Organspende – Ein Überblick über ein heikles Thema – Interview mit Prof. Dr. Christoph Raedel
Als wir unsere Leser1Dieses Interview wurde erstveröffentlicht in: Lydia 2/2017, Asslar: Lydia Verlag / Gerth Medien, 2017, S. 42-45. baten, uns ihre Meinung zum Thema Organspende zu schreiben, erreichten uns viele Fragen und die Bitte nach sachlichen Informationen. So haben wir uns entschieden, Prof. Dr. Christoph Raedel zu interviewen. Als Leiter des Instituts für Ethik & Werte in Gießen beleuchtet er medizinische, rechtliche und theologische Aspekte des Themas.
Herr Raedel, wie kann man sich den Verlauf einer Organtransplantation vorstellen?
Die erste Voraussetzung für eine Organentnahme ist, dass zwei Ärzte unabhängig voneinander nach den Richtlinien der Bundesärztekammer den Hirntod feststellen. Definiert ist der Hirntod als Zustand der unumkehrbar erloschenen Gesamtfunktion von Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm. Die für die Feststellung erforderlichen Untersuchungen können nur auf der intensivmedizinischen Station eines Krankenhauses vorgenommen werden. Übrigens handelt es sich bei den Personen, bei denen der Hirntod festgestellt wird, zu weniger als 20 Prozent um Unfallopfer. Bei vier von fünf Patienten hat die akute Hirnschädigung atraumatische Ursachen: Hirnblutungen, Hirntumore, Hirnentzündungen…
Ist der Hirntod aus Ihrer Sicht ein angemessenes Kriterium dafür, einen Menschen für tot zu erklären? Oder ist Sterben vielmehr ein Prozess, der nach dem Hirntod weitergeht?
Eine grundlegend wichtige Frage, denn gesetzlich ist die Organtransplantation an die Feststellung des Hirntods gebunden. Sie ist also ein medizinisches Kriterium, was etwas anderes ist als beispielsweise ein bestimmtes religiöses Verständnis vom Tod. Als Kriterium hat es sich jedoch weltweit durchgesetzt, auch wenn es zwischen den Staaten abweichende Procedere für die Feststellung des Hirntods gibt. Die Befürworter des Hirntodkonzepts argumentieren, dass die personale Identität an das Gehirn gebunden ist. Demnach gewährleistet das Gehirn die Integration des Organismus zu einer leib-seelischen Ganzheit. Mit dem Ausfall des Gehirns endet das integrierte Wechselspiel der Organe. Dass sich bei hirntoten Patienten bestimmte Vitalfunktionen wie Atem, Herzschlag und Stoffwechsel aufrechterhalten lassen, ist nicht mehr eine Leistung des Organismus, sondern der medizinischen Apparate. Das bedeutet: Es muss zwischen dem Tod des Menschen und dem Erlöschen sämtlicher Vitalfunktionen in allen Teilen des Körpers unterschieden werden – und genau diese Unterscheidung ermöglicht es, so paradox das klingen mag, Hirntoten lebendige Organe zu entnehmen, die im Empfänger dann fortleben.
Es gibt zahlreiche Kritiker des Hirntodkonzepts…
Kritiker sagen: Es gibt nicht ein einzelnes Organ, das den Organismus als Einheit integriert, sondern diese Leistung wird erst durch das Zusammenspiel des gesamten Organismus erbracht. Die Kritiker verweisen auch gerne darauf, dass historisch die Durchsetzung des Hirntodkriteriums mit dem Anliegen verknüpft war, Organtransplantationen rechtlich zu ermöglichen. Vor allem aber betonen sie, dass Sterben ein Prozess ist. Wenn man das Zusammenspiel aller Organe für die personale Identität des Menschen betont, dann handelt es sich bei „Hirntoten“ eigentlich um Menschen, die einen „totalen Hirninfarkt“, wie Josef Seifert es ausdrückt, erlitten haben. Sie sind in einer unumkehrbaren Phase des Sterbeprozesses, aber noch am Leben. Ihr Herz schlägt, die Organe werden durchblutet, der Brustkorb hebt und senkt sich beim Atmen, gebrochene Knochen können heilen, eine Schwangerschaft kann weitergehen. Die Konsequenz lautet: Der Patient stirbt nicht an der Hirnschädigung, sondern an der Organentnahme.
Ist das Hirntodkriterium Ihrer Meinung nach hinreichend zuverlässig?
Im Sinne einer Übereinkunft, dass dieser Patient medizinisch die Voraussetzungen für eine Organtransplantation erfüllt, ja. Aber die Medizin entscheidet nicht allein darüber, was Menschen unter Sterben und Tod verstehen. Dafür sind auch kulturelle und religiöse Vorstellungen von Bedeutung. Deshalb gibt es selbst unter Befürwortern der Organspende an diesem Punkt Uneinigkeit: Für wen der Hirntote ein Verstorbener ist, für den ist Organspende in der Regel kein Problem. Wer stattdessen vom unumkehrbaren Hirninfarkt spricht, wird sagen: Dieser Patient befindet sich in der finalen Sterbephase. Er konnte aber vorab seine Zustimmung dazu geben, dass ihm Organe entnommen werden und er daran stirbt. Das Problem ist hier, dass damit die Regel aufgegeben würde, Lebenden keine für sie selbst lebensnotwendigen Organe zu entnehmen, was ein Einfallstor dafür sein könnte, den Lebensschutz für schwer hirngeschädigten Menschen, wie an anenzephale Kinder, einzuschränken. Ein dritter Weg wäre, in einer Patientenverfügung für sich zu bestimmen, dass nur bestimmte Organe (z.B. eine der zwei Nieren), an deren Entnahme der Mensch nicht stirbt, entnommen werden dürfen. Damit ist auch deutlich, dass Kritiker des Hirntodkriteriums nicht unbedingt die Organspende ablehnen. Unbegründet ist schließlich meines Erachtens die Angst, dass in Deutschland die Hirntodfeststellung nicht verlässlich erfolgt. Die Vorgaben der Bundesärztekammer werden in den Krankenhäusern umgesetzt.
Kehren wir zum Ablauf einer Organtransplantation zurück. Was geschieht nach der Feststellung des Hirntods?
Bei ununterbrochener künstlicher Beatmung wird durch weitere Untersuchungen festgestellt, ob der Hirntote als Spender infrage kommt oder nicht, denn es dürfen nur gesunde Organe oder Gewebe übertragen werden. Im positiven Fall erfolgt eine Meldung an den zuständigen Koordinator der Deutschen Stiftung Organtransplantation, der für den gesamten weiteren Prozess wichtig ist. Die Angehörigen werden nun zum Gespräch gebeten, um den geäußerten oder mutmaßlichen Willen des Hirntoten im Blick auf eine mögliche Organspende zu erkunden. Angehörige erleben dieses Gespräch oft als belastend, müssen sie doch die Todesnachricht verarbeiten und befinden sich gerade in einer tiefen Trauer- oder Schockphase. Was auch schwierig ist: Der Hirntote, der ja weiter beatmet wird, zeigt nicht die typischen Todesanzeichen: Erkalten, Erstarren, Totenflecken auf der Haut … Diese treten erst ein, wenn die Maschinen abgeschaltet werden. Gerade dann werden die Angehörigen dem Verstorbenen nicht nahe sein können, da sie bei der Organentnahme natürlich nicht anwesend sein dürfen. Angehörige von Organspendern haben also keine Möglichkeit, den Patienten in der Phase zwischen dem medizinisch bezeichneten Hirntod und dem durch Eintreten der Todesanzeichen für die Angehörigen erfahrbaren Tod durchgängig zu begleiten und ihm nahe zu sein.
Wie viel Zeit haben die Angehörigen, um eine Entscheidung zu treffen, wenn der Sterbende keinen Organspendeausweis und keine Patientenverfügung hat? Und welche Angehörigen entscheiden?
Was die Angehörigen angeht, ist die Rangfolge klar festgelegt: Erst der Ehepartner, dann volljährige Kinder, dann Eltern oder eine als Vormund bestellte Person, dann volljährige Geschwister. In jedem Fall ist die Voraussetzung, dass in den letzten zwei Jahren ein persönlicher Kontakt zum Verstorbenen bestand. Die unvermeidliche Nötigung der Situation liegt darin, dass die Entscheidung im Gespräch fallen muss. Denn für die Organentnahme gilt: Je schneller die Transplantation erfolgt, desto höher sind die Chancen für eine erfolgreiche Übertragung. Und die Operation muss vorbereitet werden.
Welche Rechte haben die Angehörigen? Was können sie tun, wenn sie das Gefühl haben, dass Druck auf sie ausgeübt wird?
Rechtlich gilt: Die entscheidungsbefugte Person hat bei ihrer Entscheidung den früher geäußerten oder den mutmaßlichen Willen des Hirntoten zu beachten. Ist dessen Wille nicht zu ermitteln, dann muss der entscheidungsbefugte Angehörige nach seinen eigenen Wertvorstellungen entscheiden. Dieser schmerzhafte Gesprächsgang wird dadurch erleichtert, wenn der Wille des Hirntoten in dieser Frage bekannt ist. Von daher empfiehlt sich das Tragen eines Organspendeausweises, alternativ eines Nichtspendeausweises oder das Abfassen einer Patientenverfügung. Existieren diese Dokumente nicht, müssen die Angehörigen die Entscheidung treffen. Wenn moralischer Druck auf die Angehörigen ausgeübt wird, verhindert das, dass sie eine authentische Entscheidung treffen können. Wer das Empfinden hat, unter Druck gesetzt zu werden, sollte dies klar zum Ausdruck bringen.
Wie geht es weiter, wenn die Zustimmung des Hirntoten oder des entscheidungsbefugten Angehörigen vorliegt?
Es müssen weitere organenthaltende Maßnahmen ergriffen und der Hirntote muss zur Operation vorbereitet werden. Der Koordinator übermittelt detaillierte Spenderdaten an die Vermittlungsstelle Eurotransplant. Dort wird dann nach geeigneten Empfängern gesucht. Es dürfen nur Organe entnommen werden, für die sich ein geeigneter Empfänger auf der Warteliste findet. Unter Narkose werden die zur Übertragung bestimmten Organe sowie Gewebe entnommen und zum Transport vorbereitet. Danach werden alle Schnitte wieder zugenäht. Der Verstorbene wird pietätvoll in einen präsentablen Zustand versetzt. Das ist auch deshalb wichtig, weil Angehörige im Verabschiedungsraum vom Verstorbenen Abschied nehmen können. Für das Pflegepersonal der Klinik stellt sich der Gesamtvorgang paradox dar: Nach dem Hirntodkonzept versorgen sie einen bereits Verstorbenen, sie behandeln ihn aber bis zur Operation wie einen schwerkranken, also noch lebenden Patienten, während die Angehörigen bereits den Verlust dieser Person betrauern.
Sie haben die Narkose erwähnt. Einige unserer Leser bewegt die Frage, ob Menschen nach dem Hirntod noch Schmerzen empfinden können. Inwieweit ist ein Schmerzempfinden aus medizinischer Sicht noch möglich?
Folgt man der Logik des Hirntodkonzepts, dann ist ein Schmerzempfinden eigentlich nicht mehr möglich. Aber die Medizin kann nicht einfach einer Logik des Messbaren folgen – zumal mein Schmerz von keiner anderen Person gefühlt oder gemessen werden kann. Sicherheitshalber wird also die Narkose eingesetzt. Einige sagen: Das geschieht eher zur Beruhigung der Angehörigen, andere möchten nicht ausschließen, dass damit ein noch vorhandenes Restempfinden für Schmerzreize unterdrückt wird. Das Ansteigen des Blutdrucks wäre dann Anzeichen für ein solches Restschmerzempfinden.
Welche theologischen Argumente gibt es für oder gegen Organtransplantationen?
Ein theologisches Urteil ist nur von den Grundüberzeugungen her zu gewinnen, die uns die Bibel zum christlichen Verständnis von Gott und vom Menschen überliefert. Befürworter der Organspende verweisen darauf, dass das Leben ein Geschenk Gottes ist, dass wir also nicht uns selbst gehören. Die Organspende ist dann eine Möglichkeit, das empfangene Geschenk des Lebens an einen Menschen in Lebensgefahr weiterzugeben. So wird die Organspende als Zeichen der Nächstenliebe verstanden. Als freie Tat könne sie jedoch nicht verpflichtend gemacht oder durch Druck erzwungen werden. Von der Verheißung der Auferstehung und des ewigen Lebens her sagen Befürworter, dass nach Paulus der Leib „verwandelt“ wird (1. Korinther 15,52). Deshalb ist die Unversehrtheit des sterblichen Leibes keine Bedingung dafür, zur Auferstehung von den Toten zu gelangen.
Kritiker der bestehenden Praxis argumentieren, dass es das menschliche Leben nicht abstrakt, sondern nur in der Individualgestalt einzelner Lebender gibt. Die Vorstellung, Leben weitergeben zu können, lasse aber das Leben zu etwas Abstraktem werden, das losgelöst von der Person betrachtet wird. Das einzelne Organ werde einem Zweckdenken („noch brauchbar?“) unterworfen und die Hirntoddiagnostik diene allein diesem Zweckdenken. Kritiker heben auch hervor, dass bei Organspendern eine ungestörte Begleitung des Sterbenden nicht möglich ist. Letztlich stehe die Transplantationsmedizin im Dienst eines Denkens, das der christlichen Auffassung von der Endlichkeit des Lebens entgegensteht. Wer die Auferstehung von den Toten erwarte, der könne und müsse keinen Anspruch auf Lebensverlängerung geltend machen, sondern kann den Tod als Vollendung des Lebens annehmen. Nach Klaus-Peter Jörns gehört es zur „Verherrlichung Gottes hinzu, das Angesicht des Todes auszuhalten; denn Gott begegnet uns nach christlichem Glauben auch im Tod“.
© 2018 Institut für Ethik & Werte
Autor
Prof. Dr. Christoph Raedel
Endnoten
- 1Dieses Interview wurde erstveröffentlicht in: Lydia 2/2017, Asslar: Lydia Verlag / Gerth Medien, 2017, S. 42-45.