Vgl. Brown, Driver und Briggs 2000, S. 969 sowie Holladay und Köhler 2000, S. 295 und Gesenius und Tregelles 2003, S. 513. welcher jedoch neben der Arbeitsentlohnung auch den Gewinn aus Investitionen (vgl. 3Mo 19,13; Spr 10,16; Hes 29,20; Hi 7,2; Jer 22,13) beschreiben kann.34Vgl. Brown, Driver und Briggs 2000, S. 821 sowie Holladay und Köhler 2000, S. 217 und Gesenius und Tregelles 2003, S. 684f. Das zu zahlende Entgelt für geleistete Arbeit oder Investitionen basiert im alttestamentlichen Kontext dabei immer auf dem Marktprinzip von Angebot und Nachfrage. Der Arbeitgeber formuliert ein Lohnangebot oder überlässt dies dem Arbeitnehmer, über welches beide Parteien frei entscheiden können (vgl. 1Mo 29,15; 1Mo 30,28; u.s.w.). Hierdurch entspricht die ethische Lohnvorstellung des Alten Testaments dem Gleichheitsprinzip und damit auch der Tauschgerechtigkeit, in welcher die freiwillige Zustimmung zu einem Lohn als gerecht verstanden wird. Allerdings warnt das Alte Testament in dieser Lohnabsprache vor dem Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung des Arbeitgebers, denn „du [Volk Israel] sollst den bedürftigen und armen Lohnarbeiter nicht unterdrücken, sei er einer von deinen Brüdern oder von dienen Fremden“ (5Mo 24,14). Dementsprechend wird der Missbrauch des Nachfrage bestimmenden Arbeitgebers unter göttliche Gerichtsandrohungen gestellt, denn „ich [Gott ...] werde herantreten zum Gericht [...] gegen solche, die den Lohn des Tagelöhners drücken“ (Mal 3,5) oder „wehe dem, [...] der seinen Nächsten umsonst arbeiten lässt und ihm seinen Lohn nicht gibt“ (Jer 22,13). Neben der Lohndrückung und Auszahlungsverweigerung kennt das AT auch den Arbeitsvertragsbruch (vgl. 1Mo 31,7; 1Mo 31,41) und die unrechtmäßige Zahlungsverzögerung, denn „der Lohn des Tagelöhners darf über Nacht bis zum Morgen nicht bei dir bleiben“ (3Mo 19,13). 

Ebenso greift das Neue Testament einen ethischen Lohn des diesseitigen Lebens auf, welcher die Vorstellung von der realen Entschädigung einer erbrachten Arbeitsleistung beschreibt.35Vgl. Newman 1993, S. 117 sowie Louw und Nida 1996, S. 576 und Liddell 1996, S. 515. Das Marktprinzip von Angebot und Nachfrage wird auch dort auf Grundlage der freiwilligen Übereinkunft von Arbeitgeber und -nehmer verstanden (vgl. Mt 20,13f.), „denn der Arbeiter ist seines Lohnes wert“ (Lk 10,7; vgl. 1Tim 5,18b). Dementsprechend bleibt das Gleichheitsprinzip und hierdurch die Tauschgerechtigkeit gewahrt. Des Weiteren verwendet die neutestamentliche Lohnvorstellung das AT, „denn die Schrift sagt: Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden“ (1Tim 5,18a) und kritisiert ebenfalls den Missbrauch der Marktmacht von Arbeitgebern, denn „der von euch [Reichen] vorenthaltene Lohn der Arbeiter, [...] schreit, und das Geschrei [...] ist vor die Ohren des Herrn Zebaoth gekommen“ (Jak 5,4). Hierdurch schließt sich die ethische Lohnvorstellung des NT unmittelbar an die des AT an und sieht in dem Lohn ein materielles Entgelt für geleistete Arbeit (in Form von Geld oder Naturalien),36Vgl. Huber 1991, S. 449f. welches mittels eines funktionsfähigen Marktes über das Gleichheitsprinzip zu einer Tauschgerechtigkeit führt. Dabei warnen sowohl Altes als auch Neues Testament explizit vor dem Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung des Arbeitgebers, durch welche die Funktionsfähigkeit des Marktes eingeschränkt wird und ein Marktversagen zu suboptimalen Marktlöhnen führt.

Insgesamt kann also gezeigt werden, dass die Marktwirtschaft innerhalb des Freihandels einer gesamtgesellschaftlichen Konsensethik entspricht und durch die simultane Existenz der Tausch- sowie Verteilungsgerechtigkeit sowohl wirtschaftsethisch als auch bibilisch-theologisch sehr wohl als „gerecht“ bezeichnet werden kann. Aufgrund des Marktmechanismusses wird im Rahmen des Gleichheitsprinzips eine optimale gesellschaftliche Ressourcenzuteilung herbeigeführt, infolge derer die (Gesamt-)Wohlfahrt maximiert und im Einklang mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip auf das gesellschaftliche Kollektiv umverteilt werden kann. Die Wahrung der Tausch- und Verteilungsgerechtigkeit innerhalb einer Marktwirtschaft ermöglicht folglich auch den institutionellen Rahmen einer „fairen“ Welt-wirtschaftsordnung. Die Gefahr des Auftre-tens von Marktversagen, welches mittels re-gierungspolitischer Eingriffe behoben werden kann, legitimiert hierbei nicht die handelspolitische Kritik des FT-Konzeptes, durch die der konventionelle Freihandel als „unfair“ verworfen wird. Demgegenüber bietet der Freihandel die Option, langfristig das welt-weite Wirtschafts- und Entwicklungswachs-tum zu fördern und hierdurch zu einer Armutsreduktion in Entwicklungsländern beizutragen.

4. Die entwicklungspolitische Kritik des Fair-Trade-Konzeptes

Neben der handelspolitischen Kritik definiert sich FT generell durch sein entwicklungspolitisches Konzept der Unterstützung „benachteiligter“ Produzenten(gruppen) in Entwicklungsländern. Diese seien „unfairen“ wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ausgesetzt und müssten durch Subventions- und Fördermaßnahmen in ihrem unternehmerischen Handeln gestärkt werden, um eine „faire“ Teilnahme an der Weltwirtschaft zu erhalten.

4.1 Eine Wohlfahrtsanalyse der Fair-Trade-Preissetzung

In der Öffentlichkeit wird das FT-Konzept vor allem anhand von „fairen“ Preisen charakterisiert, die durch den Konsum der gekennzeichneten Produkte an den unterstützten Produzenten weitergegeben werden. Käufer von FT-Produkten sind demnach der Meinung, die vom konventionellen Freihandel gezahlten Produzentenpreise seien „zu niedrig“ bzw. „unfair“. Hierfür werden verschiedene Gründe aufgeführt, die insgesamt auf dem Vorliegen von Marktversagen beruhen. Zur Korrektur dieser „zu niedrigen“ Preise bieten die FT-Organisationen ihren Produzenten nun Mindestabnahmepreisgarantien. Allerdings existiert auch für FT keine formelle Definition von „fairen“ Preisen. Vielmehr praktizieren diese eine Preisabsprache mit den jeweiligen Produzenten, welcher die beobachteten Weltmarktpreise zugrunde liegen,37Demnach sind auch Argumente der Bekämpfung von Spekulationen nicht haltbar, da die Weltmarktpreise weiterhin Grundlage der „fairen“ Preise bilden. Siehe zur genauen Darstellung Liebig und Sautter 2000, S. 129-131. in die jedoch noch Produktions-, Lebenshaltungs- und Investitionskostenüberlegungen einfließen sollen. Dabei werden die Produzenten selbst zu Preissetzern, deren Vorschläge angenommen werden, soweit sie unter Vermarktungsaspekten umsetzbar sind. Demgegenüber müsste ein „fairer“ bzw. „gerechter“ Preis jedoch für jeden Produzenten individuell gesetzt und unabhängig von Weltmarkt- oder Vermarktungspreisen sein. Faktisch ist dies jedoch für die FT-Organisationen unmöglich.38Vgl. ebd., S. 452f. sowie Liebig und Sautter 2000, S. 120-125.

Aus diesem Grund kennt die ökonomische Theorie keine „fairen“ Preise, da die Existenz einer arbeitsteiligen Wirtschaft den Handel von erzeugten Produkten zu Marktpreisen notwendig macht. Der freiwillige Tausch findet hier nur statt, solange kein Marktteilnehmer durch diesen schlechter gestellt wird als zuvor, weshalb der Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage einen Markt- bzw. Gleichgewichtspreis erzeugt, zu welchem der Markt geräumt wird (Markträumungsfunktion). Das Gewinnstreben der einzelnen Marktteilnehmer erzeugt unter freiem Wettbewerb nun mittels der „unsichtbaren Hand des Marktes“ eine nutzenorientierte Zuteilung knapper Ressourcen (Arbeit, Kapital, u.s.w.) über die Signalfunktion des Marktpreises, wodurch der „Egoismus des Einzelnen“ zum größtmöglichen Nutzen der Allgemeinheit führt.39Vgl. Liebig und Sautter 2000, S. 120-125. Der Marktpreis enthält bei alledem keine normative Funktion, sondern steht in Abhängigkeit von produktionskosten- sowie marktorientierten Überlegungen und regelt lediglich eine effiziente Zuteilung knapper gesellschaftlicher Ressourcen im Rahmen des Gleichheitsprinzips. Direkte Markteingriffe durch die Festsetzung eines „fairen“ Preises beschränken jedoch die Signalfunktion des Marktes, wodurch ein Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage erzeugt wird. Innerhalb des FT-Konzeptes ist daher vor allem die Preissetzung mittels einer Preisabsprache zu kritisieren. Durch die Aufhebung der Marktpreisbildung wird der für FT-Produkte verlangte Preis anhand von Verhandlungen der zuständigen FT Organisation sowie der Produzenten vereinbart. Demnach werden die FT Produzenten mittels der Preisabsprachen zu Preissetzern, die nicht länger dem freien Wettbewerb ausgesetzt sind und im Extremfall eine monopolistische Produktionsentscheidung treffen können.40Vgl. Lachmann 1986, S. 32-40 sowie Liebig und Sautter 2000, S. 120-125 und Sidwell 2008, S. 28f.

Die FT-Preise liegen dabei prinzipiell über den Weltmarktpreisen, weshalb die subven-tionierten Produzenten zu einer Überproduktion41Dies meint einen Anstieg der Angebotsmenge über die nachgefragte Menge hinaus. angereizt werden. Auf der anderen Seite werden die Konsumenten jedoch wegen der höheren Preise und angesichts ihrer beschränkten Budgetressourcen zu einer Reduk-tion und/oder Substituierung der FT-Produkte übergehen.42Vgl. Lachmann 1986, S. 34f. Die höheren „fairen“ Preise können infolge dessen nicht langfristig auf dem Markt gehalten werden, wodurch die Einkommen der FT-Produzenten unter ihr vorheriges Niveau sinken und eine Preiserhöhung sowie Armutsreduktion scheitert.43Vgl. Liebig und Sautter 2000, S. 147f. Folglich erzeugt die Festsetzung der FT-Preisgarantie oberhalb des Marktpreises so-mit kurzfristig eine suboptimalen Ressourcenverwendung, die im Rahmen weltweit knapper Ressourcen vermieden werden sollte und langfristig durch Überproduktion zu einer Verarmung der subventionierten sowie nicht subventionierten Produzenten führen kann.44Vgl. Lachmann 1986, S. 32-37. Eine ausschließlich sozial und ethisch motivierte Herleitung von marktwirtschaftlichen Preisgarantien destabilisiert die existierenden Marktmechanismen, welche gefährdeten Produzenten langfristig ein gesichertes und steigendes Einkommen generieren könnten und sollte demgemäß aus Wohlfahrtsüberlegungen des einzelnen Produzenten sowie der Gemeinschaft unterlassen werden. 

Die allokativen und produktiven Ineffizienzen einer monopolistischen Preissetzung haben jedoch auch dynamische Fehlanreize zur Folge. Das FT-Konzept unterstützt zurzeit vor allem kleine Familienbetriebe, die meist arbeitsintensive und rückständige Produktionsprozesse verwenden, da sie weder Skalen- noch Verbundeffekte realisieren können.45Vgl. Sidwell 2008, S. 13-15. Durch die festgesetzten Preisgarantien kann hierbei der Anreiz fehlen, effizientere oder fortschrittlichere Produktionsverfahren einzusetzen und die eigene Produktion optimaler zu gestalten, weshalb langfristig eine relative Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit und des Produktivitätsfortschritts geschaffen wird. Die Verwendung eines „fairen“ Preises bietet demnach aufgrund der monopolistischen Preissetzung für den FT-zertifizierten Produzenten einen geringeren Anreiz des Produktivitätsfortschritts, woraus dynamische Ineffizienzen sowie eine langfristige Entwicklungskonservierung und damit einhergehend eine relative Verschlechterung der Wettbewerbssituation entstehen, welche nötige strukturelle Anpassungen behindern und entwicklungspolitisch negative Wohlfahrtseffekte generieren können.

4.2 Eine Wohlfahrtsanalyse des Fair Trade im Rahmen von Marktunvollkommenheiten

Neben der Festsetzung eines „fairen“ Preises bietet das FT Konzept noch weitere entwicklungspolitische Unterstützungsmaßnahmen. Diese resultieren ebenfalls aus der Annahme über das Vorliegen von Marktversagen in den geförderten Regionen. 

So z.B. die Vorfinanzierung von Handelskontrakten. Sie richtet sich gegen Informationsunvollkommenheiten auf den Kreditmärkten. Hierbei sehen sich vor allem Kleinproduzenten von Agrarerzeugnissen einem Marktversagen der Finanzierung ausgesetzt. Aufgrund relativ langer Wertschöpfungsphasen vergeht im Rahmen der Agrarproduktion von der Warenbestellung bis zur Auslieferung und Bezahlung eine lange Zeit. Für Produzenten mit geringem Eigenkapital ist eine Vorfinanzierung daher oft unverzichtbar, wodurch diese jedoch schnell in die Abhängigkeit von Kreditinstituten (hohe Zinssätze) und Abnehmern (Preisdrückung) geraten. Das große Zahlungsausfallrisiko infolge von schlechten Ernteerträgen und geringen Sicherheiten in Verbindung mit hohen Informations- und Verwaltungskosten führt daher häufig zu einer Unterfinanzierung von Kleinproduzenten. Die effiziente Kapitalzuteilung durch den Zinsmechanismus von Kreditangebot und -nachfrage wird demnach durch Informationsunvollkommenheiten auf den Kreditmärkten verzerrt und suboptimal. 

Auch wenn das FT-Konzept mittels Vorfinanzierungen hier einen positiven Entwicklungsbeitrag leisten kann, so müssen die FT Organisationen selbst langfristig „gute“ Schuldner identifizieren, um eine tragfähige Ressourcenzuteilung zu gewährleisten. Allerdings ist es fraglich, ob FT angesichts seiner altruistischen Ausrichtung eine im Vergleich zur Ausgangssituation effizientere Kreditvergabe erzeugen kann. Andernfalls würde die Privilegierung einzelner FT-zertifizierter Produzenten zu einer Diskriminierung und suboptimalen Zuteilung der Kapitalvergabe führen und erforderliche strukturelle Anpassungen in den jeweiligen Regionen verzögern.46Vgl. Liebig und Sautter 2000, S. 125-129.

Ein weiteres Instrument des FT Konzeptes ist der Direktankauf bzw. die Reduzierung des Zwischenhandels. FT unterstellt hierbei monopolistische Strukturen des Zwischenhandels, welcher aufgrund seiner Marktmacht Kleinproduzenten ausbeutet und deren Preise drückt. Der Zwischenhandel bietet zunächst eine Marktfunktion des Warenabnehmers und Dienstleisters für Produzenten, weshalb dessen Leistungen auch entlohnt werden müssen. In Entwicklungsländern kann jedoch der fehlende Wettbewerb unter den Zwischenhändlern zu einer Machtposition des „einzig existierenden“ Abnehmers führen, welcher nun wiederum Monopolrenten abschöpft. 

In diesem Falle bietet FT durchaus die Möglichkeit der Wettbewerbssteigerung und des Aufbaus von weiteren Kooperationen- sowie Vermarktungsformen, welche nicht gerechtfertigte Umverteilungseffekte des Zwischenhandels korrigieren.47Vgl. ebd.,S. 129-131. Jedoch ist es in diesem Zusammenhang fraglich, weshalb eine Steigerung des Wettbewerbs und einer Reduzierung von Marktmacht zu höheren „fairen“ Preisen führen sollte. Die Reduktion des Zwischenhandels wird nun innerhalb des FT-Konzeptes durch die Vermittlung langfristiger Lieferbeziehungen erweitert. FT-Organisationen versuchen zu diesem Zweck, Importeure zu gewinnen, welche den FT-zertifizierten Produzenten langfristige Handelskontrakte offerieren und hierbei deren Planungssicherheit erhöhen sowie komplementäre Produkt- und Qualitätsberatungen anbieten. Durch die Erhöhung der Planungssicherheit und Informationsvermittlung soll für die unterstützten Produzenten eine Plattform des Produktivitätsfortschritts geschaffen werden, da Unsicherheiten über den Ertrag von kapitalintensiven Investitionstätigkeiten für Kleinproduzenten meist zu einer gesamtwirtschaftlich suboptimalen Innovationstätigkeit führen. Langfristige Sicherheiten dienen demnach der Risikoverringerung im Rahmen von Investitionen und folglich der Qualitäts- und Innovationsförderung. Allerdings ist hierbei zu bedenken, dass die FT-Importeure weiterhin an die marktwirtschaftliche Rahmenordnung gebunden sind. Aus diesem Grund können auch diese langfristig nur wettbewerbsfähig bleiben, solange sie lukrative Handelskontrakte vergeben. Demnach ist erneut die Frage zu stellen, ob FT eine verbesserte Marktinstitution gewährleisten kann.48Vgl. ebd.,S. 132f.

Im Rahmen des Auftretens von Marktversagen bleibt es somit zu bezweifeln, dass FT die Möglichkeiten bietet, dem Marktversagen mit angemessenen Instrumenten zu begegnen. Auch wenn gerade Kleinproduzenten in Entwicklungsländern häufig Informationslücken, Marktmacht und fehlenden Investitionsanreizen ausgesetzt sind, so bietet das FT-Konzept dennoch keine Sicherheit einer umfassenden und ursachenangemessenen Strategie. Die praktizierten Unterstützungsmaßnahmen gehen vielmehr von einem Informationsvorsprung der FT-Organisationen gegenüber konventionellen Marktinstitutionen aus. Dies kann im Einzelfall zutreffen, ist je-doch nicht generell zu gewährleisten. Da die herrschenden Marktmechanismen jedoch zugunsten normativer Auswahlkriterien des FT-Zertifizierungssystems aufgegeben werden, besteht innerhalb der Vorfinanzierungen, Direktankäufe und Lieferbeziehungen des FT ein erhöhtes Risiko kurzfristiger und langfristiger Ineffizienzen der Ressourcenverwendung, welche entwicklungspolitische und gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtsverluste erzeugen können. 

5. Diskussion und Schlussfolgerungen

Das FT-Konzept stellt eine privatwirtschaftliche Initiative dar, welche es sich zum Ziel gesetzt hat, kleine Gruppen von Produzenten durch gezielte Subventions- und Fördermaßnahmen zu unterstützen. Innerhalb der vorangegangenen theoretischen Wohlfahrtsanalyse konnte jedoch auf kritische Aspekte der konzeptionellen Umsetzung des FT verwiesen werden. 

Der dargestellten Analyse kann jedoch entgegengehalten werden, dass FT-Produkte keiner autoritativen Institution entstammen und sich daher weiterhin im freien Wettbewerb behaupten müssen, ohne den Verbraucher zu einem Konsum zwingen zu können (Konsumentensouveränität). Des Weiteren fallen die ausgewiesenen Marktanteile des FT verhältnismäßig gering aus und haben demnach nur einen sehr geringen Einfluss auf den Welthandel.49Vgl. Sidwell 2008, S. 12 sowie Mohan 2010, S. 107. Allerdings wird hierbei die Verbraucherirreführung nicht bedacht, da der Konsum von FT-Produkten prinzipiell mit einer Unterstützung und Förderung „unfair“ behandelter Produzenten assoziiert wird. Wie jedoch gezeigt werden konnte, bietet ein festgesetzter „fairer“ Preis Anreize zur Förderung arbeitsintensiver und veralteter Produktionsverfahren, die nicht nur eine suboptimale Ressourcenverwendung ermöglichen, sondern langfristig den Produktivitätsfortschritt der unterstützten Produzenten hemmen und diese in ihrer realen Wettbewerbsposition schwächen können. Des Weiteren diskriminiert das FT-Zertifizierungssystem die meisten Produzenten aus Entwicklungsländern, da die gewählten FT-Produktionsvoraussetzungen für diese zu restriktiv, spezifisch und kostenintensiv sind. Im Gegensatz hierzu wird den FT Organisationen selbst, aufgrund ihres einzigartigen Konzeptes, eine monopolistische Marktmacht eingeräumt, welche wiederum zu institutionellen Ineffizienzen und der Gefahr des Machtmissbrauchs führt.50Vgl. Sidwell 2008, S. 11 und 28f. sowie Mohan 2010, S. 53-57 und 107. Somit ermöglicht das FT-Konzept nicht nur eine Konsumententäuschung, sondern auch die handels- und entwicklungspolitische Kritik des Ansatzes kann nicht überzeugen. Zwar ist die Kritik der Marktunvollkommenheiten in Entwicklungsländern durchaus berechtigt,51Vgl. World Fair Trade Organization (WFTO) and Fairtrade Labelling Organizations (FLO) 2009, S. 5. jedoch wird die derzeitige Ausgestaltung des FT-Konzeptes keinesfalls durch den Rahmen einer Konsensethik mittels der Umsetzung der Tauschgerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit gedeckt. 

Demgegenüber konnte allerdings in der biblisch-theologischen Analyse gezeigt werden, dass sowohl das AT als auch das NT den Begriff der „Gerechtigkeit“ sowie des „gerechten Lohns“ mittels einer Konsensethik füllt und hierbei keinesfalls eine „Gleichheit aller“ proklamiert. Die Theorie des konventionellen Freihandels konnte demgemäß anhand des biblisch-theologischen Befundes als „gerecht“ identifiziert werden. Wohingegen das FT-Konzept aufgrund der ideologischen Einschränkung des Freihandels die Gefahr einer Reduktion der (Gesamt-)Wohlfahrt und langfristig gesehen gesamtgesellschaftlich unerwünschter Umverteilungsentwicklungen birgt, welche biblisch-theologisch nicht gerechtfertigt werden und keineswegs als „fair“ gelten können.

In Bezug auf das FT-Konzept kann daher nur vor einer Glorifizierung und Institutionalisierung dieses Ansatzes gewarnt werden, da das Konzept kontraproduktiv für die fortschreitende Emanzipation von Entwicklungsländern sein kann. Vielmehr sollten entwicklungspolitische Maßnahmen auf die Schaffung von wohlstandsfördernden Rahmenbedingungen ausgelegt sein, wie sie anhand von Spezialisierungs- und Globalisierungseffekten innerhalb eines Freihandels entstehen können. Der institutionelle Abbau von Marktunvollkommenheiten und Protektionen bietet die Möglichkeit, Entwicklungsländer bei ihrem Wirtschaftswachstum und Produktivitätsfortschritt zu fördern. Organisierte Hilfsmaßnahmen können mittels eines Kapital- und Innovationstransfers gezielt Entwicklungsprojekte unterstützen und hierdurch langfristige Strukturanpassungen innerhalb der Entwicklungsländer schaffen.52Vgl. Stiglitz und Charlton 2005, S. 12 sowie Sidwell 2008, S. 28f. Ergänzend bieten staatlich zertifizierte Mindestanforderungen an Importprodukte ein regulierungspolitisches Instrument, um die Verletzung von Gesundheits-, Umwelt- und Sozialstandards zu unterbinden. Soziale und politische Bewegungen können hierdurch nicht nur individualisierte Initiativen fördern, sondern die politischen Machthaber in den jeweiligen Entwicklungsländern zur Umsetzung von sozialethisch vertretbaren Rahmenbedingungen zwingen. Freihandel, Investitionshilfen und zertifizierte Mindeststandards bilden somit die Grundlage einer effizienten sowie langfristig wirksamen Entwicklungshilfe. 

Im Ergebnis kann dabei für das FT Konzept gezeigt werden, dass dieses angesichts der Wohlfahrtseffekte des konventionellen Freihandels innerhalb einer Marktwirtschaft und dessen biblisch-theologisch gestützten Gerechtigkeitsanspruchs theoretisch nicht überzeugen kann. Die Maßnahmen des FT zur Korrektur des Marktversagens in Entwicklungsländern sind dabei nicht auf dessen strukturelle Ursachen ausgelegt und bergen die Gefahr kurz- und langfristig suboptimaler Ressourcenverwendungen, weshalb eine Diskrepanz des proklamierten Anspruchs eines „fairen“ Handels und dessen theoretischer sowie praktischer Gewährleistung entsteht.

© 2014 Institut für Ethik & Werte

Dr. Dr. Daniel Leufkens

Endnoten

  • 1
    Vgl. zur Darstellung der Entwicklungsgeschichte von Hauff und Claus 2012, S. 84ff.
  • 2
    Vgl. FINE 2001, S. 1 sowie Liebig und Sautter 2000, S. 115-117.
  • 3
    Vgl. ebd., S. 136-140.
  • 4
    Vgl. Sidwell 2008, S. 10f.
  • 5
    Die Vorgaben der Arbeitsbedingungen umfassen des Weiteren auch die Positionsstärkung der Frau in den jeweiligen Unternehmungen sowie die Einhaltung der Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen.
  • 6
    Vgl. Fair Trade e.V. 2013 sowie Liebig und Sautter 2000, S. 114f.
  • 7
    Vgl. Krugman, Obstfeld und Melitz 2012, S. 72.
  • 8
    Vgl. FINE 2001, S. 1.
  • 9
    (Gesamt-)Wohlfahrt meint im ökonomischen Sinne eine Ressourcenverteilung zwischen den einzelnen Individuen einer Gesellschaft, welche von diesen als bestmöglich beurteilt wird (effiziente Ressourcenallokation).
  • 10
    Meint die Kosten für entgangene Erträge oder Nutzen einer nicht realisierten Handlungsalternative um die realisierte Gütereinheit zu erlangen.
  • 11
    Vgl. Krugman, Obstfeld und Melitz 2012, S. 297ff.
  • 12
    Vgl. Weiss 1999, S. 203-205.
  • 13
    Vgl. Hall und Jones 1999, S. 113f. sowie Acemoglu, Johnson und Robinson 2001, S. 1395 und Sachs 2001, S. 28f.
  • 14
    Skaleneffekte bezeichnen die bei einer Ausweitung der Produktion entstehenden Kostenreduktionen.
  • 15
    Verbundeffekte meinen die Kosteneinsparungen, welche bei der gemeinschaftlichen Produktion von mehreren Produkten entstehen.
  • 16
    Vgl. Weiss 1999, S. 203-205.
  • 17
    Vgl. Coe und Helpman 1995, S. 875f. sowie Weiss 1999, S. 203-205 und Lee 2006, S. 2086f.
  • 18
    Vgl. Bernhofen und Brown 2005, S. 221f.
  • 19
    Vgl. Stiglitz und Charlton 2005, S. 12.
  • 20
    Vgl. Sautter und Volf 1992, S. 68 sowie Liebig und Sautter 2000, S. 114.
  • 21
    Vgl. Hägglund 1984, S. 440-443 sowie Neschke 2013.
  • 22
    Vgl. Hägglund 1984, S. 440f.
  • 23
    Vgl. ebd., S. 441-443 sowie Sautter und Volf 1992, S. 68.
  • 24
    Vgl. Rawls 1975, S. 81 sowie Sautter und Volf 1992, S. 68 und Rawls 2006, S. 78.
  • 25
    Vgl. Faix 2010, S. 78-81.
  • 26
    Vgl. Hägglund 1984, S. 441.
  • 27
    Vgl. Brown, Driver und Briggs 2000, S. 842 sowie Holladay und Köhler 2000, S. 303 und Gesenius und Tregelles 2003, S. 703.
  • 28
    Vgl. Ross 2000, S. 356.
  • 29
    Vgl. Meinhold 1988, S. 280f. sowie Faix 2010, S. 79-81 und Cardellini 2013.
  • 30
    Vgl. Newman 1993, S. 46 sowie Louw und Nida 1996, S. 451 und Liddell 1996, S. 202.
  • 31
    Vgl. Hägglund 1984, S. 441.
  • 32
    Vgl. Huber 1991, S. 450 sowie Winter 1991, S. 448.
  • 33
    Vgl. Brown, Driver und Briggs 2000, S. 969 sowie Holladay und Köhler 2000, S. 295 und Gesenius und Tregelles 2003, S. 513.
  • 34
    Vgl. Brown, Driver und Briggs 2000, S. 821 sowie Holladay und Köhler 2000, S. 217 und Gesenius und Tregelles 2003, S. 684f.
  • 35
    Vgl. Newman 1993, S. 117 sowie Louw und Nida 1996, S. 576 und Liddell 1996, S. 515
  • 36
    Vgl. Huber 1991, S. 449f.
  • 37
    Demnach sind auch Argumente der Bekämpfung von Spekulationen nicht haltbar, da die Weltmarktpreise weiterhin Grundlage der „fairen“ Preise bilden. Siehe zur genauen Darstellung Liebig und Sautter 2000, S. 129-131.
  • 38
    Vgl. ebd., S. 452f. sowie Liebig und Sautter 2000, S. 120-125.
  • 39
    Vgl. Liebig und Sautter 2000, S. 120-125.
  • 40
    Vgl. Lachmann 1986, S. 32-40 sowie Liebig und Sautter 2000, S. 120-125 und Sidwell 2008, S. 28f.
  • 41
    Dies meint einen Anstieg der Angebotsmenge über die nachgefragte Menge hinaus.
  • 42
    Vgl. Lachmann 1986, S. 34f.
  • 43
    Vgl. Liebig und Sautter 2000, S. 147f.
  • 44
    Vgl. Lachmann 1986, S. 32-37.
  • 45
    Vgl. Sidwell 2008, S. 13-15.
  • 46
    Vgl. Liebig und Sautter 2000, S. 125-129.
  • 47
    Vgl. ebd.,S. 129-131.
  • 48
    Vgl. ebd.,S. 132f.
  • 49
    Vgl. Sidwell 2008, S. 12 sowie Mohan 2010, S. 107.
  • 50
    Vgl. Sidwell 2008, S. 11 und 28f. sowie Mohan 2010, S. 53-57 und 107.
  • 51
    Vgl. World Fair Trade Organization (WFTO) and Fairtrade Labelling Organizations (FLO) 2009, S. 5.
  • 52
    Vgl. Stiglitz und Charlton 2005, S. 12 sowie Sidwell 2008, S. 28f.

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