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Bio- & MedizinethikAllgemein

Vom Stellenwert der Gesundheit im Leben des Menschen

Hauptsache gesund?!

I. Einleitung

Hauptsache gesund! Dieses Motto prägt das Denken vieler Deutscher. Ob bei der Geburt eines Kindes oder der Gratulation zum 80. Geburtstag –  der höchste Stellenwert ge­bührt nahezu ausnahmslos dem gesundheit­lichen Wohlbefinden.

Gesundheit wird nicht nur anderen ge­wünscht. Auch mit Blick auf sich selbst messen die Deutschen ihr eine enorm hohe Bedeutung zu. Im Werte-Index 2014 belegt Gesundheit unter den Werten, die den Deutschen am wichtigsten sind, den ersten Platz.1Der Werte-Index ist eine Studie, die seit 2009 alle zwei Jahre erstellt wird, indem entsprechende Anga­ben deutscher Nutzer im Internet ausgewertet werden. Eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse des Werte-Index‘ 2014 (Hg. Peter Wippermann / Jens Krüger) findet sich unter: http://www.pro-me­dienmagazin.de/gesellschaft/detailansicht/aktuell/je­der-zweite-internetnutzer-diskutiert-ueber-emgesundheitem/ [16.01.2014]. Damit ist ihnen Gesundheit aktuell wichtiger als Werte wie Freiheit, Familie und Erfolg. Diese enorme Hochschätzung der Gesundheit spiegelt sich auch im Be­reich der Finanzen wider: Im Jahr 2011 gaben die privaten Haushalte in Deutsch­land für den Bereich der Gesundheit 40 Milliarden Euro aus.2Siehe Statistisches Bundesamt, Gesundheit Ausgaben 2011, S. 13. Hinzu kamen weitere 250 Milliarden Euro, die nicht von den pri­vaten Haushalten selbst, sondern aus öf­fentlicher Hand und seitens der Arbeitgeber aufgewendet wurden.3Siehe Statistisches Bundesamt, Gesundheit Ausga­ben 2011, S. 13. Ausgehend von einer Bevölkerungszahl von 80,3 Mill. Einwoh­nern zum 31.12.20114Vgl. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Bevoelkerung.html [14.11.2013]. ergeben sich damit für 2011 Aufwendungen von stolzen 3.600 Euro pro Einwohner. Darin enthalten sind jedoch nur die Gesundheitsausgaben im engeren Sinne (z.B. für ärztliche Leistungen und Arzneimittel), nicht die im weiteren Sinne (z.B. für gesunde Ernährung, Fitnesskurse usw.).5Siehe Statistisches Bundesamt, Gesundheit Ausga­ben 2011, S. 3.

Der Trend zeigt, dass die Kosten von Jahr zu Jahr kontinuierlich steigen; gegenüber 1995 haben sie sich mittlerweile um mehr als die Hälfte erhöht.6Siehe Statistisches Bundesamt, Gesundheit Ausga­ben 2011, S. 34. Auch die Einnahmen der Krankenversicherungen steigen jährlich. 2012 betrugen allein die der Gesetzlichen 190 Milliarden Euro.7Vgl. http://www.gbe-bund.de/oowa921-install/servlet/oowa/aw92/dboowasys921.xwdevkit/xwd_init?gbe.isgbetol/xs_start_neu/&p_aid=i&p_aid=55263480&nummer=627&p_sprache=D&p_indsp=99999999&p_aid=14573525 [14.02.2014]

Dieser kurze Blick in die Statistik macht deutlich: Die Deutschen lassen sich ihre Gesundheit einiges kosten. Und das gilt nicht nur in finanzieller Hinsicht. Im Dienste der Gesundheit wird auch viel Zeit investiert: Menschen treiben stundenlang Sport, lesen Gesundheitsratgeber, schauen entsprechende Sendungen im Fernsehen an und lassen diverse Vorsorgeuntersuchungen von Ärzten vornehmen. Auch manche Ent­behrung wird im Dienste der Gesundheit gerne auf sich genommen: Man verzichtet auf Genussmittel, achtet auf eine gesunde Ernährung, nimmt Einschnitte in der Le­bensführung in Kauf. „Gesundheit ist ein unausweichliches, unentfliehbares Dauerthema geworden, das immer mehr Lebenszeit und Lebensenergie bindet.“8C. Schwöbel, Verdrängte Geschöpflichkeit: die Flucht vor dem Tod, in: Pharmazeutische Zeitschrift 142 (1997), 3911-3917, 3911 (zitiert nach Baltes, Heillos gesund?, S. 17). Daran zeigt sich: Gesundheit hat in unserer Ge­sellschaft eine sehr hohe Bedeutung.

Die folgenden Ausführungen sollen dazu dienen, sich der Frage nach der Gesundheit und ihrem Stellenwert im Leben des Men­schen anzunähern. Was bedeutet „Gesund­heit“ eigentlich? Wie hat sich der Stellen­wert der Gesundheit im Lauf der Ge­schichte verändert? Welche Bedeutung misst der christliche Glaube der Gesundheit im Leben eines Menschen bei? Dadurch wird es möglich, den gegenwärtigen Gesundheitstrend aus christlicher Perspektive kritisch zu beleuchten. Ein praktischer Ausblick zeigt, wie die gewonnenen Er­kenntnisse in der christlichen Gemeindearbeit angewendet werden können.

II. Definition: Was ist eigentlich Gesundheit

So überflüssig es zunächst erscheinen mag, Gesundheit zu definieren, umso schwieriger ist es. Wenn Manfred Lütz mit Blick auf die Gesundheit konstatiert „[N]iemand weiß genau, was das ist“9Lütz, Lebenslust, S. 20., dann trägt er damit der Tatsache Rechnung, dass bisher noch keine Definition vorgelegt wurde, die zu allge­meiner Anerkennung gelangen konnte. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die be­troffenen Fachgebiete wie Humanwissen­schaften, Anthropologie, Philosophie und Theologie, Gesundheit aus unterschiedli­chen Blickwinkeln definieren, und dass darüber hinaus selbst innerhalb derselben Disziplin oft keine einheitliche Auffassung von Gesundheit vertreten wird. 

Ein Ansatz, Gesundheit zu verstehen, kann als „genetisch-erklärend“ oder „funktional“ bezeichnet werden. Im Mittelpunkt steht hier die Frage nach der Entstehung von Krankheiten (Pathogenese) und der Entste­hung bzw. Wiederherstellung von Gesund­heit (Salutogenese). Gesundheit und Krankheit werden dabei rein kausal aufge­fasst: Ziel des Ansatzes ist es, Auslöser von Krankheiten zu identifizieren und zu ver­hindern. Daher kann beispielsweise der gesamte Bereich der Biomedizin hier ver­ortet werden. Gesundheit wird dabei gleichgesetzt mit der Funktionsfähigkeit aller Organe, Krankheit wird als Störung dieser Funktionsfähigkeit verstanden. An­haltspunkt dafür, ob ein Mensch als gesund oder krank anzusehen ist, ist damit die sta­tistische Norm. Laufen bei einem Men­schen die organisch-natürlichen Vollzüge ordnungsgemäß ab, gilt er als gesund. Die Mehrheit der Bevölkerung versteht Ge­sundheit im Sinne dieses Ansatzes. 

Vor allem Anthropologen wenden jedoch ein, dass eine solche Vorstellung von Ge­sundheit zu kurz greift. Gesundheit ist ihres Erachtens mehr als das rein physische Überleben eines Menschen. Sie weisen da­rauf hin, dass der Mensch aus einer Einheit von Leib und Seele besteht, die weder ge­trennt werden kann noch darf. Daher wer­ben sie für einen breiteren Ansatz, der als „anthropologisch“ oder „ganzheitlich“ be­zeichnet werden kann. Von Interesse ist hier nicht in erster Linie die kausale Entste­hung, sondern das wesensmäßige Sein von Gesundheit bzw. Krankheit. Die zentralen Fragen lauten daher, was Gesundheit bzw. was Krankheit ist, welche Wirkung sie auf den Menschen ausüben und inwiefern um­gekehrt der Mensch Einfluss auf seine Ge­sundheit bzw. Krankheit nehmen kann. Den verschiedenen Definitionen, die diesem Ansatz zugerechnet werden können, ist ge­meinsam, dass sie Gesundheit und Krank­heit als „Weisen des Menschseins“ verste­hen. Sie sind also verschiedene Erschei­nungsformen menschlichen Lebens. Da Leben hier ganzheitlich betrachtet wird, müssen auch Gesundheit und Krankheit wesentlich breiter verstanden werden. Sie können sich daher nicht allein in der Be­rücksichtigung rein körperlicher Aspekte erschöpfen, sondern werden auch durch psychische, kulturelle und soziale Faktoren beeinflusst. Diese umfassendere Begriffsauffassung führt dazu, dass Gesundheit nicht mehr als Funktionsfähigkeit des Kör­pers verstanden wird, sondern als Fähigkeit des Menschen, sein Leben trotz möglicher Störfaktoren zu bewältigen. „Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Störungen, Ge­sundheit ist die Kraft, mit ihnen zu leben.“10Zitiert nach Neumann, Gesundheit I. Ethisch, Sp. 877.

Auch ein körperlich kranker Mensch kann somit als gesund gelten, sofern es ihm ge­lingt, mit seinen Beeinträchtigungen zurechtzukommen. Vertreter eines solchen Gesundheitsverständnisses setzen Gesund­heit beispielsweise mit der Fähigkeit gleich, seine sozialen Rollen zu erfüllen (so Talcott Parsons) oder wichtige Lebensziele zu er­reichen (so Lennart Nordenfelt).11Zu den beiden Ansätzen vgl. Baltes, Heillos gesund?, S. 63-70 und S. 92-96. Auch die Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO, auf die in der Fachdiskussion sehr häufig Bezug genommen wird, ist hier zu verorten. Sie versteht Gesundheit als einen Zustand vollkommenen körperlichen, geis­tigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur als Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechlichkeit: „Health is a state of com­plete physical, mental and social wellbeing and not merely the absence of disease or infirmity.”12Preamble to the Constitution of the World Health Organization as adopted by the International Health Conference, New York, 19-22 June, 1946; signed on 22 July 1946 by the representatives of 61 States (Official Records of the World Health Organization, no. 2, p. 100) and entered into force on 7 April 1948.

Dass bislang keine einheitliche Definition für Gesundheit gefunden werden konnte, lässt darauf schließen, dass beide vorge­stellten Hauptgruppen Stärken und Schwä­chen haben. Die Stärke des funktionalen Ansatzes liegt eindeutig darin, dass er in der klinischen Forschung hilfreich einge­setzt werden kann, weil er mit ihrem Anlie­gen übereinstimmt, die Ursachen von Ge­sundheit und Krankheit erkennen zu wol­len. Dieses Vorgehen ermöglicht es, objek­tive Aussagen über den Gesundheitszustand einer Person zu treffen. Es bringt jedoch andererseits die Gefahr mit sich, Gesund­heit als rein biologischen Vorgang anzuse­hen. Die Grenzen ärztlichen Handelns kön­nen dabei schnell aus dem Blick geraten. Darüber hinaus wird Vertretern eines funk­tionalen Verständnisses vorgeworfen, den Menschen auf seinen Körper zu reduzieren und dadurch seinem wahren Sein nicht ge­recht zu werden. 

Dieser Schwäche wirkt der anthropologi­sche Ansatz entgegen, indem er bewusst die Ganzheitlichkeit des Menschen in den Mit­telpunkt seiner Überlegungen rückt. Ge­sundheit wird hier nicht als objektiv von außen feststellbarer Zustand begriffen, son­dern als ein äußerst komplexes Phänomen menschlichen Lebens, das von vielfältigen Faktoren abhängig ist. Gesundheit als Umgangsfähigkeit mit verschiedensten Lebenssituationen zu verstehen darf jedoch umge­kehrt nicht dazu führen, dass naturwissen­schaftliche Fakten vernachlässigt werden. Wenn dem subjektiven Empfinden des Pa­tienten mehr Bedeutung beigemessen wird als dem Befund des Arztes, schießt man über das Ziel hinaus. Der Fähigkeit des Menschen, mit Krankheiten und Einschrän­kungen umzugehen, sind auch (natürliche) Grenzen gesetzt. Damit rückt das anthro­pologische Gesundheitsverständnis zumin­dest potentiell in die Nähe einer utopischen Vorstellung. Insbesondere mit Blick auf die Gesundheitsdefinition, die die WHO vor­gelegt hat, wird dieser Vorwurf immer wie­der laut.

Die Stärken beider Ansätze versucht z.B. Hans-Martin Rieger zu verbinden, indem er sich für ein mehrdimensionales, „orthogo­nales“ Verständnis von Gesundheit aus­spricht.13Vgl. Rieger, Gesundheit, S. 186-215.

Demnach ist der Gesundheitsgrad eines Menschen sowohl von seiner Funkti­onsfähigkeit abhängig – und zwar in kör­perlicher, psychischer und sozialer Hinsicht -, als auch von seiner Umgangsfähigkeit mit eventuellen Einschränkungen. Der Gesamtzustand der Gesundheit eines Menschen setzt sich damit aus zwei unterschiedlichen Fähigkeiten zusammen. Auf diese Weise gelingt es Rieger, die Einseitigkeiten beider Hauptgruppen zu umgehen. Vielleicht kön­nen Mittelpositionen wie diese in Zukunft dazu beitragen, einer konsensfähigen Defi­nition von Gesundheit ein Stück näher zu kommen.

III. Der Stellenwert der Gesundheit - ein geschichtlicher Überblick

Welchen Stellenwert hatte die Gesundheit im Lauf der Geschichte? Wie hat sich diese Einstellung verändert?14Vgl. dazu z.B. die geschichtliche Darstellung bei Baltes, Gesundheit, S. 34-62.

Bereits in der Antike spielte die Sorge um die Gesundheit eine wichtige Rolle. Ärzte wurden in erster Linie aufgesucht, um von ihnen Ratschläge für die Erhaltung der Ge­sundheit einzuholen. Erst an zweiter Stelle ging es bei Arztbesuchen um die Behand­lung von Krankheiten durch Medikamente oder chirurgische Eingriffe. Bei aller Wert­schätzung der Gesundheit blieb man sich allerdings damals der Tatsache bewusst, dass absolute Gesundheit für den Menschen im irdischen Leben unerreichbar ist. Als gesund bezeichnete man einen Menschen dann, wenn er sich in einem Normalzustand zwischen Krankheit und absoluter Gesund­heit befand. Zurückgehend auf die „Vier-Säfte-Lehre“ (=Humoralpathologie) von Hippokrates stellte man sich diesen Nor­malzustand als ein Gleichgewicht der Säfte (Blut, Schleim, schwarze Galle, gelbe Galle) vor. Demnach wurde ein Mensch immer dann krank, wenn das natürliche Gleichgewicht dieser Elemente gestört war. Eine solche Störung konnte sowohl durch Umwelteinflüsse bedingt sein, als auch durch individuelle Gegebenheiten wie Al­ter, Ernährung oder Lebensgewohnheiten der erkrankten Person. Gesundheit war also in der Antike identisch mit dem natürlichen Normalzustand des Menschen. Sie spielte im Leben eine wichtige Rolle. Beachtung schenkte man besonders ihrer Erhaltung.

Auch im Mittelalter verstand man Gesund­heit und Krankheit medizinisch gesehen noch im Sinne der Lehre des Hippokrates. Eine Veränderung ist jedoch zu beobachten, was den Stellenwert der Gesundheit im Le­ben betrifft. Die Sorge um die Erhaltung der Gesundheit ging deutlich zurück. Ge­sund zu sein blieb zwar weiterhin ein wich­tiges Anliegen der Menschen, man ging also keineswegs gleichgültig und vernach­lässigend mit seiner Gesundheit um. Aber man betrachtete auch Krankheit als etwas, das selbstverständlich zum menschlichen Leben dazu gehörte. Gesundheit und Krankheit wurden beide als von Gott gege­ben angesehen. Man löste sich von der Vor­stellung, Gesundheit sei immer gut, Krank­heit immer schlecht. Stattdessen war man sich bewusst, dass auch der Krankheit ein Sinn zukommen kann und Gesundheit möglicherweise eine Gefahr darstellt, weil sie leicht die Endlichkeit des Lebens ver­gessen lässt. Insgesamt definierte man Le­bensqualität weniger über das gesundheitli­che Wohlbefinden, sondern vielmehr über die Frage, in welchem Verhältnis ein Mensch zu Gott, dem Schöpfer, stand. Es kann also für das Mittelalter festgehalten werden, dass der Stellenwert der Gesund­heit im Leben des Menschen gegenüber der Antike deutlich relativiert wurde.

Im Zuge der Neuzeit kam es dann zu weitreichenden Veränderungen, und zwar so­wohl im Verständnis von Gesundheit und Krankheit als auch hinsichtlich ihres Stel­lenwerts im Leben des Menschen. Auf me­dizinischer Seite wurde die Lehre des Hip­pokrates von den vier Säften verworfen, weil der naturwissenschaftliche Fortschritt neue Erkenntnisse über die Abläufe im menschlichen Körper mit sich brachte. Dass Krankheiten erklärbar wurden, führte wie­derum dazu, dass Gesundheit zunehmend als ein beeinflussbarer Zustand aufgefasst wurde. Wenn Gesundheit nun aber machbar war, so stellte dies grundlegend infrage, wovon man im Mittelalter überzeugt war: dass Gesundheit und Krankheit gottgegeben seien und dass auch Krankheiten ein Sinn zukommen könne. 

Zusätzlich begünstigt wurde diese Ent­wicklung dadurch, dass der christliche Glaube durch die einsetzende Säkularisie­rung im Leben der Menschen ohnehin an Bedeutung verlor. Das Interesse verlagerte sich von Gott auf den Menschen, vom Jen­seits auf das Diesseits. Dass dadurch der Stellenwert der Gesundheit im Leben der Menschen enorm stieg, ist verständlich, denn mit dem christlichen Glauben schwand auch die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Krankheiten als Bedrohung des irdischen und damit einzigen Lebens, das dem Menschen blieb, galt es mit natur­wissenschaftlichen, technischen Mitteln zu bekämpfen. 

Die Erwartungen der Menschen an die Me­dizin stiegen ständig an. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschte damit in der Neuzeit ein Gesundheitsverständnis vor, das dem genetisch-erklärenden, funktiona­len Definitionsversuch entspricht. Erst da­nach konnte sich mit der „Heidelberger Schule“ eine Gegenbewegung erfolgreich Gehör verschaffen, die den anthropologi­schen, ganzheitlichen Ansatz (s.o.) in die Diskussion einbrachte. Ihre Kritik richtete sich jedoch ausschließlich gegen das zugrunde gelegte Verständnis von Gesund­heit. Ihr hoher Stellenwert hingegen wurde nicht infrage gestellt. 

IV. Der Stellenwert der Gesundheit aus biblischer Sicht

Beim Blick in die Bibel fällt zunächst auf dass das Streben des Menschen nach Ge­sundheit zunächst einmal schlicht als natür­liche und legitime Tatsache beschrieben wird. So begegnen im Alten Testament Menschen wie Naaman und Hiskia, deren größter Wunsch es war, wieder gesund zu werden (vgl. 2Kö 5; 2Kö 20,1-11). Und auch im Neuen Testament, vor allem in den Evangelien, wird immer wieder von Men­schen berichtet, die sich nach körperlicher Heilung sehnten (vgl. z.B. Mt 4,23-24; 8,5-8; Mk 1,40-45; Joh 11,1-3; 2Kor 12,7-8). Neben dem Wunsch des Menschen nach Gesundheit wird an solchen Erzählungen auch deutlich: Krankheit ist in der Bibel eine Realität menschlichen Lebens. Es ist keine Ausnahme, dass Menschen krank werden und unter ihrer Krankheit leiden. 

Gerade dieses Leiden bringt es in der Regel mit sich, dass Menschen nach der Ursache ihrer Erkrankung fragen und sich um Hei­lung bemühen. Damit ist nicht nur die Frage nach dem Grund des Erkrankens im Einzelfall berührt, sondern auch ganz grundsätzlich die Frage, warum Menschen überhaupt krank werden. Der genetisch-erklärende Ansatz verweist hier auf Störun­gen in den biologischen Abläufen des Kör­pers; der ganzheitliche Ansatz begreift Krankheit als eine Weise des Menschseins. Keiner der beiden Ansätze fragt jedoch, warum der Mensch überhaupt für solche Störungen anfällig ist bzw. warum Krank­heit offensichtlich zum Leben des Men­schen dazugehört. 

Das Grunddokument des christlichen Glau­bens stellt hingegen diese Frage und beant­wortet sie auch. So wird die Vergänglich­keit des Menschen in Verbindung gebracht mit seiner Sündhaftigkeit, denn erst durch den Sündenfall wurden der Tod und damit die Vergänglichkeit zu einer unausweichli­chen Realität (vgl. z.B. Gen 2,17; Gen 3,19; Röm 5,12; Röm 6,23; Jak 1,15). Daraus folgt implizit, dass Krankheit im Sinne der Funktionsstörung und des Verfalls ebenfalls erst nach dem Sündenfall aufkam. Damit ist auf allgemeiner Ebene ein Zusammenhang zwischen Sünde und Krankheit behauptet. Krankheit ist daher nicht der ursprüngliche Schöpfungswille Gottes. Erst durch den Abfall des Menschen von Gott kommen Krankheit und Tod in die Welt hinein. Krankheit ist von daher ein Resultat aus der Sündhaftigkeit der menschlichen Natur.

Dieser Zusammenhang von Sünde und Krankheit darf jedoch nicht kategorisch auf jeden Einzelfall übertragen werden. Dass Menschen überhaupt krank werden, ist zwar Folge ihrer grundsätzlichen Sündhaftigkeit, was aber nicht bedeutet, dass jedem spezi­ellen Krankheitsfall als Ursache eine spezi­elle Sünde zugrunde liegen muss. Dieses Missverständnis hat es leider in der Ge­schichte der Kirche häufig gegeben. Bib­lisch gesehen kann tatsächlich konkrete Schuld der Grund einer Erkrankung sein (vgl. z.B. 2Chr 26,16-21; Ps32,1-5; Ps 38,4; Apg 5,1-11), muss es aber nicht (vgl. z.B. Hiob 2,1-10; Joh 9,1-3). Es gibt auch un­verschuldete Krankheit. Dass Krankheit gelegentlich dazu dienen kann, die Größe und Herrlichkeit Gottes deutlich zu machen (vgl. z.B. Joh 9,3; 2Kor 12,9) oder Men­schen zur Umkehr zu bewegen (vgl. z.B. Ex 9,8-12; Apg 9,1-18), darf wiederum nicht dazu verleiten, Krankheit generell als posi­tiv und gottgewollt anzusehen. Gott kann Krankheit zwar in seinem Sinne gebrau­chen, ihrem Wesen nach steht sie aber mit Sünde im Zusammenhang und ist daher als ein Übel anzusehen, das nicht dem ur­sprünglichen Willen Gottes entspricht. 

Dass Krankheit ein Übel ist, deckt sich auch mit der alltäglichen Erfahrungswelt des Menschen. Sowohl zur Zeit der Bibel wie auch heute versucht daher der gesunde Mensch, Krankheit zu vermeiden, der kranke Mensch, Gesundheit wiederzuerlan­gen. Das oberste Ziel dieses Strebens wäre im Idealfall die vollständige Überwindung jeglicher Krankheit, also die absolute Ge­sundheit. Aus biblischer Sicht wird der Mensch jedoch niemals in der Lage sein, dieses Ziel zu erreichen, weil er in einer gefallenen Welt lebt (vgl. z.B. Gen 8,21; Röm 7,14-24). Da er sich nicht von seiner Sündhaftigkeit befreien kann, kann er auch die Krankheit als deren Folge nicht voll­ständig überwinden.

Dennoch ist der Mensch bis zum heutigen Tag nicht an dem Punkt angekommen, die Endlichkeit und Begrenztheit seines Lebens widerstandslos hinzunehmen. Die Bibel führt das darauf zurück, dass die gesamte Schöpfung - und damit auch der Mensch - die Hoffnung in sich trägt, den Zustand der Vergänglichkeit eines Tages zu überwinden (vgl. z.B. Röm 8,20-25). In diesem Wunsch, der letztlich ein Wunsch nach ab­soluter Gesundheit (=Heil) ist, stimmt der Mensch zutiefst mit dem Heilswillen Gottes überein (vgl. z.B. Hes 18,23; Joh 14,19; 1Tim 2,4). Die gute Nachricht des christli­chen Glaubens ist es gerade, dass Gott die­sem Willen Geltung verschafft und in die ausweglose Situation des Menschen einge­griffen hat. Durch das Sterben und Aufer­stehen von Jesus Christus wird der Mensch, der sich ihm zuwendet, nicht nur von sei­nem sündhaften Wesen erlöst, sondern auch von den Auswirkungen der Sünde befreit. Ausdrücklich ist die Krankheit des Men­schen in diesen Erlösungsprozess einge­schlossen (vgl. Jes 53,4). Darauf weist auch die Tatsache hin, dass die Bibel den Him­mel als einen Ort beschreibt, an dem es kein Leid, keinen Schmerz, keine Krankheit mehr geben wird (vgl. Offb 21,4).

Dass die vollständige Realisierung der Er­lösung noch aussteht, machen die gegen­wärtige Lebenswirklichkeit der Menschen und das Zeugnis der Bibel gleichermaßen deutlich: Der Mensch sündigt noch immer. Sein Leben ist mit dem Tod weiterhin der Vergänglichkeit unterworfen. Sowohl sein Körper als auch seine Seele sind unverän­dert für Krankheiten anfällig. Dass mit dem Kommen Jesu dennoch eine neue Welt be­reits ihre Schatten voraus wirft, wird unter anderem daran deutlich, dass durch Chris­tus Menschen von Krankheiten geheilt wurden (vgl. z.B. Mt 8,1-3; Mt 9,1-8; Mt 9,27-34). Auch die Lehre des Paulus vom neuen Menschen deutet in diese Richtung: zwar ist sein wahres Wesen noch verbor­gen, doch Auswirkungen der Veränderung sollen schon jetzt im Leben des Gläubigen sichtbar werden (vgl. z.B. Eph 4,17-24; Kol 3,1-17). Durch Jesus, der sich selbst als Arzt für die Kranken bezeichnet hat (vgl. Lk 5,31-32), eröffnen sich dem Glaubenden auch neue Möglichkeiten für den Umgang mit eigener Krankheit: Er darf sich an den wenden, der selbst alle Krankheit getragen hat (vgl. Jes 53,4), und von ihm Beistand, Trost und neue Kraft erwarten (vgl. Mt 28,11).Die endgültige Befreiung von ihrem sündhaften Wesen und von jeglichen Aus­wirkungen der Sünde ist den Gläubigen dann für den Tag verheißen, an dem Jesus wiederkommt. Im Zuge der Auferstehung werden sie einen neuen Leib erhalten, der unvergänglich und damit dem Einfluss von Krankheit und Tod vollends entzogen ist (vgl. z.B. 1Kor 15,42-44+54-57).

Aus diesen Grundlinien des biblischen Menschenbildes, das den Menschen we­sentlich als erlösungsbedürftigen Sünder begreift, ergibt sich für den Stellenwert der Gesundheit im Leben des Menschen: Ge­sundheit ist ein erstrebenswertes Gut, das für den Menschen im irdischen Leben aber nur in begrenztem Ausmaß erreichbar ist. Das Streben nach absoluter diesseitiger Gesundheit ist daher von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dieses Wissen dient dem Menschen als Warnung davor, seine Gesundheit zum höchsten Gut und damit zum Götzen zu erheben. Ausschlaggebend für die Überwindung seiner Vergänglichkeit ist für den Menschen letztlich nicht sein Gesundheitszustand, sondern seine Gottesbeziehung, denn das eigentliche Übel des Menschen ist die Sünde, nicht die Krank­heit.

V. Hauptsache gesund? Ein Fazit aus christlicher Sicht

Ausgehend von den vorausgegangenen Be­trachtungen müssen aus christlicher Sicht einige kritische Anfragen an die gegenwär­tige „Hauptsache-gesund-Mentalität“ der Deutschen gerichtet werden. Wie der geschichtliche Überblick gezeigt hat, entwickelte sich die übermäßige Wert­schätzung der Gesundheit vor allem im Zuge der Neuzeit. Daher drängt sich die Frage auf, inwiefern diese Entwicklung als eine Folge der Säkularisierung und Indivi­dualisierung der Moderne anzusehen ist.15Vgl. dazu z.B. die Überlegungen bei Baltes, Heil-los gesund?, S. 15-30+195-198+340-354.

Auffällig ist jedenfalls, dass der Stellenwert der Gesundheit im Leben der Menschen gerade zu dem Zeitpunkt enorm anstieg, als der christliche Glaube an Bedeutung verlor. Hatte der Glaube an ein ewiges Leben im Jenseits den Menschen im Mittelalter noch Hoffnung angesichts ihrer Krankheit ver­mittelt, so schwand mit dem christlichen Glauben in der Neuzeit diese Hoffnung zunehmend. Damit geriet der Mensch in ein Dilemma: Er wurde weiterhin mit seiner Endlichkeit konfrontiert, hatte jedoch sei­nen bisherigen Deutungsrahmen für dieses Phänomen verloren, ohne in seiner aus­schließlichen Orientierung auf das Diesseits einen angemessenen Ersatz finden zu kön­nen.

Die Überzeugung, dass dem Menschen über dieses Leben hinaus nichts bleibt, führt un­weigerlich dazu, den Tod als endgültiges Aus anzusehen. Dieser Überzeugung steht jedoch die Sehnsucht des Menschen nach ewigem Leben entgegen. Da er nicht länger auf ihre Erfüllung im Jenseits hoffen kann, sucht er Wege, diese Sehnsucht im Dies­seits zu stillen. „Was vom Leben zu erwar­ten ist, steht nicht länger unter eschatologi­schem Vorbehalt, sondern unter dem Druck der Gegenwart.“16Hoff, Gesundheit und Krankheit, S. 167. Deshalb bemühen sich viele Menschen, sowohl die Lebensqualität wie auch die Lebensquantität mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu steigern. Für beides, Lebensqualität wie –quantität, ist aber die Gesundheit eine wesentliche Voraussetzung.17Vgl. Hoff, Gesundheit und Krankheit, S. 163. Interessant ist die Frage von Baltes, ob es sich bei dem Gesundheitsstreben nicht letztlich nur um eine Vermeidungsstrategie handelt.18Vgl. Baltes, Heillos gesund?, S. 355. Krankheit konfrontiert den Menschen verstärkt mit der Frage nach dem Sinn seines Lebens und mit seiner Endlichkeit. Da der Mensch auf diese Fragen meist keine Antwort hat, versucht er, Krankheiten zu vermeiden, um solche Fragen gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Aufgrund dieser Zusammenhänge von Glaubensverlust und Gesundheitsübersteigerung übernimmt das gegenwärtige Gesundheitsstreben eine quasireligiöse Funk­tion.19Vgl. Baltes, Heillos gesund?, S. 52; Gabriel, Gesundheit als Ersatzreligion, S. 34. Das Heil, das dem Menschen bislang durch den Glauben verheißen war, versucht er sich nun über eine optimale Gesundheit selbst zu verschaffen.20Vgl. Rieger, Gesundheit, S. 15. Damit ist das Gesundheitsstreben in letzter Konsequenz ein Versuch des Menschen, sich selbst zu erlö­sen.21Vgl. Baltes, Heillos gesund?, S. 197.

Zusätzlich begünstigt wurde und wird eine solche Entwicklung durch das gesellschaft­liche Ideal vom autonomen Menschen. Wa­rum sollte es ihm, der auf verschiedensten Gebieten enorme Fortschritte machen konnte, nicht auch möglich sein, seine Ge­sundheit aus eigener Kraft sicherzustellen? Sich ständig verbessernde medizinische Möglichkeiten lassen diese Hoffnung nicht unbegründet erscheinen. Auch das ausge­prägte Vorsorgesystem unserer Gesellschaft suggeriert dem Menschen, er habe seine Gesundheit selbst in der Hand. Somit prä­sentiert Gesundheit sich mehr und mehr als ein machbarer Zustand. Gleichzeitig ist sie nicht nur Objekt der menschlichen Auto­nomie, sondern auch deren wesentliche Voraussetzung. Nur ein gesunder Mensch, der nicht durch Krankheiten eingeschränkt wird, kann die Möglichkeiten ausschöpfen, die das Leben ihm bietet, und damit Erfül­lung finden. 

Aus christlicher Sicht erscheinen diese Entwicklungen aus verschiedenen Gründen als bedenklich: Der christliche Glaube sieht den Menschen als ein Geschöpf Gottes, das mit einer begrenzten Autonomie ausgestat­tet und dem daher vieles aus eigener Kraft möglich ist (vgl. Gen 1,28). Gleichzeitig wird aber auch unmissverständlich deutlich, dass dem menschlichen Handeln Grenzen gesetzt sind. Als Geschöpf bleibt der Mensch von Gott abhängig, was sich vor allem in seiner offensichtlichen Erlösungsbedürftigkeit zeigt. Es gibt Situationen, in denen der Mensch sich selbst nicht helfen kann. Das wird besonders mit Blick auf seine Endlichkeit deutlich. Das Ideal des autonomen Menschen, der „Herr“ über seine Gesundheit ist, läuft dem christlichen Menschenbild zuwider. Gesundheit ist aus christlicher Sicht ein Zustand, zu dem der Mensch in begrenztem Umfang beitragen kann (z.B. durch eine entsprechende Le­bensführung, Ärzte, Medikamente), der sich aber wie der Tod letztlich seiner Verfüg­barkeit entzieht. Als gefallener Mensch hat er keinen Anspruch auf Gesundheit. Sie kann ihm nur von Gott geschenkt und dankbar angenommen werden.

Zu hinterfragen ist auch, um welchen Preis eine Gesellschaft letztlich die Endlichkeit des menschlichen Lebens verdrängt. Dem biblischen Menschenbild zufolge ist die Vergänglichkeit eine wesentliche Eigen­schaft unserer Existenz. Wer sie beiseite zu schieben versucht, täuscht damit über das wahre Sein des Menschen hinweg. Wenn Krankheit in einer Gesellschaft nicht mehr sein darf, kommt es zu Entwicklungen, die dem Menschen letztlich das Menschsein untersagen, denn Krankheit ist eine Seinsweise menschlichen Lebens. Wenn der Wert des Lebens sich nur noch daran be­misst, wie gesund ein Mensch ist – wie gut er also den Makel seiner Vergänglichkeit verstecken kann –, dann muss krankes Le­ben zwangsläufig wenig lebenswert er­scheinen. Dass dieser Prozess der Abwer­tung „kranken“ Lebens bereits in vollem Gange ist, zeigt sich beispielsweise an un­zähligen Abtreibungen (möglicherweise) behinderter Kinder und an der Diskussion um aktive Sterbehilfe. Solchen Entwicklun­gen ist aus christlicher Sicht entgegenzu­halten, dass der Wert des Menschen sich weder an dem Gesundheitszustand, noch an der Leistungsfähigkeit eines Menschen festmachen lässt, sondern allein in seiner Gottebenbildlichkeit begründet liegt (vgl. Gen 1,27). Der christliche Glaube ermutigt daher dazu, Vergänglichkeit sowie Krank­heit als Teil des Lebens anzunehmen.

Um das tun zu können braucht der Mensch eine Perspektive, die über das irdische Le­ben hinausgeht. Angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung ist der christliche Glaube ein wichtiges Korrektiv, weil er die ausschließliche Konzentration auf das Diesseits infrage stellt. Er weist darauf hin, dass der Mensch seine Sehnsucht nach umfassendem Heil nicht durch einen guten Gesundheitszustand stillen kann. Wirkliches Heil ist etwas, das der Mensch sich selbst nicht geben kann. Er muss es sich von Gott schenken lassen. Wo hingegen Gesundheit und Heil gleichgesetzt werden oder die Frage nach dem Heil ganz aus dem Blick gerät, da werden Erwartungen an die Gesundheit gestellt, die sie nicht erfül­len kann. Demgegenüber stellt der christli­che Glaube ein ewiges Leben nach dem Tod in Aussicht und bietet so eine Lösung für das Problem der menschlichen Ver­gänglichkeit. 

Aus christlicher Sicht ist die übersteigerte Sorge um die Gesundheit in unserer Gesell­schaft also durchaus kritisch zu sehen. Da­bei geht es nicht darum, den Wert der Ge­sundheit im Leben des Menschen grund­sätzlich zu verkennen. Vielmehr spricht der christliche Glaube sich für einen maßvollen Umgang mit dem Thema Gesundheit aus. Einerseits ist sie ein von Gott anvertrautes Gut, das es entsprechend zu pflegen gilt. Andererseits darf sie nicht als höchstes Gut vergöttert werden, denn absolute Gesund­heit ist ein Zustand, den Gott dem Men­schen erst für das Leben in der jenseitigen Welt verheißt.

VI. Gemeindepraktischer Ausblick

Das Thema Gesundheit bewegt die Men­schen aktuell offensichtlich mehr als je zu­vor. Deshalb sollten auch christliche Kir­chen und Gemeinden auf diese aktuellen Fragen eingehen.

Zunächst sollten sich Kirchen und Gemeinden kritisch mit der aktuellen gesellschaftli­chen Entwicklung auseinandersetzen. Diese geht von einigen Voraussetzungen aus, die Christen in dieser Form nicht teilen. Ein erster wichtiger Schritt kann also darin be­stehen, Menschen in der Gemeinde für die­ses Thema zu sensibilisieren. Das kann zum Beispiel in Form eines Vortragsabends ge­schehen, der sowohl die geschichtliche Entwicklung des Stellenwerts der Gesund­heit aufzeigt, als auch die biblische Sicht­weise beleuchtet. Kritisch zu sehende Punkte können anschließend gemeinsam erarbeitet oder ebenfalls im Rahmen des Vortrags erläutert werden. Wer das Thema Gesundheit auf diese Weise einmal reflek­tiert hat, wird es im Alltag bewusster wahr­nehmen und seine Erscheinungsformen in den größeren Zusammenhang einordnen können. Auf diesem Hintergrund fällt es dann nicht mehr schwer, kritische Anfragen an die gängige Praxis zu formulieren.

Daneben ist die Beschäftigung mit dem Thema Gesundheit von unschätzbarem Wert für die gemeindliche Seelsorge. Wer in diesem Bereich tätig ist, wird es über kurz oder lang mit Menschen zu tun be­kommen, die krank sind. Zu wissen, dass Krankheit nun einmal zum irdischen Leben dazu gehört, macht den Seelsorger in einer solchen Situation frei, gemeinsam mit dem Patienten den Tatsachen ins Auge zu sehen. Das hilft einem kranken Menschen weit mehr, als wenn er unbegründet auf eine möglicherweise eintretende Genesung ver­tröstet wird. Damit ist nicht gesagt, dass ein (menschlich gesehen unheilbar) kranker Mensch nicht doch um Heilung beten sollte. Selbstverständlich sind auch hier den Mög­lichkeiten Gottes keine Grenzen gesetzt. Jedoch muss die Seelsorge dem Menschen Raum bieten, sich auch mit der Option aus­einanderzusetzen, dass Gott nicht heilend eingreift. Ein Seelsorger, der diesen Gedan­ken aushält, kann dem Kranken eine große Hilfe sein. Wirklicher Trost kann ihm trotz seiner ausweglosen Lage daraus erwach­sen, dass er aufgrund seines Glaubens auf ein unvergängliches Leben ohne Krankheit im Jenseits hoffen darf.

Das Thema Gesundheit birgt zudem enorm großes Potenzial, den Menschen den Wert des Glaubens vor Augen zu malen. Wie sich gezeigt hat, kompensieren viele Men­schen durch ihr extremes Gesundheitsstre­ben die Tatsache, dass ihnen eine Perspek­tive fehlt, die über das irdische Leben hin­ausgeht. Die große Chance des christlichen Glaubens ist es, dass er hier eine Antwort bieten kann. Menschen mit der Endlichkeit ihres Lebens zu konfrontieren, während die Gesellschaft sie überwiegend verschweigt, mag zunächst als Provokation empfunden werden. Da aber jeder Mensch zumindest im Unterbewusstsein um das Problem sei­ner Vergänglichkeit weiß, werden viele an diesem Punkt ansprechbar sein. Ausgehend von dem menschlichen Ringen mit der Krankheit ist es ohne weiteres möglich, auf die Kernaussagen des Evangeliums zu spre­chen zu kommen. Wie nah diese Themen zusammen liegen, ist deutlich aus der Be­trachtung zum Stellenwert der Gesundheit in der Bibel hervorgegangen.

Sowohl der seelsorgerliche als auch der missionarische Nutzen machen deutlich, dass der christliche Glaube dem Menschen angesichts von Grenzsituationen eine un­schätzbare Deutungshilfe bietet. Dies gilt für den Umgang mit schwerer Erkrankung gleichermaßen wie für die grundsätzliche Auseinandersetzung mit der eigenen End­lichkeit. Wenn betroffene Gemeindeglieder im Rahmen eines Zeugnisabends oder eines Gesprächskreises aus persönlicher Erfah­rung berichten, wie der Glaube ihnen in Grenzsituationen geholfen hat, kann das für andere Menschen eine große Ermutigung sein. Solche Berichte untermauern nicht nur die Tragfähigkeit des christlichen Glaubens, sondern führen gleichzeitig auch den relati­ven Stellenwert der Gesundheit vor Augen. Denkbar wäre auch ein Themenabend, der sich der Frage nach den Auswirkungen des Glaubens auf die Gesundheit widmet. Die­ser Zusammenhang ist in verschiedenen Studien untersucht worden und wird durch­aus kontrovers diskutiert.22Zu diesem Thema befindet sich auf der Homepage des Ethikinstituts (www.ethikinstitut.de) eine Do­kumentation von Alex Bunn und David Randall mit dem Titel „Der Nutzen des christlichen Glaubens für die Gesundheit“. Darin finden sich viele Informationen, die einem solchen Themen­abend zugrunde gelegt werden können. Download unter: https://ethikinstitut.de/bio-medizinethik/der-nutzen-des-christlichen-glaubens-fuer-die-gesundheit/  Solche heraus­fordernden Themen sprechen aber nicht nur Christen an und eröffnen somit weitere Möglichkeiten, den Wert des Glaubens für das Leben deutlich zu machen.

Sich den relativen Stellenwert der Gesund­heit im Leben des Menschen bewusst zu machen, ist also in vieler Hinsicht lohnens­wert. Die Bedeutung von Gesundheit rich­tig einzuschätzen, kann – ausgehend von einem christlichen Standpunkt – geradezu befreiend sein: Es macht dem Menschen deutlich, dass er als Geschöpf Gottes durchaus unvollkommen sein darf. Es be­wahrt den Menschen vor utopischen ge­sundheitlichen Erwartungen im Hier und Jetzt. Es öffnet dem Menschen neu den Blick für eine Welt, in der endlich alles besser sein wird. Nur so ist schon heute ein Leben in Gelassenheit möglich.

© 2014 Institut für Ethik & Werte

Kerstin Schmidt

Kerstin Schmidt

Endnoten

  • 1
    Der Werte-Index ist eine Studie, die seit 2009 alle zwei Jahre erstellt wird, indem entsprechende Anga­ben deutscher Nutzer im Internet ausgewertet werden. Eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse des Werte-Index‘ 2014 (Hg. Peter Wippermann / Jens Krüger) findet sich unter: http://www.pro-me­dienmagazin.de/gesellschaft/detailansicht/aktuell/je­der-zweite-internetnutzer-diskutiert-ueber-emgesundheitem/ [16.01.2014].
  • 2
    Siehe Statistisches Bundesamt, Gesundheit Ausgaben 2011, S. 13.
  • 3
    Siehe Statistisches Bundesamt, Gesundheit Ausga­ben 2011, S. 13.
  • 4
    Vgl. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Bevoelkerung.html [14.11.2013].
  • 5
    Siehe Statistisches Bundesamt, Gesundheit Ausga­ben 2011, S. 3.
  • 6
    Siehe Statistisches Bundesamt, Gesundheit Ausga­ben 2011, S. 34.
  • 7
    Vgl. http://www.gbe-bund.de/oowa921-install/servlet/oowa/aw92/dboowasys921.xwdevkit/xwd_init?gbe.isgbetol/xs_start_neu/&p_aid=i&p_aid=55263480&nummer=627&p_sprache=D&p_indsp=99999999&p_aid=14573525 [14.02.2014]
  • 8
    C. Schwöbel, Verdrängte Geschöpflichkeit: die Flucht vor dem Tod, in: Pharmazeutische Zeitschrift 142 (1997), 3911-3917, 3911 (zitiert nach Baltes, Heillos gesund?, S. 17).
  • 9
    Lütz, Lebenslust, S. 20.
  • 10
    Zitiert nach Neumann, Gesundheit I. Ethisch, Sp. 877.
  • 11
    Zu den beiden Ansätzen vgl. Baltes, Heillos gesund?, S. 63-70 und S. 92-96.
  • 12
    Preamble to the Constitution of the World Health Organization as adopted by the International Health Conference, New York, 19-22 June, 1946; signed on 22 July 1946 by the representatives of 61 States (Official Records of the World Health Organization, no. 2, p. 100) and entered into force on 7 April 1948.
  • 13
    Vgl. Rieger, Gesundheit, S. 186-215.
  • 14
    Vgl. dazu z.B. die geschichtliche Darstellung bei Baltes, Gesundheit, S. 34-62.
  • 15
    Vgl. dazu z.B. die Überlegungen bei Baltes, Heil-los gesund?, S. 15-30+195-198+340-354.
  • 16
    Hoff, Gesundheit und Krankheit, S. 167.
  • 17
    Vgl. Hoff, Gesundheit und Krankheit, S. 163.
  • 18
    Vgl. Baltes, Heillos gesund?, S. 355.
  • 19
    Vgl. Baltes, Heillos gesund?, S. 52; Gabriel, Gesundheit als Ersatzreligion, S. 34.
  • 20
    Vgl. Rieger, Gesundheit, S. 15.
  • 21
    Vgl. Baltes, Heillos gesund?, S. 197.
  • 22
    Zu diesem Thema befindet sich auf der Homepage des Ethikinstituts (www.ethikinstitut.de) eine Do­kumentation von Alex Bunn und David Randall mit dem Titel „Der Nutzen des christlichen Glaubens für die Gesundheit“. Darin finden sich viele Informationen, die einem solchen Themen­abend zugrunde gelegt werden können. Download unter: https://ethikinstitut.de/bio-medizinethik/der-nutzen-des-christlichen-glaubens-fuer-die-gesundheit/ 

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