Vom Stellenwert der Gesundheit im Leben des Menschen
Hauptsache gesund?!

I. Einleitung
Hauptsache gesund! Dieses Motto prägt das Denken vieler Deutscher. Ob bei der Geburt eines Kindes oder der Gratulation zum 80. Geburtstag – der höchste Stellenwert gebührt nahezu ausnahmslos dem gesundheitlichen Wohlbefinden.
Gesundheit wird nicht nur anderen gewünscht. Auch mit Blick auf sich selbst messen die Deutschen ihr eine enorm hohe Bedeutung zu. Im Werte-Index 2014 belegt Gesundheit unter den Werten, die den Deutschen am wichtigsten sind, den ersten Platz.1Der Werte-Index ist eine Studie, die seit 2009 alle zwei Jahre erstellt wird, indem entsprechende Angaben deutscher Nutzer im Internet ausgewertet werden. Eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse des Werte-Index‘ 2014 (Hg. Peter Wippermann / Jens Krüger) findet sich unter: http://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/detailansicht/aktuell/jeder-zweite-internetnutzer-diskutiert-ueber-emgesundheitem/ [16.01.2014]. Damit ist ihnen Gesundheit aktuell wichtiger als Werte wie Freiheit, Familie und Erfolg. Diese enorme Hochschätzung der Gesundheit spiegelt sich auch im Bereich der Finanzen wider: Im Jahr 2011 gaben die privaten Haushalte in Deutschland für den Bereich der Gesundheit 40 Milliarden Euro aus.2Siehe Statistisches Bundesamt, Gesundheit Ausgaben 2011, S. 13. Hinzu kamen weitere 250 Milliarden Euro, die nicht von den privaten Haushalten selbst, sondern aus öffentlicher Hand und seitens der Arbeitgeber aufgewendet wurden.3Siehe Statistisches Bundesamt, Gesundheit Ausgaben 2011, S. 13. Ausgehend von einer Bevölkerungszahl von 80,3 Mill. Einwohnern zum 31.12.20114Vgl. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Bevoelkerung.html [14.11.2013]. ergeben sich damit für 2011 Aufwendungen von stolzen 3.600 Euro pro Einwohner. Darin enthalten sind jedoch nur die Gesundheitsausgaben im engeren Sinne (z.B. für ärztliche Leistungen und Arzneimittel), nicht die im weiteren Sinne (z.B. für gesunde Ernährung, Fitnesskurse usw.).5Siehe Statistisches Bundesamt, Gesundheit Ausgaben 2011, S. 3.
Der Trend zeigt, dass die Kosten von Jahr zu Jahr kontinuierlich steigen; gegenüber 1995 haben sie sich mittlerweile um mehr als die Hälfte erhöht.6Siehe Statistisches Bundesamt, Gesundheit Ausgaben 2011, S. 34. Auch die Einnahmen der Krankenversicherungen steigen jährlich. 2012 betrugen allein die der Gesetzlichen 190 Milliarden Euro.7Vgl. http://www.gbe-bund.de/oowa921-install/servlet/oowa/aw92/dboowasys921.xwdevkit/xwd_init?gbe.isgbetol/xs_start_neu/&p_aid=i&p_aid=55263480&nummer=627&p_sprache=D&p_indsp=99999999&p_aid=14573525 [14.02.2014]
Dieser kurze Blick in die Statistik macht deutlich: Die Deutschen lassen sich ihre Gesundheit einiges kosten. Und das gilt nicht nur in finanzieller Hinsicht. Im Dienste der Gesundheit wird auch viel Zeit investiert: Menschen treiben stundenlang Sport, lesen Gesundheitsratgeber, schauen entsprechende Sendungen im Fernsehen an und lassen diverse Vorsorgeuntersuchungen von Ärzten vornehmen. Auch manche Entbehrung wird im Dienste der Gesundheit gerne auf sich genommen: Man verzichtet auf Genussmittel, achtet auf eine gesunde Ernährung, nimmt Einschnitte in der Lebensführung in Kauf. „Gesundheit ist ein unausweichliches, unentfliehbares Dauerthema geworden, das immer mehr Lebenszeit und Lebensenergie bindet.“8C. Schwöbel, Verdrängte Geschöpflichkeit: die Flucht vor dem Tod, in: Pharmazeutische Zeitschrift 142 (1997), 3911-3917, 3911 (zitiert nach Baltes, Heillos gesund?, S. 17). Daran zeigt sich: Gesundheit hat in unserer Gesellschaft eine sehr hohe Bedeutung.
Die folgenden Ausführungen sollen dazu dienen, sich der Frage nach der Gesundheit und ihrem Stellenwert im Leben des Menschen anzunähern. Was bedeutet „Gesundheit“ eigentlich? Wie hat sich der Stellenwert der Gesundheit im Lauf der Geschichte verändert? Welche Bedeutung misst der christliche Glaube der Gesundheit im Leben eines Menschen bei? Dadurch wird es möglich, den gegenwärtigen Gesundheitstrend aus christlicher Perspektive kritisch zu beleuchten. Ein praktischer Ausblick zeigt, wie die gewonnenen Erkenntnisse in der christlichen Gemeindearbeit angewendet werden können.
II. Definition: Was ist eigentlich Gesundheit
So überflüssig es zunächst erscheinen mag, Gesundheit zu definieren, umso schwieriger ist es. Wenn Manfred Lütz mit Blick auf die Gesundheit konstatiert „[N]iemand weiß genau, was das ist“9Lütz, Lebenslust, S. 20., dann trägt er damit der Tatsache Rechnung, dass bisher noch keine Definition vorgelegt wurde, die zu allgemeiner Anerkennung gelangen konnte. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die betroffenen Fachgebiete wie Humanwissenschaften, Anthropologie, Philosophie und Theologie, Gesundheit aus unterschiedlichen Blickwinkeln definieren, und dass darüber hinaus selbst innerhalb derselben Disziplin oft keine einheitliche Auffassung von Gesundheit vertreten wird.
Ein Ansatz, Gesundheit zu verstehen, kann als „genetisch-erklärend“ oder „funktional“ bezeichnet werden. Im Mittelpunkt steht hier die Frage nach der Entstehung von Krankheiten (Pathogenese) und der Entstehung bzw. Wiederherstellung von Gesundheit (Salutogenese). Gesundheit und Krankheit werden dabei rein kausal aufgefasst: Ziel des Ansatzes ist es, Auslöser von Krankheiten zu identifizieren und zu verhindern. Daher kann beispielsweise der gesamte Bereich der Biomedizin hier verortet werden. Gesundheit wird dabei gleichgesetzt mit der Funktionsfähigkeit aller Organe, Krankheit wird als Störung dieser Funktionsfähigkeit verstanden. Anhaltspunkt dafür, ob ein Mensch als gesund oder krank anzusehen ist, ist damit die statistische Norm. Laufen bei einem Menschen die organisch-natürlichen Vollzüge ordnungsgemäß ab, gilt er als gesund. Die Mehrheit der Bevölkerung versteht Gesundheit im Sinne dieses Ansatzes.
Vor allem Anthropologen wenden jedoch ein, dass eine solche Vorstellung von Gesundheit zu kurz greift. Gesundheit ist ihres Erachtens mehr als das rein physische Überleben eines Menschen. Sie weisen darauf hin, dass der Mensch aus einer Einheit von Leib und Seele besteht, die weder getrennt werden kann noch darf. Daher werben sie für einen breiteren Ansatz, der als „anthropologisch“ oder „ganzheitlich“ bezeichnet werden kann. Von Interesse ist hier nicht in erster Linie die kausale Entstehung, sondern das wesensmäßige Sein von Gesundheit bzw. Krankheit. Die zentralen Fragen lauten daher, was Gesundheit bzw. was Krankheit ist, welche Wirkung sie auf den Menschen ausüben und inwiefern umgekehrt der Mensch Einfluss auf seine Gesundheit bzw. Krankheit nehmen kann. Den verschiedenen Definitionen, die diesem Ansatz zugerechnet werden können, ist gemeinsam, dass sie Gesundheit und Krankheit als „Weisen des Menschseins“ verstehen. Sie sind also verschiedene Erscheinungsformen menschlichen Lebens. Da Leben hier ganzheitlich betrachtet wird, müssen auch Gesundheit und Krankheit wesentlich breiter verstanden werden. Sie können sich daher nicht allein in der Berücksichtigung rein körperlicher Aspekte erschöpfen, sondern werden auch durch psychische, kulturelle und soziale Faktoren beeinflusst. Diese umfassendere Begriffsauffassung führt dazu, dass Gesundheit nicht mehr als Funktionsfähigkeit des Körpers verstanden wird, sondern als Fähigkeit des Menschen, sein Leben trotz möglicher Störfaktoren zu bewältigen. „Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Störungen, Gesundheit ist die Kraft, mit ihnen zu leben.“10Zitiert nach Neumann, Gesundheit I. Ethisch, Sp. 877.
Auch ein körperlich kranker Mensch kann somit als gesund gelten, sofern es ihm gelingt, mit seinen Beeinträchtigungen zurechtzukommen. Vertreter eines solchen Gesundheitsverständnisses setzen Gesundheit beispielsweise mit der Fähigkeit gleich, seine sozialen Rollen zu erfüllen (so Talcott Parsons) oder wichtige Lebensziele zu erreichen (so Lennart Nordenfelt).11Zu den beiden Ansätzen vgl. Baltes, Heillos gesund?, S. 63-70 und S. 92-96. Auch die Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO, auf die in der Fachdiskussion sehr häufig Bezug genommen wird, ist hier zu verorten. Sie versteht Gesundheit als einen Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur als Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechlichkeit: „Health is a state of complete physical, mental and social wellbeing and not merely the absence of disease or infirmity.”12Preamble to the Constitution of the World Health Organization as adopted by the International Health Conference, New York, 19-22 June, 1946; signed on 22 July 1946 by the representatives of 61 States (Official Records of the World Health Organization, no. 2, p. 100) and entered into force on 7 April 1948.
Dass bislang keine einheitliche Definition für Gesundheit gefunden werden konnte, lässt darauf schließen, dass beide vorgestellten Hauptgruppen Stärken und Schwächen haben. Die Stärke des funktionalen Ansatzes liegt eindeutig darin, dass er in der klinischen Forschung hilfreich eingesetzt werden kann, weil er mit ihrem Anliegen übereinstimmt, die Ursachen von Gesundheit und Krankheit erkennen zu wollen. Dieses Vorgehen ermöglicht es, objektive Aussagen über den Gesundheitszustand einer Person zu treffen. Es bringt jedoch andererseits die Gefahr mit sich, Gesundheit als rein biologischen Vorgang anzusehen. Die Grenzen ärztlichen Handelns können dabei schnell aus dem Blick geraten. Darüber hinaus wird Vertretern eines funktionalen Verständnisses vorgeworfen, den Menschen auf seinen Körper zu reduzieren und dadurch seinem wahren Sein nicht gerecht zu werden.
Dieser Schwäche wirkt der anthropologische Ansatz entgegen, indem er bewusst die Ganzheitlichkeit des Menschen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen rückt. Gesundheit wird hier nicht als objektiv von außen feststellbarer Zustand begriffen, sondern als ein äußerst komplexes Phänomen menschlichen Lebens, das von vielfältigen Faktoren abhängig ist. Gesundheit als Umgangsfähigkeit mit verschiedensten Lebenssituationen zu verstehen darf jedoch umgekehrt nicht dazu führen, dass naturwissenschaftliche Fakten vernachlässigt werden. Wenn dem subjektiven Empfinden des Patienten mehr Bedeutung beigemessen wird als dem Befund des Arztes, schießt man über das Ziel hinaus. Der Fähigkeit des Menschen, mit Krankheiten und Einschränkungen umzugehen, sind auch (natürliche) Grenzen gesetzt. Damit rückt das anthropologische Gesundheitsverständnis zumindest potentiell in die Nähe einer utopischen Vorstellung. Insbesondere mit Blick auf die Gesundheitsdefinition, die die WHO vorgelegt hat, wird dieser Vorwurf immer wieder laut.
Die Stärken beider Ansätze versucht z.B. Hans-Martin Rieger zu verbinden, indem er sich für ein mehrdimensionales, „orthogonales“ Verständnis von Gesundheit ausspricht.13Vgl. Rieger, Gesundheit, S. 186-215.
Demnach ist der Gesundheitsgrad eines Menschen sowohl von seiner Funktionsfähigkeit abhängig – und zwar in körperlicher, psychischer und sozialer Hinsicht -, als auch von seiner Umgangsfähigkeit mit eventuellen Einschränkungen. Der Gesamtzustand der Gesundheit eines Menschen setzt sich damit aus zwei unterschiedlichen Fähigkeiten zusammen. Auf diese Weise gelingt es Rieger, die Einseitigkeiten beider Hauptgruppen zu umgehen. Vielleicht können Mittelpositionen wie diese in Zukunft dazu beitragen, einer konsensfähigen Definition von Gesundheit ein Stück näher zu kommen.
III. Der Stellenwert der Gesundheit - ein geschichtlicher Überblick
Welchen Stellenwert hatte die Gesundheit im Lauf der Geschichte? Wie hat sich diese Einstellung verändert?14Vgl. dazu z.B. die geschichtliche Darstellung bei Baltes, Gesundheit, S. 34-62.
Bereits in der Antike spielte die Sorge um die Gesundheit eine wichtige Rolle. Ärzte wurden in erster Linie aufgesucht, um von ihnen Ratschläge für die Erhaltung der Gesundheit einzuholen. Erst an zweiter Stelle ging es bei Arztbesuchen um die Behandlung von Krankheiten durch Medikamente oder chirurgische Eingriffe. Bei aller Wertschätzung der Gesundheit blieb man sich allerdings damals der Tatsache bewusst, dass absolute Gesundheit für den Menschen im irdischen Leben unerreichbar ist. Als gesund bezeichnete man einen Menschen dann, wenn er sich in einem Normalzustand zwischen Krankheit und absoluter Gesundheit befand. Zurückgehend auf die „Vier-Säfte-Lehre“ (=Humoralpathologie) von Hippokrates stellte man sich diesen Normalzustand als ein Gleichgewicht der Säfte (Blut, Schleim, schwarze Galle, gelbe Galle) vor. Demnach wurde ein Mensch immer dann krank, wenn das natürliche Gleichgewicht dieser Elemente gestört war. Eine solche Störung konnte sowohl durch Umwelteinflüsse bedingt sein, als auch durch individuelle Gegebenheiten wie Alter, Ernährung oder Lebensgewohnheiten der erkrankten Person. Gesundheit war also in der Antike identisch mit dem natürlichen Normalzustand des Menschen. Sie spielte im Leben eine wichtige Rolle. Beachtung schenkte man besonders ihrer Erhaltung.
Auch im Mittelalter verstand man Gesundheit und Krankheit medizinisch gesehen noch im Sinne der Lehre des Hippokrates. Eine Veränderung ist jedoch zu beobachten, was den Stellenwert der Gesundheit im Leben betrifft. Die Sorge um die Erhaltung der Gesundheit ging deutlich zurück. Gesund zu sein blieb zwar weiterhin ein wichtiges Anliegen der Menschen, man ging also keineswegs gleichgültig und vernachlässigend mit seiner Gesundheit um. Aber man betrachtete auch Krankheit als etwas, das selbstverständlich zum menschlichen Leben dazu gehörte. Gesundheit und Krankheit wurden beide als von Gott gegeben angesehen. Man löste sich von der Vorstellung, Gesundheit sei immer gut, Krankheit immer schlecht. Stattdessen war man sich bewusst, dass auch der Krankheit ein Sinn zukommen kann und Gesundheit möglicherweise eine Gefahr darstellt, weil sie leicht die Endlichkeit des Lebens vergessen lässt. Insgesamt definierte man Lebensqualität weniger über das gesundheitliche Wohlbefinden, sondern vielmehr über die Frage, in welchem Verhältnis ein Mensch zu Gott, dem Schöpfer, stand. Es kann also für das Mittelalter festgehalten werden, dass der Stellenwert der Gesundheit im Leben des Menschen gegenüber der Antike deutlich relativiert wurde.
Im Zuge der Neuzeit kam es dann zu weitreichenden Veränderungen, und zwar sowohl im Verständnis von Gesundheit und Krankheit als auch hinsichtlich ihres Stellenwerts im Leben des Menschen. Auf medizinischer Seite wurde die Lehre des Hippokrates von den vier Säften verworfen, weil der naturwissenschaftliche Fortschritt neue Erkenntnisse über die Abläufe im menschlichen Körper mit sich brachte. Dass Krankheiten erklärbar wurden, führte wiederum dazu, dass Gesundheit zunehmend als ein beeinflussbarer Zustand aufgefasst wurde. Wenn Gesundheit nun aber machbar war, so stellte dies grundlegend infrage, wovon man im Mittelalter überzeugt war: dass Gesundheit und Krankheit gottgegeben seien und dass auch Krankheiten ein Sinn zukommen könne.
Zusätzlich begünstigt wurde diese Entwicklung dadurch, dass der christliche Glaube durch die einsetzende Säkularisierung im Leben der Menschen ohnehin an Bedeutung verlor. Das Interesse verlagerte sich von Gott auf den Menschen, vom Jenseits auf das Diesseits. Dass dadurch der Stellenwert der Gesundheit im Leben der Menschen enorm stieg, ist verständlich, denn mit dem christlichen Glauben schwand auch die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Krankheiten als Bedrohung des irdischen und damit einzigen Lebens, das dem Menschen blieb, galt es mit naturwissenschaftlichen, technischen Mitteln zu bekämpfen.
Die Erwartungen der Menschen an die Medizin stiegen ständig an. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschte damit in der Neuzeit ein Gesundheitsverständnis vor, das dem genetisch-erklärenden, funktionalen Definitionsversuch entspricht. Erst danach konnte sich mit der „Heidelberger Schule“ eine Gegenbewegung erfolgreich Gehör verschaffen, die den anthropologischen, ganzheitlichen Ansatz (s.o.) in die Diskussion einbrachte. Ihre Kritik richtete sich jedoch ausschließlich gegen das zugrunde gelegte Verständnis von Gesundheit. Ihr hoher Stellenwert hingegen wurde nicht infrage gestellt.
IV. Der Stellenwert der Gesundheit aus biblischer Sicht
Beim Blick in die Bibel fällt zunächst auf dass das Streben des Menschen nach Gesundheit zunächst einmal schlicht als natürliche und legitime Tatsache beschrieben wird. So begegnen im Alten Testament Menschen wie Naaman und Hiskia, deren größter Wunsch es war, wieder gesund zu werden (vgl. 2Kö 5; 2Kö 20,1-11). Und auch im Neuen Testament, vor allem in den Evangelien, wird immer wieder von Menschen berichtet, die sich nach körperlicher Heilung sehnten (vgl. z.B. Mt 4,23-24; 8,5-8; Mk 1,40-45; Joh 11,1-3; 2Kor 12,7-8). Neben dem Wunsch des Menschen nach Gesundheit wird an solchen Erzählungen auch deutlich: Krankheit ist in der Bibel eine Realität menschlichen Lebens. Es ist keine Ausnahme, dass Menschen krank werden und unter ihrer Krankheit leiden.
Gerade dieses Leiden bringt es in der Regel mit sich, dass Menschen nach der Ursache ihrer Erkrankung fragen und sich um Heilung bemühen. Damit ist nicht nur die Frage nach dem Grund des Erkrankens im Einzelfall berührt, sondern auch ganz grundsätzlich die Frage, warum Menschen überhaupt krank werden. Der genetisch-erklärende Ansatz verweist hier auf Störungen in den biologischen Abläufen des Körpers; der ganzheitliche Ansatz begreift Krankheit als eine Weise des Menschseins. Keiner der beiden Ansätze fragt jedoch, warum der Mensch überhaupt für solche Störungen anfällig ist bzw. warum Krankheit offensichtlich zum Leben des Menschen dazugehört.
Das Grunddokument des christlichen Glaubens stellt hingegen diese Frage und beantwortet sie auch. So wird die Vergänglichkeit des Menschen in Verbindung gebracht mit seiner Sündhaftigkeit, denn erst durch den Sündenfall wurden der Tod und damit die Vergänglichkeit zu einer unausweichlichen Realität (vgl. z.B. Gen 2,17; Gen 3,19; Röm 5,12; Röm 6,23; Jak 1,15). Daraus folgt implizit, dass Krankheit im Sinne der Funktionsstörung und des Verfalls ebenfalls erst nach dem Sündenfall aufkam. Damit ist auf allgemeiner Ebene ein Zusammenhang zwischen Sünde und Krankheit behauptet. Krankheit ist daher nicht der ursprüngliche Schöpfungswille Gottes. Erst durch den Abfall des Menschen von Gott kommen Krankheit und Tod in die Welt hinein. Krankheit ist von daher ein Resultat aus der Sündhaftigkeit der menschlichen Natur.
Dieser Zusammenhang von Sünde und Krankheit darf jedoch nicht kategorisch auf jeden Einzelfall übertragen werden. Dass Menschen überhaupt krank werden, ist zwar Folge ihrer grundsätzlichen Sündhaftigkeit, was aber nicht bedeutet, dass jedem speziellen Krankheitsfall als Ursache eine spezielle Sünde zugrunde liegen muss. Dieses Missverständnis hat es leider in der Geschichte der Kirche häufig gegeben. Biblisch gesehen kann tatsächlich konkrete Schuld der Grund einer Erkrankung sein (vgl. z.B. 2Chr 26,16-21; Ps32,1-5; Ps 38,4; Apg 5,1-11), muss es aber nicht (vgl. z.B. Hiob 2,1-10; Joh 9,1-3). Es gibt auch unverschuldete Krankheit. Dass Krankheit gelegentlich dazu dienen kann, die Größe und Herrlichkeit Gottes deutlich zu machen (vgl. z.B. Joh 9,3; 2Kor 12,9) oder Menschen zur Umkehr zu bewegen (vgl. z.B. Ex 9,8-12; Apg 9,1-18), darf wiederum nicht dazu verleiten, Krankheit generell als positiv und gottgewollt anzusehen. Gott kann Krankheit zwar in seinem Sinne gebrauchen, ihrem Wesen nach steht sie aber mit Sünde im Zusammenhang und ist daher als ein Übel anzusehen, das nicht dem ursprünglichen Willen Gottes entspricht.
Dass Krankheit ein Übel ist, deckt sich auch mit der alltäglichen Erfahrungswelt des Menschen. Sowohl zur Zeit der Bibel wie auch heute versucht daher der gesunde Mensch, Krankheit zu vermeiden, der kranke Mensch, Gesundheit wiederzuerlangen. Das oberste Ziel dieses Strebens wäre im Idealfall die vollständige Überwindung jeglicher Krankheit, also die absolute Gesundheit. Aus biblischer Sicht wird der Mensch jedoch niemals in der Lage sein, dieses Ziel zu erreichen, weil er in einer gefallenen Welt lebt (vgl. z.B. Gen 8,21; Röm 7,14-24). Da er sich nicht von seiner Sündhaftigkeit befreien kann, kann er auch die Krankheit als deren Folge nicht vollständig überwinden.
Dennoch ist der Mensch bis zum heutigen Tag nicht an dem Punkt angekommen, die Endlichkeit und Begrenztheit seines Lebens widerstandslos hinzunehmen. Die Bibel führt das darauf zurück, dass die gesamte Schöpfung - und damit auch der Mensch - die Hoffnung in sich trägt, den Zustand der Vergänglichkeit eines Tages zu überwinden (vgl. z.B. Röm 8,20-25). In diesem Wunsch, der letztlich ein Wunsch nach absoluter Gesundheit (=Heil) ist, stimmt der Mensch zutiefst mit dem Heilswillen Gottes überein (vgl. z.B. Hes 18,23; Joh 14,19; 1Tim 2,4). Die gute Nachricht des christlichen Glaubens ist es gerade, dass Gott diesem Willen Geltung verschafft und in die ausweglose Situation des Menschen eingegriffen hat. Durch das Sterben und Auferstehen von Jesus Christus wird der Mensch, der sich ihm zuwendet, nicht nur von seinem sündhaften Wesen erlöst, sondern auch von den Auswirkungen der Sünde befreit. Ausdrücklich ist die Krankheit des Menschen in diesen Erlösungsprozess eingeschlossen (vgl. Jes 53,4). Darauf weist auch die Tatsache hin, dass die Bibel den Himmel als einen Ort beschreibt, an dem es kein Leid, keinen Schmerz, keine Krankheit mehr geben wird (vgl. Offb 21,4).
Dass die vollständige Realisierung der Erlösung noch aussteht, machen die gegenwärtige Lebenswirklichkeit der Menschen und das Zeugnis der Bibel gleichermaßen deutlich: Der Mensch sündigt noch immer. Sein Leben ist mit dem Tod weiterhin der Vergänglichkeit unterworfen. Sowohl sein Körper als auch seine Seele sind unverändert für Krankheiten anfällig. Dass mit dem Kommen Jesu dennoch eine neue Welt bereits ihre Schatten voraus wirft, wird unter anderem daran deutlich, dass durch Christus Menschen von Krankheiten geheilt wurden (vgl. z.B. Mt 8,1-3; Mt 9,1-8; Mt 9,27-34). Auch die Lehre des Paulus vom neuen Menschen deutet in diese Richtung: zwar ist sein wahres Wesen noch verborgen, doch Auswirkungen der Veränderung sollen schon jetzt im Leben des Gläubigen sichtbar werden (vgl. z.B. Eph 4,17-24; Kol 3,1-17). Durch Jesus, der sich selbst als Arzt für die Kranken bezeichnet hat (vgl. Lk 5,31-32), eröffnen sich dem Glaubenden auch neue Möglichkeiten für den Umgang mit eigener Krankheit: Er darf sich an den wenden, der selbst alle Krankheit getragen hat (vgl. Jes 53,4), und von ihm Beistand, Trost und neue Kraft erwarten (vgl. Mt 28,11).Die endgültige Befreiung von ihrem sündhaften Wesen und von jeglichen Auswirkungen der Sünde ist den Gläubigen dann für den Tag verheißen, an dem Jesus wiederkommt. Im Zuge der Auferstehung werden sie einen neuen Leib erhalten, der unvergänglich und damit dem Einfluss von Krankheit und Tod vollends entzogen ist (vgl. z.B. 1Kor 15,42-44+54-57).
Aus diesen Grundlinien des biblischen Menschenbildes, das den Menschen wesentlich als erlösungsbedürftigen Sünder begreift, ergibt sich für den Stellenwert der Gesundheit im Leben des Menschen: Gesundheit ist ein erstrebenswertes Gut, das für den Menschen im irdischen Leben aber nur in begrenztem Ausmaß erreichbar ist. Das Streben nach absoluter diesseitiger Gesundheit ist daher von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dieses Wissen dient dem Menschen als Warnung davor, seine Gesundheit zum höchsten Gut und damit zum Götzen zu erheben. Ausschlaggebend für die Überwindung seiner Vergänglichkeit ist für den Menschen letztlich nicht sein Gesundheitszustand, sondern seine Gottesbeziehung, denn das eigentliche Übel des Menschen ist die Sünde, nicht die Krankheit.
V. Hauptsache gesund? Ein Fazit aus christlicher Sicht
Ausgehend von den vorausgegangenen Betrachtungen müssen aus christlicher Sicht einige kritische Anfragen an die gegenwärtige „Hauptsache-gesund-Mentalität“ der Deutschen gerichtet werden. Wie der geschichtliche Überblick gezeigt hat, entwickelte sich die übermäßige Wertschätzung der Gesundheit vor allem im Zuge der Neuzeit. Daher drängt sich die Frage auf, inwiefern diese Entwicklung als eine Folge der Säkularisierung und Individualisierung der Moderne anzusehen ist.15Vgl. dazu z.B. die Überlegungen bei Baltes, Heil-los gesund?, S. 15-30+195-198+340-354.
Auffällig ist jedenfalls, dass der Stellenwert der Gesundheit im Leben der Menschen gerade zu dem Zeitpunkt enorm anstieg, als der christliche Glaube an Bedeutung verlor. Hatte der Glaube an ein ewiges Leben im Jenseits den Menschen im Mittelalter noch Hoffnung angesichts ihrer Krankheit vermittelt, so schwand mit dem christlichen Glauben in der Neuzeit diese Hoffnung zunehmend. Damit geriet der Mensch in ein Dilemma: Er wurde weiterhin mit seiner Endlichkeit konfrontiert, hatte jedoch seinen bisherigen Deutungsrahmen für dieses Phänomen verloren, ohne in seiner ausschließlichen Orientierung auf das Diesseits einen angemessenen Ersatz finden zu können.
Die Überzeugung, dass dem Menschen über dieses Leben hinaus nichts bleibt, führt unweigerlich dazu, den Tod als endgültiges Aus anzusehen. Dieser Überzeugung steht jedoch die Sehnsucht des Menschen nach ewigem Leben entgegen. Da er nicht länger auf ihre Erfüllung im Jenseits hoffen kann, sucht er Wege, diese Sehnsucht im Diesseits zu stillen. „Was vom Leben zu erwarten ist, steht nicht länger unter eschatologischem Vorbehalt, sondern unter dem Druck der Gegenwart.“16Hoff, Gesundheit und Krankheit, S. 167. Deshalb bemühen sich viele Menschen, sowohl die Lebensqualität wie auch die Lebensquantität mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu steigern. Für beides, Lebensqualität wie –quantität, ist aber die Gesundheit eine wesentliche Voraussetzung.17Vgl. Hoff, Gesundheit und Krankheit, S. 163. Interessant ist die Frage von Baltes, ob es sich bei dem Gesundheitsstreben nicht letztlich nur um eine Vermeidungsstrategie handelt.18Vgl. Baltes, Heillos gesund?, S. 355. Krankheit konfrontiert den Menschen verstärkt mit der Frage nach dem Sinn seines Lebens und mit seiner Endlichkeit. Da der Mensch auf diese Fragen meist keine Antwort hat, versucht er, Krankheiten zu vermeiden, um solche Fragen gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Aufgrund dieser Zusammenhänge von Glaubensverlust und Gesundheitsübersteigerung übernimmt das gegenwärtige Gesundheitsstreben eine quasireligiöse Funktion.19Vgl. Baltes, Heillos gesund?, S. 52; Gabriel, Gesundheit als Ersatzreligion, S. 34. Das Heil, das dem Menschen bislang durch den Glauben verheißen war, versucht er sich nun über eine optimale Gesundheit selbst zu verschaffen.20Vgl. Rieger, Gesundheit, S. 15. Damit ist das Gesundheitsstreben in letzter Konsequenz ein Versuch des Menschen, sich selbst zu erlösen.21Vgl. Baltes, Heillos gesund?, S. 197.
Zusätzlich begünstigt wurde und wird eine solche Entwicklung durch das gesellschaftliche Ideal vom autonomen Menschen. Warum sollte es ihm, der auf verschiedensten Gebieten enorme Fortschritte machen konnte, nicht auch möglich sein, seine Gesundheit aus eigener Kraft sicherzustellen? Sich ständig verbessernde medizinische Möglichkeiten lassen diese Hoffnung nicht unbegründet erscheinen. Auch das ausgeprägte Vorsorgesystem unserer Gesellschaft suggeriert dem Menschen, er habe seine Gesundheit selbst in der Hand. Somit präsentiert Gesundheit sich mehr und mehr als ein machbarer Zustand. Gleichzeitig ist sie nicht nur Objekt der menschlichen Autonomie, sondern auch deren wesentliche Voraussetzung. Nur ein gesunder Mensch, der nicht durch Krankheiten eingeschränkt wird, kann die Möglichkeiten ausschöpfen, die das Leben ihm bietet, und damit Erfüllung finden.
Aus christlicher Sicht erscheinen diese Entwicklungen aus verschiedenen Gründen als bedenklich: Der christliche Glaube sieht den Menschen als ein Geschöpf Gottes, das mit einer begrenzten Autonomie ausgestattet und dem daher vieles aus eigener Kraft möglich ist (vgl. Gen 1,28). Gleichzeitig wird aber auch unmissverständlich deutlich, dass dem menschlichen Handeln Grenzen gesetzt sind. Als Geschöpf bleibt der Mensch von Gott abhängig, was sich vor allem in seiner offensichtlichen Erlösungsbedürftigkeit zeigt. Es gibt Situationen, in denen der Mensch sich selbst nicht helfen kann. Das wird besonders mit Blick auf seine Endlichkeit deutlich. Das Ideal des autonomen Menschen, der „Herr“ über seine Gesundheit ist, läuft dem christlichen Menschenbild zuwider. Gesundheit ist aus christlicher Sicht ein Zustand, zu dem der Mensch in begrenztem Umfang beitragen kann (z.B. durch eine entsprechende Lebensführung, Ärzte, Medikamente), der sich aber wie der Tod letztlich seiner Verfügbarkeit entzieht. Als gefallener Mensch hat er keinen Anspruch auf Gesundheit. Sie kann ihm nur von Gott geschenkt und dankbar angenommen werden.
Zu hinterfragen ist auch, um welchen Preis eine Gesellschaft letztlich die Endlichkeit des menschlichen Lebens verdrängt. Dem biblischen Menschenbild zufolge ist die Vergänglichkeit eine wesentliche Eigenschaft unserer Existenz. Wer sie beiseite zu schieben versucht, täuscht damit über das wahre Sein des Menschen hinweg. Wenn Krankheit in einer Gesellschaft nicht mehr sein darf, kommt es zu Entwicklungen, die dem Menschen letztlich das Menschsein untersagen, denn Krankheit ist eine Seinsweise menschlichen Lebens. Wenn der Wert des Lebens sich nur noch daran bemisst, wie gesund ein Mensch ist – wie gut er also den Makel seiner Vergänglichkeit verstecken kann –, dann muss krankes Leben zwangsläufig wenig lebenswert erscheinen. Dass dieser Prozess der Abwertung „kranken“ Lebens bereits in vollem Gange ist, zeigt sich beispielsweise an unzähligen Abtreibungen (möglicherweise) behinderter Kinder und an der Diskussion um aktive Sterbehilfe. Solchen Entwicklungen ist aus christlicher Sicht entgegenzuhalten, dass der Wert des Menschen sich weder an dem Gesundheitszustand, noch an der Leistungsfähigkeit eines Menschen festmachen lässt, sondern allein in seiner Gottebenbildlichkeit begründet liegt (vgl. Gen 1,27). Der christliche Glaube ermutigt daher dazu, Vergänglichkeit sowie Krankheit als Teil des Lebens anzunehmen.
Um das tun zu können braucht der Mensch eine Perspektive, die über das irdische Leben hinausgeht. Angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung ist der christliche Glaube ein wichtiges Korrektiv, weil er die ausschließliche Konzentration auf das Diesseits infrage stellt. Er weist darauf hin, dass der Mensch seine Sehnsucht nach umfassendem Heil nicht durch einen guten Gesundheitszustand stillen kann. Wirkliches Heil ist etwas, das der Mensch sich selbst nicht geben kann. Er muss es sich von Gott schenken lassen. Wo hingegen Gesundheit und Heil gleichgesetzt werden oder die Frage nach dem Heil ganz aus dem Blick gerät, da werden Erwartungen an die Gesundheit gestellt, die sie nicht erfüllen kann. Demgegenüber stellt der christliche Glaube ein ewiges Leben nach dem Tod in Aussicht und bietet so eine Lösung für das Problem der menschlichen Vergänglichkeit.
Aus christlicher Sicht ist die übersteigerte Sorge um die Gesundheit in unserer Gesellschaft also durchaus kritisch zu sehen. Dabei geht es nicht darum, den Wert der Gesundheit im Leben des Menschen grundsätzlich zu verkennen. Vielmehr spricht der christliche Glaube sich für einen maßvollen Umgang mit dem Thema Gesundheit aus. Einerseits ist sie ein von Gott anvertrautes Gut, das es entsprechend zu pflegen gilt. Andererseits darf sie nicht als höchstes Gut vergöttert werden, denn absolute Gesundheit ist ein Zustand, den Gott dem Menschen erst für das Leben in der jenseitigen Welt verheißt.
VI. Gemeindepraktischer Ausblick
Das Thema Gesundheit bewegt die Menschen aktuell offensichtlich mehr als je zuvor. Deshalb sollten auch christliche Kirchen und Gemeinden auf diese aktuellen Fragen eingehen.
Zunächst sollten sich Kirchen und Gemeinden kritisch mit der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung auseinandersetzen. Diese geht von einigen Voraussetzungen aus, die Christen in dieser Form nicht teilen. Ein erster wichtiger Schritt kann also darin bestehen, Menschen in der Gemeinde für dieses Thema zu sensibilisieren. Das kann zum Beispiel in Form eines Vortragsabends geschehen, der sowohl die geschichtliche Entwicklung des Stellenwerts der Gesundheit aufzeigt, als auch die biblische Sichtweise beleuchtet. Kritisch zu sehende Punkte können anschließend gemeinsam erarbeitet oder ebenfalls im Rahmen des Vortrags erläutert werden. Wer das Thema Gesundheit auf diese Weise einmal reflektiert hat, wird es im Alltag bewusster wahrnehmen und seine Erscheinungsformen in den größeren Zusammenhang einordnen können. Auf diesem Hintergrund fällt es dann nicht mehr schwer, kritische Anfragen an die gängige Praxis zu formulieren.
Daneben ist die Beschäftigung mit dem Thema Gesundheit von unschätzbarem Wert für die gemeindliche Seelsorge. Wer in diesem Bereich tätig ist, wird es über kurz oder lang mit Menschen zu tun bekommen, die krank sind. Zu wissen, dass Krankheit nun einmal zum irdischen Leben dazu gehört, macht den Seelsorger in einer solchen Situation frei, gemeinsam mit dem Patienten den Tatsachen ins Auge zu sehen. Das hilft einem kranken Menschen weit mehr, als wenn er unbegründet auf eine möglicherweise eintretende Genesung vertröstet wird. Damit ist nicht gesagt, dass ein (menschlich gesehen unheilbar) kranker Mensch nicht doch um Heilung beten sollte. Selbstverständlich sind auch hier den Möglichkeiten Gottes keine Grenzen gesetzt. Jedoch muss die Seelsorge dem Menschen Raum bieten, sich auch mit der Option auseinanderzusetzen, dass Gott nicht heilend eingreift. Ein Seelsorger, der diesen Gedanken aushält, kann dem Kranken eine große Hilfe sein. Wirklicher Trost kann ihm trotz seiner ausweglosen Lage daraus erwachsen, dass er aufgrund seines Glaubens auf ein unvergängliches Leben ohne Krankheit im Jenseits hoffen darf.
Das Thema Gesundheit birgt zudem enorm großes Potenzial, den Menschen den Wert des Glaubens vor Augen zu malen. Wie sich gezeigt hat, kompensieren viele Menschen durch ihr extremes Gesundheitsstreben die Tatsache, dass ihnen eine Perspektive fehlt, die über das irdische Leben hinausgeht. Die große Chance des christlichen Glaubens ist es, dass er hier eine Antwort bieten kann. Menschen mit der Endlichkeit ihres Lebens zu konfrontieren, während die Gesellschaft sie überwiegend verschweigt, mag zunächst als Provokation empfunden werden. Da aber jeder Mensch zumindest im Unterbewusstsein um das Problem seiner Vergänglichkeit weiß, werden viele an diesem Punkt ansprechbar sein. Ausgehend von dem menschlichen Ringen mit der Krankheit ist es ohne weiteres möglich, auf die Kernaussagen des Evangeliums zu sprechen zu kommen. Wie nah diese Themen zusammen liegen, ist deutlich aus der Betrachtung zum Stellenwert der Gesundheit in der Bibel hervorgegangen.
Sowohl der seelsorgerliche als auch der missionarische Nutzen machen deutlich, dass der christliche Glaube dem Menschen angesichts von Grenzsituationen eine unschätzbare Deutungshilfe bietet. Dies gilt für den Umgang mit schwerer Erkrankung gleichermaßen wie für die grundsätzliche Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit. Wenn betroffene Gemeindeglieder im Rahmen eines Zeugnisabends oder eines Gesprächskreises aus persönlicher Erfahrung berichten, wie der Glaube ihnen in Grenzsituationen geholfen hat, kann das für andere Menschen eine große Ermutigung sein. Solche Berichte untermauern nicht nur die Tragfähigkeit des christlichen Glaubens, sondern führen gleichzeitig auch den relativen Stellenwert der Gesundheit vor Augen. Denkbar wäre auch ein Themenabend, der sich der Frage nach den Auswirkungen des Glaubens auf die Gesundheit widmet. Dieser Zusammenhang ist in verschiedenen Studien untersucht worden und wird durchaus kontrovers diskutiert.22Zu diesem Thema befindet sich auf der Homepage des Ethikinstituts (www.ethikinstitut.de) eine Dokumentation von Alex Bunn und David Randall mit dem Titel „Der Nutzen des christlichen Glaubens für die Gesundheit“. Darin finden sich viele Informationen, die einem solchen Themenabend zugrunde gelegt werden können. Download unter: https://ethikinstitut.de/bio-medizinethik/der-nutzen-des-christlichen-glaubens-fuer-die-gesundheit/ Solche herausfordernden Themen sprechen aber nicht nur Christen an und eröffnen somit weitere Möglichkeiten, den Wert des Glaubens für das Leben deutlich zu machen.
Sich den relativen Stellenwert der Gesundheit im Leben des Menschen bewusst zu machen, ist also in vieler Hinsicht lohnenswert. Die Bedeutung von Gesundheit richtig einzuschätzen, kann – ausgehend von einem christlichen Standpunkt – geradezu befreiend sein: Es macht dem Menschen deutlich, dass er als Geschöpf Gottes durchaus unvollkommen sein darf. Es bewahrt den Menschen vor utopischen gesundheitlichen Erwartungen im Hier und Jetzt. Es öffnet dem Menschen neu den Blick für eine Welt, in der endlich alles besser sein wird. Nur so ist schon heute ein Leben in Gelassenheit möglich.
© 2014 Institut für Ethik & Werte
Autorin
Kerstin Schmidt
Endnoten
- 1Der Werte-Index ist eine Studie, die seit 2009 alle zwei Jahre erstellt wird, indem entsprechende Angaben deutscher Nutzer im Internet ausgewertet werden. Eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse des Werte-Index‘ 2014 (Hg. Peter Wippermann / Jens Krüger) findet sich unter: http://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/detailansicht/aktuell/jeder-zweite-internetnutzer-diskutiert-ueber-emgesundheitem/ [16.01.2014].
- 2Siehe Statistisches Bundesamt, Gesundheit Ausgaben 2011, S. 13.
- 3Siehe Statistisches Bundesamt, Gesundheit Ausgaben 2011, S. 13.
- 4Vgl. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Bevoelkerung.html [14.11.2013].
- 5Siehe Statistisches Bundesamt, Gesundheit Ausgaben 2011, S. 3.
- 6Siehe Statistisches Bundesamt, Gesundheit Ausgaben 2011, S. 34.
- 7Vgl. http://www.gbe-bund.de/oowa921-install/servlet/oowa/aw92/dboowasys921.xwdevkit/xwd_init?gbe.isgbetol/xs_start_neu/&p_aid=i&p_aid=55263480&nummer=627&p_sprache=D&p_indsp=99999999&p_aid=14573525 [14.02.2014]
- 8C. Schwöbel, Verdrängte Geschöpflichkeit: die Flucht vor dem Tod, in: Pharmazeutische Zeitschrift 142 (1997), 3911-3917, 3911 (zitiert nach Baltes, Heillos gesund?, S. 17).
- 9Lütz, Lebenslust, S. 20.
- 10Zitiert nach Neumann, Gesundheit I. Ethisch, Sp. 877.
- 11Zu den beiden Ansätzen vgl. Baltes, Heillos gesund?, S. 63-70 und S. 92-96.
- 12Preamble to the Constitution of the World Health Organization as adopted by the International Health Conference, New York, 19-22 June, 1946; signed on 22 July 1946 by the representatives of 61 States (Official Records of the World Health Organization, no. 2, p. 100) and entered into force on 7 April 1948.
- 13Vgl. Rieger, Gesundheit, S. 186-215.
- 14Vgl. dazu z.B. die geschichtliche Darstellung bei Baltes, Gesundheit, S. 34-62.
- 15Vgl. dazu z.B. die Überlegungen bei Baltes, Heil-los gesund?, S. 15-30+195-198+340-354.
- 16Hoff, Gesundheit und Krankheit, S. 167.
- 17Vgl. Hoff, Gesundheit und Krankheit, S. 163.
- 18Vgl. Baltes, Heillos gesund?, S. 355.
- 19Vgl. Baltes, Heillos gesund?, S. 52; Gabriel, Gesundheit als Ersatzreligion, S. 34.
- 20Vgl. Rieger, Gesundheit, S. 15.
- 21Vgl. Baltes, Heillos gesund?, S. 197.
- 22Zu diesem Thema befindet sich auf der Homepage des Ethikinstituts (www.ethikinstitut.de) eine Dokumentation von Alex Bunn und David Randall mit dem Titel „Der Nutzen des christlichen Glaubens für die Gesundheit“. Darin finden sich viele Informationen, die einem solchen Themenabend zugrunde gelegt werden können. Download unter: https://ethikinstitut.de/bio-medizinethik/der-nutzen-des-christlichen-glaubens-fuer-die-gesundheit/
Bibliografie
Baltes, Dominik, Heillos gesund? Gesundheit und Krankheit im Diskurs von Humanwissenschaften, Philosophie und Theologie (Studien zur theologischen Ethik 137), Freiburg 2013
Böhm, Karin / Clemens Tesch-Römer u.a. (Hg.), Gesundheit und Krankheit im Alter (Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes), Berlin 2009; online einsehbar unter http://www.gbe-bund.de/gbe10/ owar ds.prc_show_pdf?p_id=11828&p_sprache=d&p_uid=&p_aid=&p_lfd_nr=1 [01.11.2013]
Diehl, Ulrich, Gesundheit – hohes oder höchstes Gut? Über den Wert und Stellenwert der Gesundheit, in: Gesundheitswesen zwischen Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit, Hg. Hermes A. Kick / Jochen Taupitz, Münster 2005; online einsehbar unter http://uwdiehl.jimdo.com/verschiedenes/downloads/ [30.12.2013]
Gabriel, Karl, Gesundheit als Ersatzreligion. Empirische Beobachtungen und theoretische Reflexionen, in: Zwischen Ersatzreligion und neuen Heilserwartungen. Umdeutungen von Gesundheit und Krankheit, Hg. Gregor Maria Hoff / Christoph Klein u.a. (Grenzfragen 33), Freiburg im Breisgau 2010, S. 25-43
Hoff, Gregor Maria, Gesundheit und Krankheit: Konsequenzen für die Rede von Gott und vom Menschen, in: Zwischen Ersatzreligion und neuen Heilserwartungen. Umdeutungen von Gesundheit und Krankheit, Hg. Gregor Maria Hoff / Christoph Klein u.a. (Grenzfragen 33), Freiburg im Breisgau 2010, S. 163-185
Hoff, Gregor Maria / Christoph Klein u.a. (Hg.), Zwischen Ersatzreligion und neuen Heilserwartungen. Umdeutungen von Gesundheit und Krankheit (Grenzfragen 33), Freiburg im Breisgau 2010
Kickbusch, Ilona, Die Gesundheitsgesellschaft, Wiener Vorlesung 2004, online einsehbar unter http://www.google.de/url?sa= t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=8&ved=0CGIQFjAH&url=http%3A%2F%2Fold.ilonakickbusch.com%2Fhealth-society %2Fwienervorlesung.doc&ei=7HtzUtjbAY7Dswbit4CoCw&usg=AFQjCNGEXglT-JuJmAWIOutuPQ0WMfrhCw [01.11.2013]
Kotsch, Michael, Krankheit und Gesundheit in der Bibel, online einsehbar unter http://cms.bibelbund.de/bibelstudien-a-predigten/502-krankheit-und-gesundheit-in-der-bibel.html [01.11.2013]
Lanzerath, Dirk, Gesundheit in Medizin und Gesellschaft, Vortrag im Rahmen der Tagung „Was heißt denn schon normal?“ Vorstellungen von Gesundheit, Krankheit und Behinderung in Genetik und Gesellschaft, Hannover 2005, online einsehbar unter http://www.imew.de/fileadmin/Dokumente/VT_Gesundheit_Medizin_Gesellschaft.pdf[01.11.2013]
Lütz, Manfred, LebensLust. Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult, München 2002
Martschewski, Anja, Hauptsache gesund oder Hauptsache heil? Was sagt uns die Bibel über Gesundheit und Krankheit, in: In der Heilung bleiben – Der Weg der Heiligung (Brennpunkt Seelsorge 1/2008, S. 4-7; online einsehbar unter http://www.ojc.de/ brennpunkt-seelsorge/gesundheit-chro-nisch-krank-heilung-jesus-bps-1-20.html [01.11.2013]
Neumann, Josef N., Gesundheit, in: RGG 3, 4. Aufl. Tübingen 2000, Sp. 876-878
Rieger, Hans-Martin, Gesundheit. Erkundungen zu einem menschenangemessenen Konzept (Forum Theologische Literaturzeitung 29), Leipzig 2013
Roth, Michael / Jochen Schmidt (Hg.), Gesundheit. Humanwissenschaftliche, historische und theologische Aspekte (Theologie – Kultur – Hermeneutik 10), Leipzig 2008
Statistisches Bundesamt, Gesundheit Ausgaben 2011, Fachserie 12 Reihe 7.1.1, online einsehbar unter https://www.de-statis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Gesundheit/Gesundheitsausgaben/AusgabenGesundheitPDF_2120711.pdf?__blob=publicationFile [14.11.2013]
Zukunftsinstitut GmbH Kelkheim (Hg.), Megatrend Gesundheit, online einsehbar unter http://wirtschafts-werbung-weilburg. de/userfiles/Gesundheit.pdf [01.11.2013]