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Bio- & MedizinethikAbtreibungAbtreibung und Impfungen

Der große Streit um den kleinen Stich

Einleitung: Impfen - Ein schwieriges Thema

Impfungen und Impfstoffe werden in Deutschland hitzig diskutiert. Dies ist nicht erst seit Beginn der COVID-19-Pandemie der Fall. Seit Jahrzehnten werden auf Internetseiten, in Büchern und Zeitschriften Beiträge veröffentlicht, die sich mit der Geschichte, der Praxis und den möglichen Risiken von Schutzimpfungen auseinandersetzen. 

Wer sich eine Meinung zu Impfungen und Impfstoffen bilden möchte, steht meistens vor der konkreten Entscheidung: Soll ich mich und / oder meine Familienmitglieder (besonders Kinder) gegen eine bestimmte Krankheit impfen lassen? Es ist herausfordernd, zu einer informierten Entscheidung zu kommen, denn zum einen handelt es sich um ein komplexes Themengebiet, zum anderen ist die Auseinandersetzung mit dieser Thematik emotional stark aufgeladen, weil dabei oft die Sorge um das eigene Wohlergehen und die Gesundheit von Familienangehörigen mitschwingt. Für ein begründetes Urteil müssen individuelle, medizinische und gesellschaftliche Aspekte berücksichtigt und gegeneinander abgewogen werden. 

Dieser Artikel soll eine Orientierungs- und Entscheidungshilfe aus christlicher Perspektive bieten. 

Zunächst beschäftigen wir uns dafür mit der Wirkungsweise von Schutzimpfungen und unterschiedlichen Impfstoffen. Danach befassen wir uns mit häufig vorgebrachten Einwänden gegen Schutzimpfungen. Diese Ausführungen legen die Grundlage für die christlich-theologische Einordnung von Schutzimpfungen.

I. Die Wirkungsweise von Impfstoffen und die Impfpraxis

1.1. Wie funktionieren Schutzimpfungen?

Der Schutzmechanismus von Impfungen beruht auf der Funktionsweise unseres Immunsystems: Wenn Krankheitserreger wie Pilze, Bakterien oder Viren in den Körper eindringen, erkennen Abwehrzellen des Immunsystems die körperfremden Stoffe auf der Oberfläche von Erregern (z. B. Eiweiße) als „Antigene“. Daraufhin werden komplexe Abwehrmechanismen aktiviert. Zeitgleich speichert das Immunsystem entsprechende Informationen über die Krankheitserreger in sogenannten „Gedächtniszellen“ ab, um sie in Zukunft schneller und effektiver abwehren zu können. Beim erneuten Kontakt mit bereits bekämpften Erregern werden mithilfe dieser Informationen spezielle „Antikörper“ gebildet, die auf verschiedenen Wegen zur Elimination der Krankheitserreger führen.1Für den Absatz vgl. Gesundheitsinformation, Wie funktioniert das Immunsystem?, https://www.gesundheitsinformation.de/wie-funktioniert-das-immunsystem.html, abgerufen am 22.05.21. 
Vgl. auch Stiftung Gesundheitswissen, Impfen, https://www.stiftung-gesundheitswissen.de/gesundes-leben/koerper-wissen/wie-funktioniert-impfen, abgerufen am 22.05.21.

Beim Impfen wird dieser Lernprozess des Immunsystems ausgenutzt: Der Impfstoff enthält abgeschwächte („Lebendimpfstoffe“), abgetötete („Totimpfstoffe“) Krankheitserreger oder nur einzelne Bestandteile dieser Erreger, die keine Erkrankung auslösen können. Auf diese reagiert der Körper mit den beschriebenen Abwehrmechanismen, indem Gedächtniszellen und Antikörper gebildet werden. Bei einem erneuten Kontakt kommt es deshalb schneller zu einer Immunreaktion. Der Körper ist vor der Erkrankung durch diese Krankheitserreger geschützt.2Für diesen Absatz vgl. impfen-info, Das Immunsystem, https://www.impfen-info.de/wissenswertes/das-immunsystem.html, abgerufen am 22.05.21. Vgl. Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa), Impfstoffe, https://www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/impfen/impfstoffe, abgerufen am 22.05.21.

Hierbei handelt es sich um das Standardverfahren für Impfungen, das auch als „aktive Immunisierung“ bekannt ist.3Davon ist die „passive Immunisierung“ zu unterscheiden: In Verdachtsfällen von akuten Infektionen werden auch „passive Immunisierungen“ bzw. „Impfungen“ durchgeführt. Diese gewähren sofortigen, aber nur kurz anhaltenden Schutz, indem die Impfdosen nur Antikörper enthalten. Diese schalten die betreffenden Krankheitserreger gezielt aus und verhindern somit eine Erkrankung. Weil das Immunsystem der geimpften Personen jedoch nicht gelernt hat, die benötigten Antikörper selbstständig herzustellen, hält dieser Schutz nur einige Wochen bis Monate an (vgl. Martina Prelog, Schutzimpfung, https://das-immunsystem.de/schutzimpfung/passive-und-aktive-impfung/, abgerufen am 22.05.21). Je nach Art des Impfstoffs reicht eine Grundimmunisierung für einen jahrzehntelangen Schutz aus (z.B. Masern). In anderen Fällen sind in regelmäßigen Abständen Auffrischimpfungen nötig (z.B. Tetanus).4Vgl. Stiftung Gesundheitswissen, Impfen. Bei sich verändernden Krankheitserregern wird ein Impfstoff saisonal auf die jeweilig vorherrschende Variante angepasst. Dazu zählt bspw. auch das Grippe-Virus („Influenza“). Da es sich stark verändert, sollte eine jährliche Impfung mit an den aktuellen Erregerstamm angepassten Impfstoffen erfolgen.5Vgl. ebd. Nach aktuellem Stand der Forschung ist es wahrscheinlich, dass Impfungen gegen SARS-CoV 2 aus denselben Gründen regelmäßig aufgefrischt werden müssen.6Vgl. NDR, Corona-Immunität, https://www.ndr.de/ratgeber/gesundheit/Corona-Immunitaet-Wie-lange-schuetzen-Infektion-und-Impfung,corona7436.html, abgerufen am 22.05.21.

1.2 Verschiedene Arten von Impfstoffen: Lebend-, Tot- und genbasierte Impfstoffe

Allgemein lassen sich drei Gruppen von Impfstoffen voneinander unterscheiden: Lebend-impfstoffe, Totimpfstoffe und genbasierte Impfstoffe. 

a) Lebendimpfstoffe

Lebendimpfstoffe enthalten lebende, vermehrungsfähige Erreger, die jedoch abgeschwächt („attenuiert“) werden, sodass die jeweilige Krankheit bei Immungesunden nicht ausgelöst wird.7Vgl. Stiftung Gesundheitswissen, Impfen. Impfungen gegen Masern, Mumps, Röteln, Varizellen (Windpocken) und Rotaviren sind bekannte Beispiele für Lebendimpfstoffe.8Vgl. Prelog, Arten von Impfungen, https://das-immunsystem.de/schutzimpfung/arten-von-impfungen/, abgerufen am 22.05.21.

b) Totimpfstoffe

Dagegen bestehen Totimpfstoffe aus inaktivierten oder abgetöteten Erregern oder lediglich aus deren Bestandteilen. Diese sind nicht mehr fähig, sich zu vermehren, wodurch eine Infektion unmöglich ist.9Vgl. ebd. 

Dabei lassen sich verschiedene Totimpfstoffe voneinander unterscheiden: „Ganzkeim-Impfstoffe“ enthalten ganzeKrankheitserreger, die zunächst in Zellkulturen künstlich vermehrt und daraufhin mit chemischen und / oder physi-kalischen Methoden inaktiviert werden. Für „Spaltvakzine“ werden Erreger (meistens Viren) gezüchtet und vermehrt, bevor sie durch Chemikalien zerstört werden. Der Vorgang ermöglicht die anschließende Aufbereitung der Antigene sowie Entfernung der pathogenen Nukleinsäuren. Bei „Komponentenimpfstoffen“ und „VLP-Vakzinen“ werden Erregerspezifische Proteine gentechnisch hergestellt und anschließend aufbereitet. Dafür wird das Antigen in das Genom einer Wirtszelle im Labor integriert, die daraufhin diese Moleküle produziert.10Vgl. ebd. Vgl. auch Thomas Winckler, Impfstofftypen, https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2020/07/31/wie-unterscheiden-sich-verschiedene-impfstofftypen/chapter:3, abgerufen am 22.05.21.

c) Genbasierte Impfstoffe (mRNA, DNA und Vektorimpfstoffe)

Genbasierte Impfstoffe wie mRNA-, DNA- und Vektorimpfstoffe beruhen auf demselben Prinzip: Die Herstellung der Antigene, die eine Immunreaktion hervorrufen, wird in den Körper der geimpften Person verlagert.11Vgl. Winckler, Impfstofftypen. 

Bei Vektorimpfstoffen wird die genetische Information, die als Bauplan für verschiedene Antigene dient, in harmlose Vektorviren („Trägerviren“) eingebaut. Diese Trägerviren transportieren die Geninformation in die Körperzelle, in der der Bauplan entsprechend umgesetzt und dadurch eine Immunreaktion ausgelöst wird.12Vgl. Bundesverband für Gesundheitsinformation und Verbraucherschutz (BGV), Impfstoffe, https://www.bgv-impfen.de/impfstoffe.html, abgerufen am 22.05.21. Vgl. Deutsches Grünes Kreuz, Hintergrundwissen, https://dgk.de/fachleute/dgk-fachnewsletter/warten-auf-den-impfstoff/hintergrundwissen-die-verschiedenen-impfstoff-typen.html, abgerufen am 22.05.21.

„mRNA-Impfstoffe“ werden zum ersten Mal für die Immunisierung gegen das Corona-Virus eingesetzt. Durch „Boten-Ribonukleinsäure“ („messenger ribonucleic acid = mRNA“) wird der Bauplan einzelner Virus-Bestandteile, beispielsweise des Spike-Proteins, in menschliche Zellen eingebracht. Dadurch wird die Zelle zur Produktion dieses Virusproteins angeregt, das auf der Oberfläche des Corona-Virus zu finden ist. Das Immunsystem wird aktiviert und somit auf den Kontakt mit dem echten SARS CoV-2 vorbereitet.13Vgl. Stiftung Gesundheitswissen, Impfen. Vgl. auch BGV, Impfstoffe.

Bislang sind noch keine DNA-Impfstoffe zugelassen, jedoch werden momentan einige solcher Vakzine gegen SARS Cov-2 entwickelt.14Vgl. vfa, Impfstoffe. Diese wirken ähnlich wie mRNA-Impfstoffe, enthalten allerdings DNA- anstatt RNA-Informationen, um die Produktion einzelner Virusbestandteile zu bewirken.15Vgl. Winckler, Impfstofftypen. Vgl. Deutsches Grünes Kreuz, Hintergrundwissen. 

Im Rahmen der deutschen Impfkampagne gegen das Corona-Virus werden momentan insbesondere genbasierte Impfstoffe eingesetzt: Zwei mRNA-Impfstoffe der Hersteller Moderna Biotech und BioNTech / Pfizer, sowie zwei Vektorimpfstoffe der Produzenten AstraZeneca und Johnsson & Johnsson.16Vgl. PEI, COVID-19-Impfstoffe, https://www.pei.de/DE/arzneimittel/impfstoffe/covid-19/covid-19-node.html, abgerufen am 22.05.21.

1.3. Wie wird geimpft?

In Deutschland werden Impfungen entweder durch Injektion der Impfstoffe in das Muskelgewebe durchgeführt oder mittels einer Schluckimpfung (z.B. Rotaviren, Cholera und Typhus).17Vgl. Constanze Löffler, Impfvarianten, https://www.barmer.de/gesundheit-verstehen/impfen/impfvarianten-240098, abgerufen am 22.05.21.

Bei Stichimpfungen kommen auch Kombinationsimpfstoffe zum Einsatz: So existieren Zweifachimpfstoffe (bspw. Hepatitis A und Typhus), Dreifachimpfstoffe (bspw. Masern, Mumps, Röteln), Vierfachimpfstoffe (z.B. Masern, Mumps, Röteln und Windpocken) und Sechsfachimpfstoffe (Polio, Diphtherie, Wundstarrkrampf, Keuchhusten, Infektionen mit Haemophilus influenzae Typ B und Hepatitis B).18Vgl. Astrid Clasen, Kombinationsimpfstoffe, https://www.onmeda.de/impfungen/impfstoffe_ueberblick-kombinationsimpfstoffe-4044-8.html, abgerufen am 22.05.21 (leider nicht mehr online verfügbar). Für einen Überblick über alle in Deutschland vermarkteten Kombinationsimpfstoffe vgl. Paul-Ehrlich-Institut (PEI), Kombinations-Impfstoffe, https://www.pei.de/DE/arzneimittel/impfstoffe/kombinationsimpfstoffe/kombinationsimpfstoffe-node.html, abgerufen am 22.05.21.

1.4. Impfungen in Deutschland

Welche Impfungen werden (abgesehen von der aktuellen Corona-Impfkampagne) in Deutschland durchgeführt?19Wir klammern hier die Impfungen gegen SARS CoV-2 aus, weil diese sich täglich ändern. Insgesamt wurden im Jahr 2018 rund 47,7 Mio. Impfdosen verabreicht.20Vgl. vfa, Schutzimpfungen in Deutschland, https://www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/impfen/impfungen-deutschland, zuletzt abgerufen am 22.05.21. Hier werden die von gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen erstatteten Impfdosen zusammengerechnet. Zu den Erkrankungen, gegen die am häufigsten geimpft wurde, zählten die echte Grippe (Influenza, 15,9 Mio. Dosen), Tetanus (9,8 Mio. Dosen) und Keuchhusten (8,5 Mio. Dosen).21Vgl. ebd.

Allerdings hatten im Jahr 2019 nur 80% der zweijährigen Kinder alle 13 Impfungen erhalten, die von der Ständigen Impfkommission (STIKO) empfohlenen werden, um eine Grundimmunität herzustellen.22Vgl. Daniel Grandt / Veronika Lappe u.a., Arzneimittelreport 2019. Impfungen bei Kindern und Jugendlichen, Hg. BARMER, Berlin 2019, 182, abrufbar unter https://www.barmer.de/resource/blob/1027068/b7b2e41d474e012dd5fbfa087f0c0dfb/barmer-arzneimittelreport-2019-band-16-bifg-data.pdf, zuletzt abgerufen am 26.01.23; vgl. Mathias Krisam, Impfquoten in Deutschland einfach und effektiv steigern mit Behavioural Insights, Berlin 2020, S. 5, abrufbar unter https://www.laeuft.eu/wp-content/uploads/2020 /10/Impfen-und-Behavioural-Insights_laeuft _White-Paper.pdf, zuletzt abgerufen am 22.05.21 (leider nicht mehr online verfügbar). Darüber hinaus erhielten 3,3% der zweijährigen Kinder keine einzige der 13 empfohlenen Impfungen.23Vgl. ebd., S. 127.  Bei Erwachsenen und Senioren ist allgemein eine niedrige Impfquote festzustellen, obwohl Impfungen (z. B. gegen Tetanus und Keuchhusten) im Erwachsenenalter aufgefrischt werden müssen.24Vgl. Krisam, Impfquoten in Deutschland, S. 6.

Es gibt zahlreiche Gründe für diese niedrigen Impfquoten: Vergesslichkeit und Bequemlichkeit, fehlendes Wissen über die Notwendigkeit, den Nutzen und eigenen Anspruch auf Impfungen.25Vgl. ebd., S.7. Teilweise hängen die geringen Impfquoten auch mit Zweifeln und Vorbehalten gegenüber Impfungen zusammen. Zwar gelten nur ca. 3 % der deutschen Gesamtbevölkerung als entschiedene Impfgegner.26Vgl. Grandt u.a., Arzneimittelreport, S. 132. Vorbehalte gegenüber Schutzimpfungen scheinen in Deutschland jedoch weitaus verbreiteter zu sein, denn 13,2% der Deutschen halten Impfstoffe generell für unsicher.27European Commission, State of vaccine confidence in the EU 2018, Luxembourg 2018, S. 59, abrufbar unter https://ec.europa.eu/health/sites/ health/files/vaccination/docs/2018_vaccine_confidence_en.pdf, zuletzt abgerufen am 22.05.21.

2. Allgemeine und spezielle Vorbehalte gegen Schutzimpfungen und Impfstoffe

In einschlägigen Internetforen, Büchern und Zeitschriften werden viele Argumente vorgebracht, die sich entweder allgemein gegen die Impfpraxis oder gegen spezifische Impfstoffe richten. Deswegen werden wir uns in diesem Schritt beispielhaft mit einigen Einwänden beschäftigen.

Um uns im „Dschungel“ der vielen Argumente zurechtzufinden, können wir verschiedene Gruppen unterscheiden: (1) grundsätzliche Impfverweigerung, (2) Infragestellung der Notwendigkeit und Nützlichkeit von Impfungen, (3) Vorbehalte gegen gefährliche Zusatzstoffe, (4) Vorbehalte gegen Neben- und Langzeitwirkungen und (5) ethische Einwände gegen den Einsatz bestimmter Impfstoffe.

2.1. Grundsätzliche Impfverweigerung

Manche entschiedene Impfgegner leugnen die Existenz von Krankheitserregern oder bezweifeln, dass Erreger wie Bakterien, Viren und Pilze gefährliche Krankheiten verursachen.28Vgl. impfen-nein-danke, Gibt es krankmachende Viren?, https://impfen-nein-danke.de/gibt-es-viren/, zuletzt abgerufen am 22.05.21. Auch der Schutz durch Impfungen vor Infektionskrankheiten sei überhaupt nicht oder unzureichend belegt.29Vgl. impfen-nein-danke, Keine Wirksamkeit nachgewiesen?, https://impfen-nein-danke.de/keine-wirksamkeit/, zuletzt abgerufen am 22.05.21. Studien zur Wirksamkeit von verschiedenen Impfstoffen seien manipuliert oder gefälscht.30Vgl. Michael Hirte, Impfen – Pro & Contra. Das Handbuch für die individuelle Impfentscheidung, 2012, 3. Auflage München 2018, S. 47f. Außerdem würden Pharmaindustrie und Behörden Ängste vor Infektionskrankheiten fördern, um mit Impfstoffen großen Profit zu machen.31Vgl. Christiane Meyer / Sabine Reiter, Impfgegner und Impfskeptiker. Geschichte, Hintergründe, Thesen, Umgang, in: Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 47, 2004, 1182–1188, S. 1182; vgl. naturheilmagazin, Argumente von Impfkritikern.

Dabei ist die Existenz von Krankheitserregern und deren krankmachende Wirkung seit dem 19. Jahrhundert eindeutig belegt: Robert Koch konnte bereits im Jahr 1876 den Zusammenhang zwischen Mikroorganismen und Infektionskrankheiten nachweisen.32Vgl. Enzyklopädie Medizingeschichte, Bd. 1, hrsg. v. Werner E. Gerabek u.a., Berlin/New York 2007, 670.  Im 20. Jahrhundert konnten mithilfe des Elektronenmikroskops erstmals Viren als Auslöser von Infektionen sichtbar gemacht werden. Sowohl die biologische Struktur und der genetische Code als auch die krankmachende Wirkung von zahlreichen Krankheitserregern wurden bereits im Detail erforscht.33Vgl. RKI, Antworten des Robert Koch-Instituts und des Paul-Ehrlich-Instituts zu den 20 häufigsten Einwänden gegen das Impfen, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/Bedeutung/Schutzimpfungen_20_Einwaende.html ;jsessionid=FC3799E58069F2504B51CF681BC170 AD.internet072#doc2378400bodyText2, zuletzt abgerufen am 22.05.21.

Auch die allgemeine Schutzwirkung von Impfungen ist bereits oft bewiesen worden, insbesondere durch erfolgreiche Impfkampagnen in der Vergangenheit: So konnte z. B. die lebensgefährliche Krankheit Kinderlähmung (Polio) durch flächendeckende Impfungen in Deutschland ab den 1960er Jahren sukzessive zurückgedrängt werden. Seit 2002 ist Europa poliofrei.34Vgl. RKI, Antworten; vgl. Steininger, Impfen, https://www.kinderaerzte-im-netz.de/impfen /haeufige-fragen/allgemeine-fragen/, zuletzt abgerufen am 22.05.21. Weltweit ausgerottet sind die Pocken.

Dass staatliche Behörden und Pharmaunternehmen mit unwirksamen Impfungen große Gewinne erzielen wollen, erscheint angesichts der tatsächlichen Ausgaben für Impfstoffe unwahrscheinlich. Pharmaunternehmen verdienen durch Medikamente weitaus mehr als durch Impfstoffe.35Vgl. Impfaufklärung in Deutschland e. V., Impfgegner widerlegt.  Das lässt sich an den Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen für Arzneimittel ablesen: 2019 wurden ca. 41 Milliarden Euro (17%) für Arzneien ausgegeben, aber nur 1,8 Milliarden Euro (0,7%) für Schutzimpfungen.36Vgl. GKV Spitzenverband, GKV-Kennzahlen, https://www.gkv-spitzenverband.de/service/zahlen_und_grafiken/gkv_kennzahlen/gkv_kennzahlen.jsp, zuletzt abgerufen am 22.05.21.

2.2. Infragestellungen der Notwendigkeit und Nützlichkeit von Impfungen

Gemäßigtere Impfkritiker stellen oft die Notwendigkeit und Nützlichkeit von Impfungen in Frage. Ein Beispiel dafür ist die Theorie, dass überstandene Krankheiten das Immunsystem besser und langfristiger stärken als Impfungen.37Vgl. naturheilmagazin, Argumente von Impfkritikern. Als Beweis für die positiven Effekte von Fieber dient eine Studie aus dem Jahr 2008.38Vgl. Graham Barr u.a., Does paracetamol cause asthma in children? Time to remove the guesswork, in: The Lancet 371, 2008, S. 1011-1012. Abrufbar unter https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(08)61417-8/fulltext, zuletzt abgerufen am 22.05.21. Darin werden jedoch die positiven Nebeneffekte von Fieber nicht thematisiert, sondern lediglich beschrieben, dass der Einsatz von Paracetamol zur Fiebersenkung bei Kindern das Risiko für eine Erkrankung an Asthma erhöhen kann. Somit handelt es sich bei der Schlussfolgerung, dass Fieber das Risiko von Asthma-Erkrankungen senkt, um einen Fehlschluss. Am Beispiel einer Maserninfektion lässt sich erkennen, dass eine Impfung die Wahrscheinlichkeit für andere Erkrankungen nicht erhöht, während eine Infektion – neben zahlreichen anderen Gesundheitsrisiken – das Immunsystem für mindestens zwei Jahre schwächt.39Vgl. Grandt u.a., Arzneimittelreport, S. 111.

Bei solchen Argumentationsweisen werden die gesundheitlichen Gefahren unterschätzt, die von Infektionskrankheiten selbst ausgehen.40Vgl. ebd., S. 123. Dieses Problem ist wahrscheinlich auf den Erfolg von Impfungen zurückzuführen: Weil viele Krankheiten in der Vergangenheit durch Impfkampagnen erfolgreich zurückgedrängt werden konnten, herrscht ein geringes Bewusstsein für die teilweise lebensbedrohlichen Konsequenzen von Infektionskrankheiten.41Vgl. Dittmann, Risiko, S. 316; vgl. Meyer u.a., Impfgegner, S. 1186f.

2.3. Vorbehalte gegen gefährliche Zusätze in Impfstoffen

Neben den Antigenen, die zur Auslösung der Immunantwort nötig sind, enthalten Vakzine weitere Zusatzstoffe. Diese stehen häufig unter dem Verdacht, schwere Nebenwirkungen und Langzeitschäden zu verursachen. 

Aluminiumverbindungen dienen in Totimpfstoffen als Wirkungsverstärker zur Förderung der Immunreaktion. Diese Aluminium-Zusätze in Impfstoffen werden für Nervenschäden, Verhaltensstörungen und Autoimmunerkrankungen verantwortlich gemacht.42Vgl. Hirte, Impfen, S. 60-63. Tatsächlich können große Mengen an Aluminium schwere Nervenschäden im Gehirn verursachen.43Vgl. Katrin Klotz u.a., Gesundheitliche Auswirkungen einer Aluminiumexposition, in: Deutsches Ärzteblatt 114, 2017, 653-659, S. 656f. Jedoch muss man sich vor Augen halten, dass ein durchschnittlicher EU-Bürger die Menge an Aluminium, die in einer Impfdosis enthalten ist, innerhalb von zwei Tagen mit der Nahrung aufnimmt.44Vgl. Mathias Tertilt u.a., Alles zum Thema Impfen, https://www.quarks.de/gesundheit/darum-ist-impfen-nicht-gefaehrlich/ (eine Webseite des WDR), zuletzt abgerufen am 22.05.21. Es ist unwahrscheinlich, dass von dem Aluminium, das in Impfstoffen enthalten ist, gesundheitliche Gefahren ausgehen.45Vgl. PEI, Sicherheitsbewertung von Aluminium in Therapieallergenen, https://www.pei.de/DE/newsroom/veroffentlichungen-arzneimittel/sicherheitsinformationen-human/2014/ablage2014/2014-01-21-sicherheitsbewertung-von-aluminium-in-therapieallergenen.html, zuletzt abgerufen am 22.05.21. Allgemein liegt die Konzentration von giftigen Zusatzstoffen in Vakzinen weit unter den vorgegebenen Grenzwerten.46Vgl. Tertilt u.a., Alles zum Thema Impfen.

2.4. Schwerwiegende Nebenwirkungen und Langzeitfolgen

Können Impfstoffe schwerwiegende Neben- und Langzeitwirkungen verursachen? Allgemein unterscheidet man die Nebenwirkungen von Impfungen zwischen „Impfreaktionen“ (bspw. Schmerzen an der Einstichstelle, grippeähnliche Symptome, Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit), „Impfkomplikationen“ (hohes Fieber, Fieberkrämpfe, andere Erkrankungen) und „Impfschäden“ (Hirnschäden, Nervenschädigungen, Epilepsie).47Vgl. BIG, Impfungen: Die Vor- und Nachteile, https://www.big-direkt.de/de/gesund-leben/impfungen-die-vor-und-nachteile, zuletzt abgerufen am 22.05.21. Ärzte sind gesetzlich verpflichtet Beschwerden, die über leichte Impfreaktionen hinausgehen, beim Paul-Ehrlich-Institut (PEI) zu melden.48Vgl. RKI, Meldung eines Verdachts einer Impfnebenwirkung, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/IfSG/Meldeboegen/Impfreaktion/impfreaktion_node.html, zuletzt abgerufen am 22.05.21. Alle Verdachtsfälle können in der Datenbank des PEI eingesehen werden (https://www.pei.de/DE/arzneimittelsicherheit/pharmakovigilanz/pharmakovigilanz-node.html). Es existiert auch eine Datenbank für den Europäischen Raum: http://www.adrreports.eu/de/index.html.

Verursachen Impfungen Autoimmunerkrankungen und Verhaltensstörungen?

Verschiedene Vakzine werden für schwere Impfschäden verantwortlich gemacht, darunter Autoimmunerkrankungen und Verhaltensstörungen.49Vgl. Hirte, Impfen, S. 60f; vgl. naturheilmagazin, Argumente von Impfkritikern. Ein bekanntes Beispiel ist die Theorie, dass der Masern-Mumps-Röteln-Impfstoff (MMR) Autismus bei Kindern verursache, wofür auf eine Studie aus dem Jahr 1999 verwiesen wird.50Vgl. Andrew Wakefield u.a., MMR vaccination and autism, in: The Lancet 354, 1999, S. 949-950. 

Allerdings war diese Studie einerseits methodisch mangelhaft (sie stützte sich nur auf 12 Kinder als Probanden), andererseits stand der Hauptautor Andrew Wakefield nachweislich in einem Interessenskonflikt: Die Studie wurde durch einen Anwalt mitfinanziert, der gleichzeitig mit einer Klage gegen Impfstoffhersteller beauftragt war.51Vgl. Gastrointestinal Society, Andrew Wakefield’s Harmful Myth of Vaccine-induced “Autistic Entercolitis”, https://badgut.org/information-centre/a-z-digestive-topics/andrew-wakefield-vaccine-myth/, zuletzt abgerufen am 22.05.21. Das Ergebnis dieser Studie wurde vielfach und von unabhängigen Forschungsteams widerlegt.52Vgl. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte / PEI, Bulletin zur Arzneimittelsicherheit 1, 2017, S. 22; vgl. Hohmann-Jeddi, Christina, Kein Zusammenhang zwischen Autismus und Impfungen, https://www.pharmazeutische-zeitung.de/kein-zusammenhang-zwischen-autismus-und-impfungen/, zuletzt abgerufen am 22.05.21. Außerdem ließen sich in einer Gesamtanalyse von elf anderen Studien keine Hinweise dafür finden, dass Impfungen Autoimmunerkrankungen hervorrufen.53Vgl. Grandt u.a., Arzneimittelreport, S. 111.

Alle Arzneimittel verursachen Nebenwirkungen

Richtig ist: Impfstoffe verursachen ebenso wie alle anderen Arzneimittel unerwünschte Neben-wirkungen. In seltenen Fällen treten deswegen auch schwerwiegende Impfschäden auf: Seit dem Jahr 2009 wurden nach 386 Millionen verabreichten Impfdosen insgesamt 215 Impfschäden anerkannt.54Vgl. Joachim Budde u.a., Seltenen Impfrisiken auf der Spur, https://www.deutschlandfunk.de/von-astrazeneca-bis-biontech-seltenen-impfrisiken-auf-der.740.de.html?dram:article_id=493086, zuletzt abgerufen am 22.05.21.

Solche Impfschäden werden auch als „Langzeitnebenwirkungen“ bezeichnet. „Langzeitnebenwirkung“ bedeutet allerdings nicht „Nebenwirkungen nach langer Zeit“, sondern „Nebenwirkungen für lange Zeit“: Dauerhafte Impfschäden treten als Nebenwirkung nur Stunden oder Tage nach der Impfung auf, ziehen aber jahrelange oder lebenslange Gesundheitseinschränkungen nach sich.55Vgl. Anke Hörster, Corona-Impfung: Langzeitfolgen gibt es nicht, https://www.doccheck.com /de/detail/articles/31195-corona-impfung-langzeitfolgen-gibt-es-nicht, zuletzt abgerufen am 22.05.21; vgl. Klein, Oliver u.a., Warum es keine Langzeit-Nebenwirkungen gibt, https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-impfstoff-langzeitschaeden-100.html, zuletzt abgerufen am 26.01.23.

Ein Beispiel für Langzeitnebenwirkungen von Impfstoffen stellen die weltweit etwa 1.300 Fälle von Narkolepsie dar.56Vgl. Christine Westerhaus, Narkolepsie als Spätfolge der Impfung, https://www.deutschlandfunk.de/schweinegrippe-narkolepsie-als-spaetfolge-der-impfung.676.de.html?dram:article_id=483838, zuletzt abgerufen am 22.05.21. Diese wurden durch den Impfstoff „Pandremix“ ausgelöst, der 2009/10 während der Schweinegrippe-Epidemie eingesetzt wurde.57Vgl. Deutsches Ärzteblatt, Grippeimpfung, https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/63356 /Grippeimpfung-Wie-Pandemrix-eine-Narkolepsie-ausloest, zuletzt abgerufen am 22.05.21. Bei Kindern und Jugendlichen verursachte „Pandremix“ pro 100.000 Impfungen etwa 2-6 zusätzliche Fälle von Narkolepsie, die durchschnittlich in 26-56 von 100.000 Fällen aufritt.58Vgl. PEI, Aktuelle Informationen zu Narkolepsie im zeitlichen Zusammenhang mit A/H1N1-Influenzaimpfung, https://www.pei.de/DE/newsroom/veroffentlichungen-arzneimittel/sicherheitsinformationen-human/narkolepsie/narkolepsie-studien-europa.html, zuletzt abgerufen am 26.01.23.  Weil Impfschäden wie beispielsweise Narkolepsie selten auftreten, werden diese häufig erst einige Monate oder Jahre nach Beginn allgemeiner Impfungen mit den Vakzinen in Verbindung gebracht.59Vgl. Westerhaus, Narkolepsie.  Daher werden solche Nebenwirkungen erst in Langzeitstudien festgestellt. 

Nebenwirkungen und Langzeitfolgen bei Corona-Impfstoffen

Aktuell werden die möglichen Nebenwirkungen und Langzeitfolgen von COVID-19-Impfstoffen diskutiert: Nach der Immunisierung mit dem AstraZeneca-Vakzin („Vaxzevria“) wurden bis zum 21. April 2021 insgesamt 63 Fälle von Hirnvenenthrombosen („Sinusvenenthrombosen“, SVT) gemeldet, woraufhin die Impfungen mit diesem Vakzin deutschlandweit kurzzeitig ausgesetzt wurden.60Vgl. Katrin Krieft u.a., Thrombosen nach Corona-Impfung?, https://www.quarks.de/gesundheit/ medizin/sind-thrombosen-eine-nebenwirkung-der-astrazeneca-impfung/, zuletzt abgerufen am 22.05.21. Momentan kommen 1-2 Fälle von SVT auf ca. 100.000 Impfungen mit „Vaxzevria“, das entspricht 0,001 bzw. 0,002 Prozent der Impfungen.61Vgl. ebd.  Ähnliche Komplikationen wurden in den USA nach Impfungen mit dem Vektorimpfstoff des Herstellers „Johnson & Johnson“ festgestellt. Auch bei COVID-Infektionen können solche Thrombosen auftreten. Das Risiko, dass COVID-Patienten eine SVT erleiden ist tatsächlich 8-mal höher als die Gefahr, dass Geimpfte eine SVT als Nebenwirkung der aktuell eingesetzten Impfstoffe ausbilden.62Vgl. Ärzteblatt, Risiko von Sinusvenenthrombose nach COVID-19 viel höher als nach Impfung, zuletzt abgerufen am 22.05.21.

Gegenüber den mRNA-Impfstoffen (bspw. BioNTech/Pfizer und Moderna) wird immer wieder die Sorge geäußert, dass diese Vakzine Veränderungen im menschlichen Erbgut verursachen könnten. Allerdings sind sich Experten darin einig, dass in dieser Hinsicht von mRNA-Vakzinen keine Gefahr ausgeht: Einerseits können diese Moleküle nicht in den DNA-haltigen Zellkern menschlicher Körperzellen eindringen, andererseits könnten die Zellen mRNA gar nicht in DNA umwandeln.63Vgl. ebd. Daher gilt die Veränderung des menschlichen Erbguts durch mRNA-Impfstoffe allgemein als nahezu ausgeschlossen.64Vgl. Christina Hohmann-Jeddi, Warum mRNA-Impfstoffe nicht das Erbgut verändern, https://www.pharmazeutische-zeitung.de/warum-mrna-impfstoffe-nicht-das-erbgut-veraendern-121972/, zuletzt abgerufen am 22.05.21 Bei allen anderen Vorbehalten gegenüber Corona-Impfstoffen ist jedoch zu beachten, dass wegen der kurzfristigen Zulassungen bisher keine Langzeitstudien durchgeführt werden konnten.

Maserninfektionen – Nutzen und Risiken im Vergleich

Weil jedoch kein Impfstoff jemals völlig frei von (Langzeit-)Nebenwirkungen sein kann, muss man bei jeder Impfung zwischen dem Nutzen des Impfschutzes und den Risiken eines Impfschadens abwägen. Dieses Verhältnis zwischen Risiken und Nutzen einer Impfung lässt sich am Vergleich zwischen der Maserninfektion und der MMR-Impfung veranschaulichen: Bei einer Maserninfektion tritt ein akuter Krankheitsverlauf mit Gehirnentzündungen in einem von 1.000-10.000 Fällen auf, bei der MMR-Impfung sind Gehirnentzündungen nur in einem von 1.000.000 Fällen zu beobachten.65Vgl. Meyer u.a., Impfgegner, S. 1184. Das Risiko einer Gehirnentzündung ist bei akuten Krankheitsverläufen also 100-1000mal höher als bei einer MMR-Impfung. 

Außerdem handelt es sich bei Masern um eine weit verbreitete Krankheit: Allein im Jahr 2018 starben weltweit 140.000 Personen an Masern.66Vgl. PEI, Masern, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Masern.html, zuletzt abgerufen am 22.05.21. In Europa erkrankten rund 89.000 Personen an Masern, von denen ca. 60% im Krankenhaus behandelt wurden, und 74 starben.67Vgl. ebd. Die Masernimpfung schützt effektiv vor schweren und tödlichen Infektionen, sodass dank der Impfung im Zeitraum von 2000 bis 2017 schätzungsweise 21 Mio. Todesfälle verhindert werden konnten.68Vgl. ebd. Masern sind also nicht nur eine von vielen „harmloseren ‚Kinderkrankheiten‘“69Hirte, Impfen, S. 14., sondern eine potenziell tödliche Infektion, die durch Impfungen effektiv bekämpft werden kann. 

Außerdem ist bei der Nutzen-Risiko-Abwägung zu bedenken, dass Impfungen nicht nur den Geimpften nützen. Sind genügend Personen gegen eine Ansteckungskrankheit immun, kann sich diese in der Bevölkerung nicht ausbreiten: So werden auch Menschen geschützt, die nicht geimpft werden können (Säuglinge, Menschen mit chronischen Erkrankungen). Experten sprechen dabei von der sogenannten „Herdenimmunität“.70Vgl. Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung, Herdenimmunität, https://www.impfen-info.de/wissenswertes/gemeinschaftsschutz/, zuletzt abgerufen am 26.01.23.

Nutzen-Risiko-Abwägung bei COVID-19-Impfungen

Trotz der gemeldeten Impfkomplikationen und Nebenwirkungen bei verschiedenen COVID-Impfstoffen betonen Experten, dass der Nutzen einer Impfung weitaus größer ist als das Risiko für Nebenwirkungen.71Vgl. DLF, Was über die Nebenwirkungen der Corona-Impfstoffe bekannt ist, https://www.deutschlandfunk.de/covid-19-was-ueber-die-nebenwirkungen-der-corona-impfstoffe.1939.de.html?drn:news_id=1261643https://www.deutschlandfunk.de/covid-19-was-ueber-die-nebenwirkungen-der-corona-impfstoffe.1939.de.html?drn:news_id=1254867, zuletzt abgerufen am 22.05.21 (leider nicht mehr online verfügbar). Weil Hirnthrombosen leicht nachweisbar und behandelbar sind, gilt diese Einschätzung auch für den Astrazeneca-Impfstoff.V72gl. MDR, Corona-Impfung mit Astrazeneca: Nutzen überwiegt Risiken bei Weitem, https://www.mdr.de/wissen/astrazeneca-impfung-nebenwirkungen-nutzen-risiko-100.html, zuletzt abgerufen am 22.05.21. Der Nutzen dieser Impfstoffe besteht darin, dass dadurch weitere Todesfälle sowie akute Corona-Infektionen mit Langzeitfolgen („Long-Covid“) verhindert werden können, die bei ca. 10-20 Prozent der Infizierten auftreten.73Vgl. Mathias Tertilt, https://www.quarks.de/gesundheit/medizin/langzeitschaeden-von-covid-19-was-wir-wissen-und-was-nicht/, zuletzt abgerufen am 22.05.21; The Economist, Researchers are closing in on long covid, https://www.economist.com/science-and-technology/2021/04/29/researchers-are-closing-in-on-long-covid, zuletzt aufgerufen am 22.05.21. Auch die übrigen Langzeitschäden, die nach einer Infektion auftreten können (bspw. dauerhafte Lungenschäden, chronische Erschöpfung), werden nachweislich unterschätzt.74Vgl. NDR, Long-Covid, https://www.ndr.de /ratgeber/gesundheit/Long-Covid-Corona-Langzeitfolgen-werden-unterschaetzt,coronavirus 4284.html, zuletzt abgerufen am 22.05.21. Dazu kommt der oben genannte Aspekt der „Herdenimmunität“. COVID-Impfungen helfen dabei die Corona-Pandemie einzudämmen, sodass auch diejenigen vor dem Corona-Virus geschützt werden, die nicht geimpft werden können.75Vgl. PEI, COVID-19 und Impfen, https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/gesamt.html, zuletzt abgerufen am 26.01.23. All diese Faktoren sollte man bei der persönlichen Nutzen-Risiko-Abwägung und der letztendlichen Entscheidung für oder gegen eine Impfung gegen das Corona-Virus berücksichtigen.

Orientierungshilfen zur Risiko-Nutzen-Einschätzung

Glücklicherweise sind diejenigen, die sich für oder gegen eine Impfung entscheiden müssen, bei der Abwägung zwischen Risiken und Nutzen nicht auf sich allein gestellt. Die Ständige Impfkommission (STIKO) gibt auf der Grundlage aktueller Forschungsergebnisse wissenschaftlich begründete Impfempfehlungen heraus.76Vgl. RKI, STIKO, https://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/STIKO/stiko_node.html, zuletzt abgerufen am 26.01.23. Diese Ergebnisse werden jährlich im Impfkalender zusammengetragen.77Vgl. RKI, Impfkalender 2020/21, https://www.rki. de/DE/Content/Kommissionen/STIKO/Empfehlung en/Aktuelles/Impfkalender.html, zuletzt abgerufen am 22.05.21 (leider nicht mehr online verfügbar. Hier ist der aktuelle Impfkalender abrufbar: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/Impfkalender/Impfkalender_node.html). Die Informationen, die von der STIKO, dem Robert-Koch-Institut und Paul-Ehrlich-Institut veröffentlicht werden, geben allen Interessierten vertrauenswürdige Orientierungshilfen zu Impfungen und Impfstoffen an die Hand.78Vgl. Alina Schadwinkel u.a., „Eingeimpft“, https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2018-08/eingeimpft-impfung-masern-david-sieveking-cornelia-betsch/komplettansicht, zuletzt abgerufen am 22.05.21.  Welche praktischen Konsequenzen sich daraus für den Umgang mit Impfungen gegen das Corona-Virus ergeben, werden wir unten noch näher betrachten.

2.5. Ethische Einwände: Verwendung der Zellen von abgetriebenen menschlichen Föten zur Herstellung von Impfstoffen 

Die Herstellung von manchen antiviralen Impfstoffen wirft ethische Probleme auf, weil diese mithilfe von aufbereiteten Zellen („Zelllinien“) von abgetriebenen Kindern produziert werden. Diese „Zelllinien“ dienen bei der Produktion von Lebendimpfstoffen zur Vermehrung von Viren, die daraufhin abgeschwächt („attenuiert“) und zum Impfstoff weiterverarbeitet werden. „WI-38“ und „MRC-5“ sind Zelllinien, die in den 1960er Jahren aus den Lungenzellen von 12 bzw. 14 Wochen alten, abgetriebenen Föten gewonnen wurden. Außerdem existieren noch weitere Zelllinien wie z.B. „PER.C6“ (gewonnen aus fetalen Netzhautzellen), die ebenfalls für pharmazeutische Zwecke eingesetzt werden.79Vgl. Päpstliche Akademie für das Leben (PAL), Moralische Überlegungen zu Impfstoffen, für deren Produktion Zellen von abgetriebenen Föten verwendet werden, Abtsteinach 2007, S. 4-5. Bei der Zelllinie „HEK293“ kann nicht mehr geklärt werden, ob diese 1973 aus den Nierenzellen einer Fehlgeburt oder eines abgetriebenen Embryos entwickelt wurde.80Vgl. Susanne Kummer, Covid-19-Impfstoffe: Ethische Stellungnahme zu Fragen der Herstellung, https://www.imabe.org/imabeinfos/covid-19-impfstoffe-ethische-stellungnahme-zu-fragen-der-herstellung, zuletzt abgerufen am 22.05.21.

Römisch-katholische Stellungnahme: Aktive und passive Mitwirkung an Kindstötungen durch Verwendung unmoralischer Impfstoffe

Die Päpstliche Akademie für das Leben (PAL) verurteilt die Verwendung von menschlichem Zellmaterial von abgetriebenen Kindern für pharmazeutische Zwecke und unterscheidet dabei verschiedene Formen der Mitwirkung am Bösen. Der grundsätzlichen Argumentation zufolge gilt, dass sich diejenigen, die solche Impfstoffe nutzen, aktiv einer „sehr entfernten mittelbaren materiellen Mitwirkung“81PAL, Moralische Überlegungen, S. 14. schuldig machen. Aktiv ist diese Mitwirkung an den Abtreibungen in den 1960er Jahren, weil der heutige Gebrauch solcher Impfstoffe eine Tat ist.82Vgl. ebd., S. 11. Sie steht mit diesen Abtreibungen allerdings nur im mittelbaren bzw. indirekten Zusammenhang, weil die Nutzer solcher Impfstoffe nicht direkt an den in der Vergangenheit liegenden Taten beteiligt sind.83Vgl. ebd., S. 10. Darüber hinaus stelle die Verwendung solcher Impfstoffe auch eine „mittelbare entfernte passive Mitwirkung an der Abtreibung“84Ebd., S. 15. dar. Passiv bedeutet hier: Durch die Verwendung jener Impfstoffe unterlässt man es, bzw. versäumt man die moralische Pflicht, die vorgenommenen Kindstötungen als moralisches Unrecht zu verurteilen. 

Aus diesen Erwägungen zieht die PAL mehrere Schlüsse: Gläubige sollen unmoralische Impfstoffe vermeiden und moralisch unbedenkliche Alternativen nutzen, für deren Entwicklung und Erprobung keine Zelllinien abgetriebener Embryos verwendet wurden. Doch was ist, wenn das nicht der Fall ist? Die PAL trifft dazu eine weitere Unterscheidung: Der Einsatz von moralisch bedenklichen Impfstoffen ist für die Gläubigen unter diesen Umständen dann erlaubt, wenn eine erhebliche Gefahr für Kinder und die Gesamtbevölkerung besteht. Sind die Gesundheitsrisiken für die Gesamtbevölkerung dagegen nicht zu hoch, muss auf ihren Einsatz verzichtet werden.85Vgl. ebd., S. 17.

Zu manchen Impfstoffen (Hepatitis A, Windpocken, Masern -Mumps-Röteln) sind nach wie vor keine unbedenklichen Alternativen auf dem Markt.86Vgl. Elisabeth Leutner, Impfstoffe und Abtreibung, https://aerzte-fuer-das-leben.de/pdftexte/leutner-impfstoffe-und-abtreibung-2019.pdf, S. 8-10, zuletzt abgerufen am 26.01.23. In den verschiedenen Entwicklungs- und Erprobungsphasen der Impfstoffe von BioNTech/PfizerAstraZeneca und Modernagegen SARS CoV-2 wurde die Zelllinie „HEK 293“ eingesetzt, während „PER.C6“ bei Johnson & Johnson zum Einsatz kam.87Vgl. Charlotte-Lozier-Institute, Update: COVID-19 Vaccine Candidates and Abortion-Derived Cell Lines, https://lozierinstitute.org/update-covid-19-vaccine-candidates-and-abortion-derived-cell-lines/, zuletzt abgerufen am 22.05.21.

Evangelische Perspektiven zum Zusammenhang von Impfstoffen und Abtreibungen

Was ist aus evangelischer Perspektive zu dieser römisch-katholischen Argumentationsweise zu sagen? Biblisch orientierte, evangelische Theologen und Ethiker sind sich mit der PAL darin einig, dass vorgeburtliche Kindstötungen moralisches Unrecht sind, denn: „Jeder Mensch […] hat ein Anrecht, als Person geachtet zu werden, weil er vom ersten Moment seiner biologischen Existenz an ein Du ist, das Gott schöpferisch ins Leben gesprochen hat.“88Christoph Raedel, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“: Lebensbeginn und Lebensschutz aus christlich-ethischer Perspektive, Ansbach 2020, S. 13. Die entscheidende Frage ist, ob diejenigen, die oben beschriebene Impfstoffe nutzen, am moralisch bösen Akt der Abtreibung mitwirken. 

Zur Beantwortung dieser Frage wird oft ein Gedankenexperiment durchgeführt: Eine Person, die sich zur Organspende bereit erklärt hat, wird Opfer eines Tötungsdelikts. Daraufhin setzt ein Transplantations-Team die Nieren des Getöteten in den Körper des Organspende-Empfängers ein. Dadurch wäre der Organempfänger allerdings in keiner Weise für das Tötungsverbrechen verantwortlich. Es ist ethisch unbedenklich, die Organe eines gegen seinen Willen Getöteten zur Organspende zu nutzen – schließlich wurde das Opfer nicht gezielt zum Zweck der Organentnahme getötet. Somit ist auch nichts gegen die Verwendung von Impfstoffen einzuwenden, die mithilfe der Zellen von abgetriebenen Föten hergestellt wurden – schließlich wurden diese damals nicht gezielt zum Zweck der Herstellung von Zelllinien abgetrieben. Überträgt man diesen Vergleich auf die Impfstoff-Frage, dann machen sich diejenigen, die solche Vakzine einsetzen, nicht der Mitwirkung an den erfolgten Abtreibungen schuldig.89Vgl. Joe Carter, What Christians Should Know About Vaccines, https://www.thegospelcoalition.org/article/what-christians-should-know-vaccines/, zuletzt abgerufen am 22.05.21.

Der ethische Umgang mit zwielichtigen Bedingungen bei der Impfstoffherstellung

Bei diesem Gedankenexperiment werden die zwei Taten – die Tötung und die Verwendung des Gewebes des Getöteten –voneinander abgetrennt. Der Grund: Die Entnahme von Organen bzw. Zellen war weder der Anlass noch das Ziel für die Tötungen. Das moralische Unrecht ist scheinbar auf die Tötungen begrenzt, weil diese durch keine Absichten mit der Organ- bzw. Zell-Entnahme in Verbindung stehen. 

Das Gedankenexperiment lässt sich jedoch nur begrenzt auf den Zusammenhang von Abtreibungen und der Herstellung von Zelllinien übertragen. Schließlich stießen die Forscher in den 1960er Jahren nicht zufällig auf getötete Kinder, denen sie Zellproben für Forschungszwecke entnehmen konnten. Darauf weisen die Voraussetzungen zur erfolgreichen Herstellung von Zelllinien hin: Nach Schätzungen des Embryologen Ward Kischer ist es notwendig, das noch lebende Gewebe des Fötus innerhalb von fünf Minuten nach der Abtreibung zu präparieren, um 95% der Körperzellen zu Forschungszwecken verwenden zu können.90Vgl. Debra L. Vinnedge, Vaccines & Abortions, https://cogforlife.org/vaccines-abortions/, zuletzt abgerufen am 22.05.21. Dementsprechend ist es wahrscheinlich, dass die Abtreibungen zumindest so geplant wurden, dass das Gewebe des abgetriebenen Fötus sichergestellt und weiterverarbeitet werden konnte. Allerdings werden wir niemals mit Sicherheit sagen können, ob und inwiefern die Personen, die an den Abtreibungen beteiligt waren, eine Absicht zur Weiterverarbeitung der Föten im Sinn hatten. Schließlich kann nur Gott die Herzen und Absichten von Menschen wirklich ergründen (1Sam 16,7). Auf jeden Fall sind es aber zwielichtige Umstände, unter denen die Zelllinien für die Impfstoffproduktion entwickelt wurden.

Manche Ethiker argumentieren außerdem, dass die indirekte Nutzung solcher Impfstoffe moralisch verwerflich ist, weil man dadurch von einer ethisch höchst verwerflichen Tat profitiere.91Vgl. Katrien Devolder, Complicity in stem cell research, in: Human Reproduction 25, 2010, S. 2175–2180, S. 2176. Folgt man dieser Logik, dann müsste jede Erfindung und Technologie verworfen werden, die im Kontext von Ungerechtigkeit und moralischem Bösen entstanden ist. Diese käme dem Versuch gleich, die Menschheitsgeschichte vollkommen von Sünde zu reinigen und müsste konsequenterweise zu einem weitgehenden Verzicht auf die Inanspruchnahme medizinischer Heilmittel führen. Medizinische Eingriffe und technische Errungenschaften müssten dann stets darauf hin geprüft werden, ob in sie Wissen einfließt, das auf moralisch bedenkliche Weise gewonnen wurde, selbst wenn dies lange zurückliegen sollte. Praktisch ist das nicht möglich.

Weitere Abtreibungen durch die Nutzung unethischer Impfstoffe?

Andere wenden gegen die Nutzung dieser Vakzine ein, dass deren Gebrauch in Zukunft zu weiteren Kindstötungen führen könnte. Richtig ist aber, dass zur Impfstoffproduktion keine zusätzlichen menschlichen Zellen von Föten benötigt werden. Wer solche Impfstoffe in Anspruch nimmt, trägt somit nicht zu weiteren Abtreibungen bei. Auch das Argument, dass mehr Kinder zur Herstellung neuer Zelllinien abgetrieben werden könnten, ist nicht überzeugend, da die verfügbaren Zelllinien bereits gut erforscht und preisgünstig sind.92Vgl. Carter, What Christians Should Know About Vaccines.

Festzuhalten bleibt, dass die durchgeführten Abtreibungen die notwendige Voraussetzung für die Produktion der genannten Zelllinien darstellten. Diese Zellkulturen wurden im Kontext des moralischen Unrechts von Abtreibungen entwickelt und bleiben bis zu einem gewissen Maß mit diesem Unrecht verstrickt. Wir können zwar nicht genau bestimmen, inwieweit Geimpfte durch die Nutzung dieser ethisch bedenklichen Impfstoffe schuldig werden. Trotzdem müssen wir anerkennen, dass wir mit dem Gebrauch solcher Vakzine von einem Produkt profitieren, das in einem Schuldzusammenhang eingebettet ist.

Schuldübernahme anstatt Rechtfertigung unethischer Mittel

Wie können Christen mit den zwielichtigen Umständen der Zelllinien-Entwicklung und der möglichen Schuldverstrickung angemessen umgehen? 

Bei den moralischen Überlegungen der PAL und beim angeführten Gedankenexperiment scheint eine gemeinsame Logik vorzuliegen: Beide Argumentationsweisen verfolgen das Ziel, den genauen Grad der Beteiligung am Bösen festzustellen, um davon ausgehend abzuwägen, ob und unter welchen Umständen man die Nutzung dieser Impfstoffe rechtfertigen kann. Anscheinend geht es den Autoren darum zu klären, ob man diese Impfstoffe verwenden kann, ohne moralische Schuld auf sich zu laden. 

Diese Denkweise setzt allerdings voraus, dass Menschen Gut und Böse in ihrer Wahrnehmung der Wirklichkeit genau voneinander unterscheiden und den jeweiligen Grad moralischer Schuld und Mitwirkung am Bösen bestimmen können. Aus evangelischer Perspektive kann diese Vorstellung mit dem Hinweis auf den Sündenfall in 1. Mose 3 kritisiert werden: Am biblischen Zeugnis ist zu erkennen, dass wir selbst, die Welt und unsere Wahrnehmung durch Sünde verzerrt sind. Diese Einschätzung teilt auch Dietrich Bonhoeffer: Menschen würden sich aufgrund des Sündenfalls immer im „Zwielicht“ zwischen dem scheinbar Guten und scheinbar Bösen bewegen.93Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Ethik (Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 6), 1992, 5. Aufl. München 2016, S. 284. Er sieht die einzige Möglichkeit zu verantwortlichem Handeln darin, dass Menschen auf ihr vermeintliches Wissen um Gut und Böse und ihren Drang zur Selbstrechtfertigung ihrer Taten verzichten, um die eigenen Entscheidungen in Gottes Hände zu legen.94Vgl. ebd., S. 285. Weil Menschen als Sünder den eigenen Anteil am Bösen niemals exakt bestimmen können, nimmt die verantwortlich handelnde Person immer auch Schuld auf sich.95Vgl. ebd., S. 283. Die aktive Schuldübernahme ist aber nur im Lichte der Vergebung Jesu möglich.96Vgl. ebd., S. 275. Diese Vergebung darf nicht zur Voraussetzung für unser Handeln gemacht werden, sodass wir leichtfertig sündigen und Schuld auf uns laden, weil Jesus uns ohnehin vergeben wird – diese Strategie nennt Bonhoeffer „billige Gnade“ und „Rechtfertigung der Sünde“.97Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge (Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 4), 1989, S. 38f. Jesu Vergebung ist laut Bonhoeffer vielmehr die befreiende Verheißung für Menschen auf dem Weg der Nachfolge, die erkennen, dass sie in einer zwielichtigen Welt zwangsläufig schuldig werden, sich zu ihrer Schuld bekennen und Gott um Vergebung bitten – das nennt Bonhoeffer „teure Gnade“ und „Rechtfertigung des Sünders“.98Vgl. ebd., S. 39.

Mit Bonhoeffer wäre deswegen nicht danach zu fragen, inwiefern der Gebrauch von Impfstoffen, die unter zwielichtigen Umständen entwickelt wurden, ethisch zu rechtfertigen ist. Vielmehr müssten wir mit Bonhoeffer fragen: Können wir es verantworten, durch die Nutzung dieser Vakzine möglicherweise schuldig zu werden? 

In letzter Konsequenz können wir wie gesagt nicht wissen, zu welchem Grad die Impfstoffe, die mithilfe von Zelllinien abgetriebener Kinder produziert wurden, mit dem ursprünglichen moralischen Unrecht der Abtreibungen in Verbindung stehen. Allerdings müssen wir die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass wir durch den Gebrauch solcher Impfstoffe schuldig werden. Dieser ethische Konflikt soll nicht leichtfertig mit dem Hinweis auf Jesu Vergebung abgetan werden. Stattdessen sind wir als Christen aufgefordert, unsere mögliche Verwicklung in einen Schuldzusammenhang anzuerkennen und vor Gott zu bekennen. Dass Jesus Christus uns trotz unserer Verstrickung in Sünde und Schuld dennoch Vergebung verheißt, befreit uns dazu, beim Gebrauch fragwürdiger Impfstoffe gegebenenfalls Schuld auf uns zu nehmen.

Aktuell gehen von der weltweiten Corona-Pandemie und verschiedenen Infektionskrankheiten (z.B. Windpocken, Hepatitis A, Masern, Mumps, Röteln) große Gesundheitsrisiken aus –nicht nur für uns als Einzelpersonen, sondern insbesondere für die Schwächsten innerhalb der Gesellschaft. Klar ist: Impfstoffe bieten nicht nur einen persönlichen Schutz vor Infektionskrankheiten. Mit der eigenen Impfung leistet man auch einen Beitrag zum effektiven Schutz der Schwächsten innerhalb der Bevölkerung. Damit gibt es gute Gründe dafür, Impfstoffe gegen COVID-19 und andere risikoreiche Infektionskrankheiten trotz ihrer moralischen Fragwürdigkeit zu nutzen. Nicht etwa, weil der gute Zweck jedes Mittel rechtfertigen würde, sondern weil Jesus Christus uns Sündern seine Gnade, Vergebung und Rechtfertigung im Zwielicht geschichtlicher Vorgänge anbietet, die wir nicht restlos durchschauen können. Im Vertrauen auf die Verheißung der Vergebungwird es möglich, sich zu einer möglichen moralischen Mitschuld an vorgeburtlichen Kindstötungen zu bekennen. Zugleich sollten alle Anstrengungen unterstützt werden, moralisch unbedenkliche Impfstoffe zu entwickeln.

III. Fazit und Ausblick: "Was ist meine Verantwortung als Christ?

Die Anfragen und Einwände gegen Impfungen und Impfstoffe sind vielschichtig und komplex. Impfkritische Argumente, die allgemein die Existenz von Krankheitserregern anzweifeln oder die Wirksamkeit von Schutzimpfungen leugnen, erweisen sich bei näherer Betrachtung als wenig überzeugend. Auch die giftigen Schadstoffe, die in Vakzinen enthalten sind, stellen keinen überzeugenden Grund zur allgemeinen Ablehnung von Impfstoffen dar. Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass Impfungen – so wie jedes Arzneimittel – Nebenwirkungen und zum Teil lebenslange Gesundheitsschäden verursachen können. Der Zusammenhang zwischen Impfstoffen und den Zelllinien, die aus den Zellen abgetriebener Kinder gewonnen wurden, stellen uns außerdem vor einen ethischen Konflikt. 

Insgesamt sollten uns diese Umstände aber nicht zu einer grundsätzlichen Ablehnung von Impfstoffen führen, sondern zu verantwortungsvollen Entscheidungen. Dafür sind Risiko-Nutzen-Abwägungen nötig, die wir auf der Grundlage von vertrauenswürdigen Informationen zur jeweiligen Schutzimpfung treffen müssen. 

Über eine persönliche Risiko-Nutzen-Abwägung hinaus ist es unsere vorrangige Aufgabe als Christen, nach unserer Verantwortung vor Gott für das Wohl unseres Nächsten zu fragen, da Impfungen vor gefährlichen Krankheiten nicht nur uns selbst, sondern auch unsere Mitmenschen schützen. 

Bei allem Recherchieren und Abwägen dürfen sich Christen vertrauensvoll auf die gnädige Führung Gottes verlassen: Er kennt nicht nur die Risiken von Infektionskrankheiten und Impfungen, sondern hält auch unsere Gesundheit, unser Leben und unsere Zukunft in seiner Hand. Dieses Wissen kann Christen in diesen komplexen Fragen zu mutigen und verantwortungsbewussten Entscheidungen führen.

© 2021 Institut für Ethik & Werte

Dominik Viehoff

Endnoten