0:00 0:00
Bio- & MedizinethikAbtreibungGewalt von Abtreibungsgegnern?

Gewalt gegen Abtreibungskliniken – ein evangelikales oder konservativ-katholisches Problem?

Oder: Wie man sich eine sachliche Diskussion ersparen kann, indem man seine Gegner verleumdet und mit Verbrechern in einen Topf wirft

Aktualisierung im August 2009:1Der nachfolgende Artikel ist eine Veröffentlichung des Internationales Instituts für Religionsfreiheit der Weltweiten Evangelischen Allianz und des Instituts für Lebens- und Familienwissenschaften des Treffs christlicher Lebensrechts-Gruppen e. V.

Nach einem Jahrzehnt Ruhe ist in den USA wieder ein Abtreibungsarzt erschossen worden. Scott Roeder erschoss den vielleicht bekanntesten Abtreibungsarzt Dr. Georg Tiller in Wichita (Kansas) vor seiner Kirchengemeinde.

Was ändert der neue Fall an meinem Gutachten, dass ich 2008 verfasst habe?

Auch wenn mir bisher nur die Medienberichterstattung aus den USA vorliegt und die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft noch nicht abgeschlossen sind, kann man vorläufig Folgendes feststellen.

1. Wenn nach einem Jahrzehnt wieder ein Mord geschieht, bedeutet das weiterhin, dass Millionen von Evangelikalen und Katholiken in den USA und Hunderte Millionen Evangelikale und Hunderte Millionen Katholiken weltweit, die Abtreibung ablehnen, völlig friedlich ihre Sicht vertreten! 51% der Amerikaner sind nach der neusten Umfrage Gegner der Abtreibung. 120 Millionen sind es friedlich, einer nicht, Grund genug, für die Presse, alle in einen Sich zu 'hauen'.

2. Eine Zuordnung des Täters Scott P. Roeder zum evangelikalen oder katholischen Bereich wird von keinem Fachmann vorgenommen. Bisher konnte noch nicht einmal – genauso wie bei den Tätern der 1990er Jahre – überhaupt eine Verbindung zu den großen Antiabtreibungsorganisationen hergestellt werden. Wenn der Atheistenblog http://blasphemieblog.wordpress.com schreibt: „Mordanschlag: bibeltreuer Christ erschießt Abtreibungsarzt“, dann ist das reine Verleumdung.

Dass der Täter wohl einen Eintrag auf der Webseite von ‚Operation Rescue‘ hinterlassen hat, woraus auch etwa die Neue Zürcher Zeitung und die Süddeutsche Zeitung durch die Hintertür die erwünschte Verbindung herstellen wollen, besagt zunächst ja nichts, da heute jeder in jedem offenen Blog mitschreiben kann. Operation Rescue lässt alle Mitarbeiter eine Gewaltverzichtserklärung unterschreiben, hat den Eintrag gelöscht und den Mord an Tiller aufs Schärfste verurteilt.

3. Nach allem, was man sagen kann, gehört der Täter wie frühere Täter vom Ku-Klux-Clan der rechtsradikalen Szene an und ist früher schon von einem Gericht nach einer 16-monatigen Haftstrafe als geisteskrank eingestuft worden („Symptome der Schizophrenie“). Seine von ihm geschiedene Frau bestätigt beides. Roeder gehörte Mitte der 1990er Jahre der sogenannten ‚Freeman‘-Bewegung an, die anstelle des Obersten Gerichts der USA einen eigenen Obersten Gerichtshof einrichtete und Regierung und Gesetze der USA bekämpfte. Roeder, so die Tageszeitung Die Welt, „gehörte in seinem paranoiden Leben so ziemlich jeder Bürgerwehr an, die Amerika zu bieten hat“.

Das Opfer Georg Tiller ist übrigens – ohne damit den Mord irgendwie beschönigen zu wollen – wie seine Gegner ein typisches Beispiel dafür, wie viel aggressiver und kulturkampfartiger solche Debatten in den USA ausgetragen werden, hat er doch ebenso wie seine Gegner das Fernsehen nicht nur zur Werbung für seine Spätabtreibungsklinik genutzt, sondern auch zu angriffigen Plädoyers für die Spätabtreibungen. Er war, wie die Tageszeitung Die Welt schreibt, „starrsinnig wie seine Feinde“.

Man sollte auch nicht verschweigen, dass gegen Tiller Verfahren zur Aberkennung der medizinischen Lizenz liefen und er deswegen unter strenger staatlicher Aufsicht des Staates Kansas arbeitete. Man mag kritisieren, dass er von Prozessen überzogen wurde, aber das ist in Amerika bei allem und jedem so. Tiller war landesweit wegen seiner Konzentration auf Spätabtreibungen auch bei vielen prinzipiellen Abtreibungsbefürwortern umstritten. Er war einer von drei Ärzten in den USA, die Abtreibungen bis zur Geburt durchführten. Deswegen fand sich für die von ihm geleitete Klinik auch kein Nachfolger, weswegen sie nach seinem Tod geschlossen wurde (http://articles.la- times.com/2009/jun/10/nation/na-tiller10 (leider nicht mehr online verfügbar)).

Zu meinem Gutachten sei noch ein Zitat des völlig unverdächtigen Kritikers der Evangelikalen, dem Münchner Professor für Nordamerikanische Kulturgeschichte Michael Hochgeschwender, angeführt:

„Allerdings wird man sich davor hüten müssen, den Anteil von Gewalttätern innerhalb der neofundamentalistischen Szene zu hoch anzusetzen. Auf dem absoluten Höhepunkte der Bombenattentate im Jahre 1994 starben vier Menschen, insgesamt kamen in den neunziger Jahren sieben Menschen bei Angriffen auf Abtreibungskliniken ums Leben. Verglichen mit dem allgemeinen Gewaltniveau der amerikanischen Gesellschaft oder selbst verglichen mit dem Gewaltpotential der extremen Rechten in den USA fielen die Neofundamentalisten kaum aus dem Rahmen. Darüber hinaus waren die meisten Täter pathologische Persönlichkeiten. Darin wichen sie von ihrem Sympathisantenumfeld nicht ab. Die absolute Mehrheit der Neofundamentalisten, mehr als 95 Prozent, verhielt sich demgegenüber bei aller verbaler Militanz systemkonform und griff, trotz der Tradition der extralegalen Volksgewalt in den USA, nicht auf terroristische Gewalt zurück. Religiöser Fanatismus allein führte gerade nicht notwendig in den Terrorismus. Prägnanter formuliert: Es gab gewalttätige Fundamentalisten, aber keinen gewalttätigen Fundamentalismus.“

Michael Hochgeschwender. Amerikanische Religion: Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus. Frankfurt: Verlag der Weltreligionen, 2007. S. 199

1. Evangelikale und christliche Selbstkritik

Aufgabe des Internationalen Instituts für Religionsfreiheit der Weltweiten Evangelischen Allianz ist es nicht nur, Verfolgung von Evangelikalen durch andere oder allgemein Verletzung von Religionsfreiheit zu dokumentieren, sondern auch selbstkritisch Buch darüber zu führen, wo und ob evangelikalerseits die Religionsfreiheit und die Menschenrechte anderer nicht respektiert wurden oder werden. Deswegen beteiligt sich das Institut auch federführend an der Erstellung eines Ethikkodexes zusammen mit Weltkirchenrat und Vatikan, um ethisch verwerfliche Methoden der Mission oder der Bekämpfung Andersdenkender in den eigenen Reihen und bei anderen be- und verurteilen, angehen, aber auch für die Forschung erfassen zu können.

In diesem Zusammenhang haben wir uns eingehend mit den Fällen beschäftigt, in denen – vermeintlich oder tatsächlich – evangelikale Christen Mitarbeiter von Abtreibungskliniken angegriffen oder gar getötet oder die Kliniken beschädigt haben, zumal dies immer wieder von Medien schlagwortartig als Argument gegen den evangelikalen Glauben angeführt wird und dies leider nicht nur von Atheisten, sondern auch von nichtevangelikalen Kirchenführern, die dies als vernichtendes Argument gegen ihre theologische Gegner verwenden.

Dabei geht es uns nicht vorrangig darum, ob die Täter Evangelikale waren, denn Evangelikale gehen davon aus, dass auch Christen und auch evangelikale Christen nach biblischem Zeugnis Sünder sind und böse Taten begehen können, wobei diese Christen dann sogar nach der eindeutigen Aussage von Paulus vom Staat als ‚Diener Gottes‘ bestraft werden sollten (Röm 13,4). Deswegen wird auch ein gewisser Prozentsatz der Evangelikalen an Verbrechen der verschiedensten Art beteiligt sein. Das ist sicher übel, aber Realität, sagt für sich aber noch nichts darüber aus, wie Evangelikale und evangelikale Kirchen und Institutionen zu solchen Taten stehen. Angesichts der enormen Bandbreite innerhalb der 420 Mio. Evangelikalen könnte es ja ohne weiteres sein, dass Splittergruppen oder Einzeltäter zu Gewalt aufrufen oder sie praktizieren, ohne das man dies ohne weiteres der evangelikalen Bewegung als solcher zuordnen könnte. Es wird ja auch nicht jede Tat eines Katholiken dem Vatikan zugeschrieben, wenn sie gegen dessen Willen geschieht – jedenfalls hoffentlich nicht.

Entscheidend ist für uns deswegen eher die Frage, ob die Verbrechen eines Evangelikalen von irgendwelchen evangelikalen Organisationen oder Kirchen gefordert, gefördert oder gut geheißen wurden.

2. Friedlicher Protest

Drei Dinge seien vorneweg gesagt:

  1. Ich halte Abtreibung für die Tötung eines unschuldigen Menschen und die massenhafte Abtreibung weltweit ebenso wie in Deutschland – allein schon aufgrund der Zahl beendeter Leben – für das größte Menschenrechtsproblem der Gegenwart. Die meisten Christen haben sich viel zu sehr daran gewöhnt und vielleicht werden uns einmal unsere Enkel fragen, wie wir angesichts dieser Katastrophe nur so angepasst in unserer Gesellschaft leben konnten, statt täglich friedlich auf das Problem hinzuweisen und unsere Meinungs- und Pressefreiheit zu nutzen, um die Gewissen der Menschen aufzurütteln.
  2. So sehr evangelikale (und viele andere) Christen unter den täglichen Abtreibungen in Deutschland leiden, die sie als unsägliche Gewalt gegen Unschuldige empfinden, dürfen und wollen sie das Recht doch nicht selbst in die Hand nehmen und Gewalt gegen die Beteiligten verüben. Zum Glück haben das ungezählte christliche (auch evangelikale) Lebensrechtsorganisationen, Kirchen und nationale Zusammenschlüsse immer wieder durch offizielle Erklärungen beteuert. Jedes friedliche und legale Mittel sollte genutzt werden, um das Problembewusstsein am Leben zu erhalten. Und Christen sollten dafür beten, dass unser Volk wieder das Leben und die Kinder stärker lieben und eine dementsprechende Regierung und Gesetzgebung bekommt. Zudem sollten sie immer und immer wieder verkündigen, dass Gott jedem Menschen vergibt, ganz gleich, was er getan hat, wenn er sich in Buße und Umkehr auf das Opfer Jesu Christi beruft. Aber wie gesagt: Gewalt gegen Menschen und Sachen ist kein gottgewolltes Mittel zur Veränderung unserer Gesellschaft und Gewalt gegen Geborene ist kein Mittel gegen die Gewalt an Ungeborenen.
  3. Ich bin erstaunt (und erfreut!), dass der Protest gegen diese als schreiendes Unrecht empfundene Tötung von Millionen ungeborene Kinder durch hunderte Millionen Evangelikale weltweit – und durch eine sicher ähnliche hohe Zahl unter den Katholiken – so friedlich verläuft! Das wäre einmal ein öffentliches Lob wert! Wenn 420 Millionen evangelikale Menschen und hunderte Millionen überzeugter Katholiken eine heimliche Gewaltneigung zu diesem oder anderen Themen hätten, würden wir täglich davon in den Nachrichten hören! Ich leide wie viele evangelikale Führer an manchem Missstand in der evangelikalen Bewegung oder manchen merkwürdigen Flügeln und Rändern, die ja bei einer so enorm weitgespannten von niemandem zentral geführten Bewegung unvermeidlich ist. Aber massenhafte Gewalt seitens Evangelikaler anderen gegenüber gehört zum Glück nicht zu den alltäglichen Meldungen, sonst würden sich die Medien darauf stürzen.
  4. Man darf aber auch friedlichen Protest und gegebenenfalls sogar ‚zivilen Ungehorsam‘, mit dem etwa Martin Luther King Jr. und seine Bewegung den Rassismus erfolgreich bekämpften oder Christen in der DDR mit Friedensgebeten dem Kommunismus erfolgreich entgegen traten, nicht mit gewaltsamem Protest in einen Topf werfen, wenn einem die Ziele einer Bewegung nicht gefallen. Genau dies ist aber in den USA der Fall, wo auch friedliche Demonstrationen sofort in die Statistiken der Gewalt gegen Abtreibungseinrichtungen eingehen.

3. Das Ergebnis in Kürze

Nun aber endlich zu den verwerflichen Vorgängen. Im Rahmen der uns vorliegenden umfangreichen Daten zu den gewaltsamen Übergriffen gegen Abtreibungskliniken kommen wir zusammenfassend in Bezug auf echte Gewalt gegen Abtreibungseinrichtungen zu folgendem Schluss:

  1. Es handelt sich um ein statistisch gesehen sehr seltenes Problem.
  2. Es handelt sich vor allem um ein Problem der Jahre 1991-1998, nicht der Gegenwart.
  3. Es handelt sich um ein US-amerikanisches Problem mit Ausläufern in Kanada, nicht aber um ein internationales Problem.
  4. Es handelt sich um ein Problem von Einzeltätern, die nie Unterstützung irgendeiner Kirche oder größeren religiösen Institution fanden.
  5. Es handelt sich nicht um ein rein christliches Problem, da es in den USA auch viele säkulare und nichtchristliche (z. B. Mormonen, Muslime) Antiabtreibungsorganisationen gibt und viele Täter dem rassistischen Umfeld (zum Beispiel dem Ku-Klux-Klan) zuzuordnen sind.
  6. Es handelt sich bei den religiös motivierten Taten um kein rein evangelikales und kein rein konservativ-katholisches Problem, da der Teil der Täter, der überhaupt Kirchen angehörte, nicht nur evangelikalen Kirchen angehörte, sondern auch anderen evangelischen Kirchen oder der katholischen Kirche.

In den USA ist etwa der katholische Zweig der Lebensrechtsbewegung sehr stark, ohne dass das hier zur billigen Entlastung des evangelikalen Zweiges angeführt werden soll, denn die katholische Kirche oder katholische Lebensrechtsorganisationen sind ebenso wenig in die Gewalt gegen Abtreibungskliniken verwickelt.

4. Das Ergebnis im Detail

Nun zu unserem Ergebnis im Detail:

1. Es handelt sich um ein praktisch ausschließlich US-amerikanisches Problem, mit Ausstrahlungen nach Kanada und einem eventuellen Einzelfall in Australien.

Alle bekannten Morde usw. fanden in den USA statt, in Kanada gab es eine viel kleinere Zahl an Mordversuchen usw., die überwiegend von einem der US-amerikanischen Haupttäter begangen wurden. Alle Brandstiftungen, Bombendrohungen usw. fanden in den USA oder Kanada statt. Aus anderen Ländern sind keine Fälle schwerer Gewalt bekannt oder nur Einzelfälle ohne klare Zuordnung der Motive der Täter und ohne sich über längere Zeiträume zu erstrecken.

Wenn es sich hier um ein Problem evangelikaler (ja selbst engerer ‚fundamentalistischer‘) oder konservativ-katholischer Christen handeln würde, warum finden wir dann keine Bombenanschläge oder Mordversuche bei Abtreibungskliniken weltweit? Warum nicht in Europa, Afrika oder Lateinamerika? Warum nicht in den Ländern mit den größten Gruppen von Evangelikalen wie in China oder Korea oder in katholischen Ländern wie Italien oder Brasilien?

In den USA ist leider fast jede gesellschaftliche Debatte von Gewalt von beiden Seiten begleitet – zumindest an den Rändern. Und viel häufiger als in Europa schwappen Gewaltverbrechen in politische Bereiche herüber. Zudem ist es an der Tagesordnung, dass sich gesellschaftliche Gruppen pausenlos vor Gericht bekämpfen und gegeneinander Material sammeln, zum Beispiel um den Entzug steuerlicher Vergünstigungen oder staatlicher Zuschüsse per Gericht zu erwirken – dies eben auch in der Abtreibungsfrage und dies von beiden Seiten.

Dies gilt übrigens auch für gewalttätige Abtreibungsbefürworter. Die Zahl der gewaltsamen Eingriffe gegen Abtreibungsbefürworter ist ebenfalls nirgends so hoch wie in den USA und auch das ist kein internationales Problem. Die katholische Lebensrechtsorganisation Human Life International (HLI) führt eine entsprechende Liste gewaltsamer Übergriffe gegen Lebensrechtsorganisationen, die zwar nicht immer sehr zuverlässig ist und zudem viele Taten von Abtreibungsbefürwortern listet, die sich nicht gegen Abtreibungsgegner gerichtet haben, sondern zum Beispiel gegen Schwangere, aber dennoch müssten zumindest die offensichtlichen Ereignisse wenigstens in die Diskussion einbezogen werden. So ist es in den USA auch üblich, Prolife-Demonstrationen gewaltsam zu stören (Filme unter prolife215.blogspot.com/2006/11/pro-abortion-violence-some-graphic.html), was in anderen Ländern kaum bekannt ist.

Die Gewalttaten von Abtreibungsbefürwortern an Abtreibungsgegnern stammen übrigens ebenso aus der Hochzeit der entgegengesetzten Gewalt 1993-1998, seit in einem ersten Fall 1993 der Prolifeaktivist und Radiomoderator Pastor Jerry Simon in Huntsville, Alabama von einer Abtreibungsbefürworterin durch das Fenster seines Hauses erschossen wurde, wofür die Täterin aus dem satanistischen Umfeld zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde (New American vom 15.1.2000). (Die oft angeführten späteren Fälle sind allerdings schwer zu recherchieren, weil sie kaum öffentliche Beachtung fanden, zum Teil ist der Bezug zur Abtreibungsfrage auch schwer nachzuvollziehen.)

Die allgemeine Mordrate liegt in den USA etwa sechsmal höher als in Deutschland. Es gibt in den USA 35 Morde durch Schusswaffen pro Jahr auf 1 Mio. Einwohner, bei uns 2,5 (und z. B. nur 0,5 in Großbritannien). Am direktesten betroffen von Gewalt gegen Abtreibungseinrichtungen ist Kalifornien, das eine noch wesentlich höhere Mordrate hat als der Durchschnitt der USA. Zudem besitzen 41% der Haushalte in den USA wenigstens eine Schusswaffe und es ist kein Zufall, dass praktisch alle Morde und Mordversuche mit Schusswaffen erfolgt sind.

Das ist schrecklich und eine große Herausforderung auch für Amerikas Christen, aber daraus eine Gefahr ‚fundamentalistischer‘ Christen weltweit zu machen, ist eine Beleidigung Hunderter Millionen friedlich lebender Christen.

Im übrigen fällt auf, dass sich angesichts der verbreiteten Gewalt in den USA niemand die Mühe macht, zu überprüfen, ob Gewalt gegen Abtreibungskliniken überdurchschnittlich oder unterdurchschnittlich häufig vorkommt, insbesondere angesichts der Tatsache, dass viele Täter von geringerer Gewalt wie Drohanrufe ja nicht bekannt sind und deswegen keinem Umfeld zugeordnet werden können.

2. Selbst nach den Statistiken der National Abortion Federation (NAF) und der Feminist Majority Foundation (FMF) handelt es sich bei brutaler Gewalt vor allem um ein Phänomen vergangener Tage.

Alle 7 Morde, die von 6 verschiedenen Mördern begangen wurden, fanden ebenso wie die bekannten Mordversuche 1993 bis 1998 statt. Vier Täter wurden zu lebenslänglicher Haft verurteilt, ein Täter wurde 2003 hingerichtet, einer beging Selbstmord. Daraus eine zunehmende Gefährdung abzuleiten, geht völlig an den Tatsachen vorbei.

Man überlege einmal, die letzten Morde der PKK in der Türkei oder von Al-Kaida lägen 10 Jahre zurück, schon jetzt würde von etlichen der inzwischen friedliche Charakter der Bewegungen betont, den man doch honorieren müsse. Evangelikale und konservative Katholiken müssen sich aber vereinzelte und von ihnen verabscheute Gewalttaten nach zehn Jahren zuordnen lassen, als kämen sie noch heute täglich vor.

(In Australien gab es einen ersten und einzigen Fall der Ermordung eines Wachmannes einer Abtreibungsklinik im Jahr 2001, aber aus welchen Motiven der bewaffnete Täter den Wachmann niederschoss, ist unklar. Dies ist meines Wissens der einzige Mord dieser Art außerhalb der USA.)

Auch wenn es noch genügend Fälle von Hass-Emails, oder Schmierereien oder verbotenem Betreten einer Klinik gibt, die alle moralisch zu verwerfen sind, ist doch leicht zu erkennen, dass Morde oder Bombenanschläge ein Problem der 80er und 90er Jahre waren. So listet die NAF etwa für 2000-2007 keine Verhaftungen bei Klinikblockaden mehr auf, nennt aber trotzdem die Gesamtzahl 37.715 (inklusive Mehrfachverhaftungen derselben Personen) aus Zeiten, als die Gesetzeslage noch unklar war, wobei der größte Teil aus der Zeit von vor 1991 stammt. Eine neues, Klarheit schaffendes und strengeres Gesetz (‚The Freedom of Access to Clinic Entrances Act‘) von 1994 zeigte Wirkung. Bis dahin war es in den USA rechtlich unklar, wie weit Demonstranten vor Kliniken gehen konnten. Im übrigen wird nicht darauf hingewiesen, dass die Demonstranten praktisch alle wieder auf freien Fuß gesetzt wurden. Warum wird auch das nie erwähnt?

3. Die statistischen Tabellen zur Gewalt gegen Abtreibungseinrichtungen in den USA sind mit Vorsicht zu genießen, da sie nicht von einer halbwegs neutralen Instanz stammen.

Alle vorliegenden Tabellen und Statistiken entstammen nicht von neutralen Instanzen, etwa aus Polizeistatistiken oder wissenschaftlichen Untersuchungen, sondern fußen auf denselben Quellen zweier großer Pro-Abtreibungsverbände in den USA, der ‚National Abortion Federation‘ (NAF) und der ‚Feminist Majority Foundation‘ (FMF), die aus der Auswertung von rückgesendeten Fragebögen von Abtreibungskliniken beruhen, die weder überprüft werden, noch alle Kliniken umfassen. Überprüfbar (und zuverlässig) sind die dortigen Angaben meist nur dann, wenn die Täter rechtskräftig verurteilt wurden.

Außerdem erfassen die Tabellen alle Akte gegen Abtreibungskliniken und deren Personal, die diese als unangenehm empfanden. So wird jede Demonstration als Gewalt gegen Abtreibungskliniken erfasst, also auch das Verteilen von Broschüren außerhalb der Bannmeilen um die Kliniken. Auch ob es sich bei tatsächlich angewendeter Gewalt um normale Einbruchsfälle, Amokläufer, um Rache übende männliche Partner, Konkurrenten oder wirklich um Abtreibungsgegner handelte, wird nicht erfasst, das heißt auch, das nicht erfasst wird, ob die Täter überhaupt Abtreibungsgegner waren und es auf Abtreibungskliniken abgesehen hatten.

So betrat etwa ein Mann im September 1999 in Michigan eine Klinik, um einen Abtreibungsarzt zu töten und wurde von dem Sicherheitspersonal überwältigt. Er selbst gab an, dass er Rache üben wollte, weil der Arzt das Kind seiner Freundin abgetrieben habe. Eine Verbindung zu Abtreibungsgegnern wurde nie gefunden. Dennoch wird diese Tat überall unter den Untaten der Abtreibungsgegner geführt.

Die Zählungen sind zum Teil selbst dann irreführend, wenn die Zahlen stimmen. So schickte zum Beispiel Clayton Waagner 2001 555 Briefe mit vermeintlichem Antrax an 250 Kliniken. Diese eine Tat erscheint in der Statistik als 250 Taten, da sie bei jeder Klinik einzeln erfasst wird. Auch geht sie in die Gesamtzahl der Kliniken ein, die Gewalt erlebt haben, womit bereits ein Drittel aller Abtreibungskliniken 2001 Gewalt erlebt hatten. So wird künstlich ein scheußliches, aber kleines Verbrechen eines Einzeltäters aus politischen Gründen zu einer großen Gefahr hochgerechnet. Man geht davon aus, dass die praktisch zum Erliegen gekommene Aktion der vermeintlichen Anthrax-Briefe mit harmlosem weißen Pulver, vorwiegend offensichtliche Nachahmungstaten im Jahr 2001, von einer sehr kleinen Zahl von Tätern verschickt wurden. Im übrigen sei auch hier daran erinnert: Die vorgetäuschten Anthraxbriefe sind ein verbreitetes Problem der USA, aber kein internationales Problem.

Wenn man sich als Beispiel den neuesten Bericht der ‚Feminist Majority Foundation‘ („2005 National Clinic Violence Survey“, feminist.org/research/cvsurveys/clinic_survey2005.pdf) vom Mai 2006 anschaut, so beginnt er damit, dass 2005 18,4% der Kliniken Gewalt gegen sie gemeldet hätten (1994 waren es noch 52%). Dabei werden Demonstrationen vor den Kliniken und drastische Äußerungen auf Flugblättern etc. mitgezählt. Von 739 Kliniken hatten 337 den Fragebogen zurückgeschickt. Ob die restlichen Kliniken nicht geantwortet haben könnten, weil sie von keiner Gewalt zu berichten haben, wird noch nicht einmal diskutiert. 18,4% wären also 62 Kliniken. Merkwürdigerweise haben aber nur 13 Kliniken Anzeige erstattet oder Rechtsmittel eingelegt, darunter am häufigsten die Bitte, eine Bannmeile gegen Demonstranten einzurichten, was keine Gewalt der Demonstranten als Begründung voraussetzt. 2 Kliniken erwarben einstweilige Verfügungen, 3 Kliniken forderten kleineren finanziellen Schadensersatz, 2 erhielten dabei Recht eine nicht. Und dass, obwohl 75%-80% der Kliniken angeben, gute Kontakte zu den verschiedenen Strafverfolgungsbehörden zu haben und dort Unterstützung zu finden und nur 4%-7% in diesem Bereich Beschwerden vorzubringen haben.

Das heißt doch im Klartext: Keine Klinik erstattete 2005 Anzeige, dass irgendjemand verletzt worden sei. Keine Klinik erstattete Anzeige oder Klage wegen eines größeren Sachschadens. 2 Kliniken erhielten einen kleineren Sachschaden ersetzt. Und zwischen der enormen Zahl an Gewaltakten, die ungeprüft im Fragebogen angegeben werden, und den Gewaltakten, die eindeutig genug waren, um die wohlwollende Polizei einzuschalten, klafft eine große Lücke.

Außerdem sei noch einmal darauf hingewiesen: Wollte man wirklich ernsthaft statistisch arbeiten, müsste man korrekterweise daneben stellen, wieviele entsprechende Gewaltakte Kliniken aller Art im Durchschnitt in den USA erleben.

4. Es handelt sich ausschließlich um Einzeltäter unterschiedlicher Richtungen.

Die ‚Ontario Consultants on Religious Tolerance‘ kommen aufgrund ihrer Untersuchung zu dem richtigen Schluss: „Damals wie heute geht die meiste Gewalt auf religiös motivierte Kriminelle zurück, die allein handeln.“ Auch die Abtreibungsbefürworter geben an, dass alle Organisationen, die Gewalt gegen Abtreibungseinrichtungen befürworten, Einmannorganisationen oder winzige Gruppen sind. Auch das Justizministerium der USA hat die Sache untersucht und konnte nirgends hinter den Einzeltätern steuernde Gruppen finden.

Es gibt eine Auflistung von etwa einem Dutzend Webseiten, auf denen solche Gewalt für zulässig gehalten wird, aber hinter keiner steht eine greifbare Organisation, geschweige denn eine christliche. Auch für die mit Bibelversen bestückte üble Seite der ‚Army of God‘, die die Täter als Märtyrer verherrlicht, konnte bisher keine Verbindung zu einer christlichen Gruppe oder überhaupt zu einer richtigen Organisation festgestellt werden. Die ‚Army of God‘ gilt allen Bibelversen zum Trotz als rassistische, neonazistische Gruppe (s. dazu unten), wobei die für die weiße Vorherrschaft kämpfenden rechtsradikalen Gruppen wie der Ku Klux Klan gerne die Bibel zitieren, aber trotzdem keine christliche Ausrichtung haben.

Wer die Prozesse wegen Mord oder versuchtem Mord jeden für sich anschaut, kann nur feststellen, dass es bei den Tätern kein gemeinsames Muster in Bezug auf Motivation, religiöse Ausrichtung oder Vorgehensweise gibt. Schon im Fall des Täters des ersten Mordes im März 1993, Michael Griffin, wurde im Prozess die Motivation diskutiert. Man ging davon aus, dass der Täter geistig gestört war, obwohl er trotzdem zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde – in Deutschland wäre sicher anders entschieden worden.

5. Es handelt sich nicht um ein rein ‚christliches‘ Phänomen und innerhalb der Christenheit schon gar nicht um ein rein ‚evangelikales‘ Phänomen.

Mir ist keine Organisation, Literatur oder Webseite unter den Abtreibungsbefürwortern bekannt, die das Problem als rein christliches oder evangelikales oder katholisches Problem sieht. Wenn, dann spricht man allgemeiner von einem ‚religiösen‘ Problem. Das ist angesichts der Schärfe der Debatte in den USA erstaunlich, aber nicht verwunderlich und berechtigt.

Unter den Abtreibungsgegnern in den USA sind alle Religionen und auch nichtreligiöse Gruppen vertreten, so dass man das Problem nicht speziell einer bestimmten Glaubensrichtung zuordnen kann. Während es in Deutschland einen stillschweigenden Konsens der großen gesellschaftlichen Kräfte gibt, dass Thema Abtreibung nicht öffentlich zu diskutieren, ist es in Amerika eine Alltagsdiskussion und ständig in allen Medien präsent. Jeder Bewerber für ein politisches Amt muss sich dazu erklären. Anders als etwa in Deutschland kommt dabei der gewaltlose Protest gegen die Freigabe der Abtreibung aus allen gesellschaftlichen Lagern und Parteien, von rechts nach links, von oben nach unten, aus allen Religionen, aus allen christlichen Konfessionen und von nichtreligiösen Menschen. Millionen protestieren dabei friedlich und legal gegen Abtreibung, bei allen kommt es gelegentlich vor, dass gegen ihren erklärten Willen mit ihnen irgendwie in Verbindung stehende Menschen illegale Handlungen begehen oder Gewalt anwenden.

Natürlich gibt es Vorfälle, die deutlich dem christlichen Bereich zuzuordnen sind. Der Pastor einer unabhängigen lutherischen Gemeinde, Michael Bray, forderte in den 1980er Jahre in seinem Buch ‚A Time to Kill‘ zu Gewalt zur Verhinderung von Abtreibungen auf und legte mehrere Bomben in Abtreibungskliniken, bevor er verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt wurde. Randall Terry, der Begründer und erste Leiter (1986-1989) von Operation Rescue, wollte ebenso in den 1980er Jahren zwar keine solche direkte Gewalt anwenden, ließ aber Kliniken durch Menschenmassen blockieren und zivilen Ungehorsam praktizieren. Im Laufe der Jahre wurden dabei schätzungsweise 50.000 Demonstranten verhaftet, allerdings alle auch wieder freigelassen und keiner wegen Gewalt angezeigt. Der erste Mord an einem Abtreibungsklinikmitarbeiter vom März 1993, als Michael F. Giffin Dr. David Gunn in Pensacola, Florida erschoss, geschah während einer Demonstration dieser Organisation ‚Operation Rescue‘ (mit breiter evangelikaler und breiter katholischer Unterstützung, etwa durch Bischof Austin Vaughn), obwohl man gerade das Verhältnis zur Gewalt geklärt hatte. Seitdem lässt man alle Demonstranten eine Gewaltverzichtserklärung unterschreiben. Paul Hill, der im Juli 1994 einen Arzt und seinen Leibwächter vor einer Abtreibungsklinik erschoss, war früher presbyterianischer Pastor und dürfte sich selbst wohl als evangelikal bezeichnen. Im Oktober 2000 fuhr ein katholischer Priester seinen Wagen in die ‚Northern Illinois Health Clinic‘ und zog eine Axt, wurde aber von einem Wachmann erschossen.

Das alles soll also nicht beschönigt werden, nur dass es repräsentativ und ein heutiges Problem wäre, ist nicht zu erkennen.

Daneben gibt es aber auch andere Morde, die dem Rechtsradikalismus zuzuordnen sind.

Der Bombenbauer und -leger David Hull, der auch Abtreibungskliniken bedrohte, wurde 2004 deswegen verurteilt. Er gehörte Ku Klux Klan und wandte sich nur gegen Abtreibungen an weißen Frauen.

Im Januar 1998 zündete Eric Rudolph eine Bombe in einer Klinik in Birmingham, Alabama, und tötete dabei einen Wachmann. Eric Rudolph ist bekannter durch sein Bombenattentat auf den Olympiapark in Atlanta 1996, den ja auch niemand der evangelikalen Bewegung oder einer bestimmten Kirche zuordnet. Er ist weißer Rassist („white-supremacist racist“) und Antisemit (siehe im Detail www.cnn.com/2003/US/05/31/rudolph.profile/index.html). Er wurde 2003 gefasst und zu lebenslanger Haft verurteilt.

Stephen Jordi, der vermeintliche Giftanschläge auf Abtreibungskliniken durchführte, gehört ebenfalls zur ‚Army of God‘, die überhaupt für den größten Teil der Angriffe auf Kliniken verantwortlich sein dürfte. Die offizielle Terrordatenbank der USA zählt die ‚Army of God‘ zu den rechtsradikalen, rassistischen Gruppen (www.tkb.org/Group.jsp?groupID=28 (leider nicht mehr online verfügbar).

Daneben sind Fälle zu nennen, in denen die Morde gar keinem Lager zugeordnet werden können, von den nicht aufgeklärten Fällen einmal gar nicht zu sprechen.

Im Dezember 1994 schoss der eindeutig geisteskranke Friseur John Salvi aus unbekannten Gründen wild in eine Abtreibungsklinik in Brookline, Massachusetts, und tötete zwei Empfangsdamen. Nach der Verhaftung erhängte er sich im Gefängnis. Dem christlichen Bereich wurde er nur zugeordnet, weil er Broschüren der katholischen Organisation HLI hatte, er selbst gab keine christliche Begründung an.

Am 23.10.1998 erschoss ein unbekannter Heckenschütze Barnett Slepian in seiner Wohnung in Buffalo, New York. Ob das Attentat überhaupt mit seiner Tätigkeit in einer Abtreibungsklinik zu tun hatte, muss offen bleiben.

6. Keine Kirche, ob ‚evangelikal‘, ‚fundamentalistisch‘ oder sonst einer Konfession zugehörig, und keine der großen christlichen Lebensrechtsorganisationen hat es jemals gut geheißen, Gewalt gegen Abtreibungsärzte oder -kliniken anzuwenden oder sich hinter einen der Täter gestellt.

Keine Pro-Abtreibungsorganisation erhebt gegen irgendeine Kirche den Vorwurf, dass die Gewalttäter mit ihrer Billigung oder Unterstützung handelten. Da man dort Listen aller Webseiten und Organisationen führt, die jemals Gewalt gegen Abtreibungskliniken befürwortet haben, wäre so etwas längst ans Licht gekommen.

Alle führenden Lebensrechtsorganisationen der USA, christliche wie nichtchristliche, haben sich gegen den Einsatz von Gewalt ausgesprochen, etwa in der ‚Pro-life Proclamation Against Violence‘ von 1999 (erneuert 2006). Die Lebensrechtsorganisationen haben immer wieder Summen bis zu 50.000 $ für die Ergreifung der Täter augesetzt – und gezahlt.

5. Hört auf, Evangelikale und konservative Katholiken zu verleumden!

Wer theologisch anders denkt als die Evangelikalen oder als konservative Katholiken, möge das doch bitte deutlich sagen und sachlich seine Gründe dafür benennen, aber nicht den billigen Weg wählen, sich die Diskussion zu ersparen, indem er den verbreiteten Antiamerikanismus instrumentalisiert oder sie als ‚Fundamentalisten‘ in die Nähe von gewaltbereiten Islamisten rückt, um aus der instinktiven emotionalen Ablehnung islamistischer Gewalt Kapital für sich zu schlagen.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein erheblicher Teil der russlanddeutschen Freikirchen in Deutschland mit ihren ca. 300.000 Mitgliedern sind ‚fundamentalistisch‘ und sicher in vielem aus Sicht anderer, auch evangelikaler und katholischer Christen in Deutschland sehr ‚streng‘. Aber geht von ihnen eine Gewaltgefahr aus? Ist denn ein konkreter Fall bekannt, in dem sie Gewalt gegen Andersdenkende geübt hätten? Die Sorge, dass sie Abtreibungskliniken in Brand stecken oder einen Abtreibungsarzt erschießen lassen, wäre doch absurd. Zudem sind die meisten mennonitisch und damit pazifistisch orientiert.

Im ‚Humanistischen Pressedienst‘ schreibt Michael Shermer etwa: „Evangelikale Christen, die so stark an die Heiligkeit des Lebens glauben, dass sie Abtreibungskliniken in die Luft jagen und Ärzte ermorden? Nicht gut.“ (hpd-online.de/node/3125). Ich kenne kein Beispiel, dass jemals von irgendjemandem eine Abtreibungsklinik in die Luft gejagt wurde, damit sicher auch nicht von einem Evangelikalen. (Die wenigen gelungenen Bombenanschläge haben allesamt nur geringen Sachschaden verursacht.) Und bei keinem der drei Abtreibungsärzte, die ermordet wurden, haben die Strafverfolgungsbehörden oder die großen Pro-Abtreibungsorganisationen je den Vorwurf erhoben, dass es sich bei den Tätern um Evangelikale gehandelt hätte oder sie diesem Bereich zugeordnet.

Wenn ein sehr kleiner Prozentsatz der Muslime in vielen Ländern der Erde täglich Mord und Totschlag in aller Welt verbreitet und ein weiterer etwas größerer Prozentsatz dies unterstützt und gutheißt, werden Politiker und Kirchenführer zu Recht nicht müde, davor zu warnen, alle Muslime mit ihnen in einen Topf zu werfen. Und tatsächlich: ich darf meinen muslimischen Nachbarn nicht einfach in Sippenhaft nehmen. Wenn das aber schon angesichts täglich vieler Toter weltweit gilt, können Evangelikale und konservative Katholiken ja wohl erwarten, dass sie nicht wegen einiger weniger, teils ungeklärter Fälle vor zehn Jahren und in einem einzigen Land der Erde weltweit in Sippenhaft genommen werden!

Selbst wenn muslimische Mütter sich freuen, dass ihre Kinder als Selbstmordattentäter zu Märtyrern Allahs geworden sind oder – wie heute berichtet – ein Zehnjähriger im Irak zehn muslimische Scheichs in die Luft sprengt, die Frieden wollen, wird – zu Recht – danach gerufen, zu differenzieren. Warum stellen sich dieselben Medien und Politiker nicht vor die Evangelikalen, wo es doch viel einfacher sein müßte zwischen einem Dutzend möglicher Gewalttäter und 420 Mio. dies ablehende Menschen zu differenzieren?

Prof. Dr. Thomas Schirrmacher

Prof. Dr. Thomas Schirrmacher

Endnoten

  • 1
    Der nachfolgende Artikel ist eine Veröffentlichung des Internationales Instituts für Religionsfreiheit der Weltweiten Evangelischen Allianz und des Instituts für Lebens- und Familienwissenschaften des Treffs christlicher Lebensrechts-Gruppen e. V.