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Bio- & MedizinethikAbtreibung

Gibt es ein Recht auf Abtreibung?

Eine Analyse der philosophischen Argumente aus christlicher Sicht

1. Einleitung

„My Body – My Choice!“ Mit diesem Slogan kämpfen Befürworterinnen eines Rechts auf Abtreibung für dessen Durchsetzung. „Defending Life!“ lautet die Antwort der Gegenseite. Beide Seiten gehen dabei davon aus, ein wichtiges Recht zu verteidigen. Dabei geht es auf der einen Seite um das Recht auf körperliche und reproduktive Selbstbestimmung und auf der anderen um das Lebensrecht eines ungeborenen Menschen. Die Fragestellung dieses Artikels greift die Grundannahmen der Debatte kritisch auf: „Gibt es ein Recht auf Abtreibung?“

Nun ist die Frage „Gibt es ein Recht auf Abtreibung?“ sehr vielschichtig. Daher möchte ich zu Anfang eine Eingrenzung vornehmen und begründen. Die Fragestellung „Gibt es ein Recht auf Abtreibung?“ soll sich hier nicht auf das positive, also in Deutschland bestehende, gesetzliche Rechte beziehen. Vielmehr wird es grundsätzlich um die Frage gehen, ob es ein solches Recht auf Abtreibung geben sollte, also ob es moralphilosophisch gesehen ein solches Recht auf Abtreibung gibt.

Es ist nicht möglich, in der Abtreibungsdebatte neutrale Begriffe zu verwenden. Weil ich den sehr medizinisch-distanzierten Begriff „Fötus“ vermeiden möchte, jedoch auch der Begriff „Kind“ oder „Baby“ gewisse Annahmen voraussetzt, die nicht von allen Autoren, auf die ich mich beziehe, geteilt werden, habe ich mich für den etwas umständlichen Ausdruck „ungeborener Mensch“ entschieden. Mir ist bewusst, dass auch dieser Begriff eine Vorannahme beinhaltet, nämlich dass es sich bei einer befruchteten Eizelle von Anfang an um menschliches Leben handelt. Dies ist jedoch meines Erachtens biologisch gut belegt:

„Unter Anatomen und Zellbiologen besteht [...] mehrheitlich der Konsens, dass der Mensch ein Organismus mit einem spezifischen Erbgut ist, der im Regelfall durch die Fertilisation (Befruchtung) und damit durch die Verschmelzung von Eizelle und Spermium zu existieren beginnt.“1Vgl. Gonser, Abtreibung, 19.

In Bezugnahme auf die Biologie gehe ich daher davon aus, dass Ungeborene sich als Menschen und nicht zu Menschen entwickeln.2Jacobs, Consensus. Die Verwendung des Ausdrucks „Mensch“ im biologischen Sinn soll an dieser Stelle jedoch noch nicht darüber entscheiden, ob dieser biologische Mensch auch eine menschliche Person ist, die über Menschenrechte verfügt.

Ob, und wenn ja, inwiefern ein ungeborener Mensch über Menschenrechte verfügt, soll Gegenstand des ersten Teils dieses Artikels sein. Dazu werden die Argumente der zwei einflussreichen Philosophen Judith Jarvis Thomson und Peter Singer, die ein Recht auf Abtreibung postulieren, dargestellt. Im Anschluss zur Darstellung ihrer Argumentationsweisen werde ich philosophische Einwände rezipieren. Nach einer abschließenden Bewertung der philosophischen Abtreibungsdebatte werde ich sie in einem zweiten Teil anhand der Theologen Karl Barth und Stanley Hauerwas um eine christliche Perspektive erweitern. Dann werde ich auf die Frage eingehen, welche Rolle eine theologische Perspektive in einem säkularen Abtreibungsdiskurs einnehmen kann, bevor ich abschließend ein Urteil formulieren werde.

2. Gibt es ein Recht auf Abtreibung, wenn ungeborene Menschen Personen sind?

2.1 Das Nutzungsrecht ungeborener und seine Grenzen bei Judith Jarvis Thomson

2.1.1 Die Geigeranalogie

Thomson und Singer sind sich darüber einig, dass es philosophisch ein Recht auf Abtreibung gibt. Worin sie sich unterscheiden, ist in der Frage, ob es sich bei einem ungeborenen Menschen um eine Person handelt. Wir schauen uns zunächst die Position Thomsons an. Thomson will zeigen, dass es ein Recht auf Abtreibung gibt, selbst wenn der ungeborene Mensch eine Person mit Rechten ist.

Thomson lädt dafür zu folgendem Gedankenexperiment ein: Mit der sogenannten Geigeranalogie will Thomson die Situation einer schwangeren Frau verbildlichen. Man solle sich vorstellen, eine Person wache eines Tages im Krankenhaus auf, angeschlossen an einen Geiger. Dieser Geiger habe ein Nierenversagen, und die Person sei von der Gesellschaft der Musikliebhaber entführt worden. Sie sei die einzige Person, die den Geiger mit ihrer Niere am Leben erhalten könne, wenn sie neun Monate lang an ihn angeschlossen mit ihm in einem Bett liege. Danach wäre der Geiger geheilt. Koppele sie sich jedoch früher ab, würde der Geiger sterben.3Vgl. Thomson, Verteidigung, 11f. Aufgrund der englisch-deutschen Ausgabe des Werkes ist mit f. stets die übernächste Seite gemeint. Der Krankenhausdirektor argumentiere nun folgendermaßen: Der Geiger habe als Person ein Recht auf Leben, das stärker sei als das Recht auf Selbstbestimmung der entführten Person. Daher dürfe sie sich nicht von dem Geiger entkoppeln, selbst wenn die entführte Person den Geiger mit ihrer Niere nicht nur für neun Monate, sondern für neun Jahre oder länger am Leben erhalten müsste. 4Vgl. ebd., 13. Diese Schlussfolgerung des Krankenhausdirektors hält Thomson für „ungeheuerlich“,5Vgl. ebd., 13. lässt jedoch zunächst offen, warum. Deutlich ist, dass sie die Argumentationsweise des Krankenhausdirektors mit der Argumentationsweise im Lebensrechtargument gleichsetzt.6Vgl. Schroth, Nachwort, 89. Die Situation der entführten Person lasse sich eins zu eins auf die Situation einer Schwangeren nach einer Vergewaltigung beziehen. Für Thomson steht es außerfrage, dass sich die entführte Person natürlich vom Geiger abkoppeln dürfte. Und sie hält fest: Wenn es der entführten Person erlaubt wäre, sich vom Geiger abzukoppeln, wäre auch eine Abtreibung nach einer Vergewaltigung erlaubt.7Vgl. Thomson, Verteidigung, 15.

Was wäre nun, wenn durch die Schwangerschaft das Leben der Frau akut in Gefahr wäre? Für Thomson ist eine Abtreibung in dieser Situation Notwehr. Um ihren Einwand einleuchten zu lassen, überträgt sie die Situation wieder auf die Geigeranalogie: Wenn der Anschluss an den Geiger dazu führen würde, dass die entführte Person sterbe, dann müsse sie nicht liegenbleiben und auf ihren eigenen Tod warten. In dieser Situation sei es für Dritte auch angebracht, der Frau bei ihrer Notwehr zu helfen.8Vgl. ebd., 23ff.

2.1.2 Abtreibung als gerechte Tötung

Warum darf sich die entführte Person in Thomsons Augen eigentlich so selbstverständlich vom Geiger abkoppeln, obwohl dieser doch auch ein Recht auf Leben hat? Für Thomson besteht das Recht auf Leben darin, nicht ungerechterweise getötet zu werden.Sich vom Geiger abzukoppeln sei nicht ungerecht, denn der Geiger habe kein Recht auf die Nutzung der Nieren der entführten Person.9Vgl. ebd., 41. Wenn sich nun laut Thomson die moralische Beurteilung einer Tötung dadurch ermitteln lässt, dass man fragt, ob diese Tötung gerechter- oder ungerechterweise erfolgt, stellt sich bezüglich des moralischen Urteils einer Abtreibung nur eine Frage: Ist eine Abtreibung eine ungerechte Tötung?10Vgl. ebd., 43. Für Thomson gilt das Recht auf Leben nur dann, wenn dafür nicht der Körper einer anderen Person genutzt wird. Eine Ausnahme besteht für sie, wenn diese Person die Nutzung erlaubt habe oder die nutzende Person ein Anrecht auf die Nutzung hat. Beides sei bei einer Schwangerschaft aufgrund einer Vergewaltigung nicht der Fall. Das Anrecht bestehe jedoch, wenn die Schwangere durch freiwilligen Geschlechtsverkehr für die Existenz der Person in ihrem Bauch verantwortlich sei.11Vgl. ebd., 43f. Jedoch sei diese Verantwortung dennoch nicht immer gegeben. Mit weiteren blumigen Analogien versucht Thomson zu zeigen, dass eine Schwangere dann keine Pflicht gegenüber dem ungeborenen Menschen in ihrem Bauch habe, wenn sie nach bestem Wissen und Gewissen verhütet habe, um seine Existenz zu verhindern.12Vgl. ebd., 47ff.

2.1.3 Die barmherzige Samariterin

Zuletzt betont Thomson, dass das Recht der Frau, über ihren Körper selbst zu bestimmen, Geltung habe, selbst wenn es die Frau wenig kosten würde, das Kind auszutragen. So fasst sie zusammen:

„Außer in solchen Fällen, in denen die ungeborene Person ein Recht hat, es zu verlangen – und wir hatten die Möglichkeit offengelassen, dass es solche Fälle geben könnte –, ist niemand moralisch dazu verpflichtet, neun Jahre oder auch nur neun Monate lang große Opfer in Bezug auf Gesundheit, alle anderen Interessen und Belange und alle anderen Pflichten und Verpflichtungen zu erbringen, um eine andere Person am Leben zu erhalten.“13Ebd., 57f.

Wer die Nutzung des eigenen Körpers durch die ungeborene Person dennoch erlaube, verhalte sich wie eine barmherzige Samariterin. Diese Barmherzigkeit könne aber nicht von ihr verlangt werden, denn in allen anderen Situationen werde auch von niemandem verlangt, derart große Opfer zur Erhaltung des Lebens einer anderen Person zu bringen, wenn diese Person über kein Sonderrecht verfüge.14Vgl. ebd., 63.

2.1.4 Fazit: Gibt es bei Thomson ein Recht auf Abtreibung?

Judith Jarvis Thomson beantwortet die Frage, „Gibt es ein Recht auf Abtreibung?“, mit einem klaren „Ja“. Dabei geht sie davon aus, dass der ungeborene Mensch einen Anspruch auf alle Menschenrechte habe. Sie zeigt jedoch, dass der ungeborene Mensch dennoch nicht unbedingt sein Recht auf Leben einfordern dürfe. Er dürfe es nicht, wenn bei seiner Mutter keine Pflicht dazu bestehe, ihn zu versorgen. Diese Pflicht bestehe nicht, wenn sie keine Verantwortung für seine Existenz habe. Diese Verantwortung habe sie nicht, wenn sie beispielsweise Opfer einer Vergewaltigung geworden sei oder Verhütungsmittel eingesetzt habe. Im Fall, dass ihr Leben durch die Schwangerschaft in Gefahr gerate, sei eine Abtreibung Notwehr und daher auch erlaubt. Das Recht auf Leben könne also nur dann eingefordert werden, wenn es nicht das Recht auf körperliche Selbstbestimmung massiv einschränke.

2.2 Einwände gegen Thomsons Argument

2.2.1 Methodische Kritik

In ihrer Argumentation stellt Thomson zunächst die äußersten Grenzfälle einer Schwangerschaft dar: Die Schwangerschaft aufgrund einer Vergewaltigung und die Schwangerschaft, durch die das Leben der Mutter bedroht wird. Anstatt sich auf die weit überwiegende Zahl der in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen vorgenommenen Abtreibungen zu beziehen, greift sie auf die mit beiden Fallgruppen bezeichneten wenigen Grenzfälle zurück, um den ungeborenen Menschen als Angreifer gegen seine Mutter darstellen zu können. Nur von diesen Grenzfällen herkommend kann Thomson überhaupt versuchen zu plausibilisieren, warum der ungeborene Mensch auch in anderen Fällen einen unrechtmäßigen Eingriff in die körperliche Souveränität der Frau darstellen kann. Zudem bleibt Thomson uns die wichtige Präzisierung schuldig, in welchen Fällen genau der ungeborene Mensch nun ein Recht auf die Nutzung des Körpers der Frau haben soll. Sie möchte darauf nicht näher eingehen, jedoch ist dies für die Umsetzungspraxis ihres Prinzips entscheidend.

2.2.2 Metaphysische Einwände: Welche Implikationen ergeben sich aus Thomsons Menschenbild?

In seinen metaphysischen Einwänden stellt Beckwith das Menschenbild Thomsons infrage. Eine Person sei laut Thomson ein freies, von anderen Personen unabhängiges Individuum, das nur dann in Beziehung tritt, wenn es diese Beziehung auch will.15Vgl. Beckwith, Defending, 175. Wie in der Darstellung von Thomsons Position deutlich geworden ist, hat die Beziehung einer Frau zu ihrem ungeborenen Kind für sie vor allem den Charakter einer Nutzenbeziehung: Der ungeborene Mensch nutze den Körper der Frau für sein Überleben. Diese Nutzenbeziehung könne die Frau jedoch als selbstständiges und unabhängiges Individuum auch ablehnen. Beckwith stellt diesem Menschenbild die Vorstellung von Menschen als Personen in Gemeinschaft gegenüber. In dieser Gemeinschaft beginne das menschliche Leben, und aus dieser Gemeinschaft erwüchsen bestimmte Rollen und Aufgaben, wie beispielsweise das Elternsein und Bürgersein.16Vgl. ebd., 175f.

Aus Thomson anthropologischer Sicht ergeben sich laut Beckwith zwei Behauptungen, die beide bereits viele Voraussetzungen mitbrächten: „Pregnancy is not a prima facie good“17Ebd., 176. und „consent-to-sex is not consent-to-pregnancy“18Ebd., 176. Wenn Schwangerschaft ein prima facie Gut wäre, dann wären Thomsons Analogien nutzlos. Denn Thomson stelle in ihren Analogien eine Schwangerschaft als eine Verletzung der körperlichen Integrität der Frau dar.19Vgl. ebd., 176. Der zweiten Behauptung Thomsons, dass eine Einwilligung zum Sex nicht unbedingt eine Einwilligung in eine potenzielle Schwangerschaft voraussetze, liege Beckwith zufolge wiederum eine kontroverse Anthropologie zugrunde, die darauf basiere, dass der Gebrauch von Fortpflanzungsorganen von ihrer Zweckbestimmung abstrahiert werden dürfe.20Vgl. ebd., 179f. Wenn man jedoch, wie Beckwith es favorisiert, den Menschen und seine Organe als eine substanzielle Einheit mit einer Zielbestimmung betrachte, so müsste man zustimmen, dass die Zielbestimmung der Fortpflanzungsorgane die Fortpflanzung sei.21Vgl. ebd., 180.

2.2.3 Ethischer Einwand: Eltern haben Verantwortung

Beckwith betont, dass bei jeder Schwangerschaft, die aus einem einvernehmlichen Geschlechtsverkehr hervorgegangen ist, eine moralische Verantwortung vorliege. Auch ein Vater müsse gesetzlich für sein Kind Unterhalt bezahlen, selbst wenn er alles in seiner Macht Stehende getan habe, um die Entstehung des Kindes beim Geschlechtsverkehr mit seiner Partnerin zu verhindern und auch, wenn er das Kind selbst nach seiner Entstehung nicht wollte. Die Verantwortung des Vaters entstamme aus seiner Bereitwilligkeit zum Geschlechtsverkehr und aus seinem Wissen darüber, dass diese Handlung zur Entstehung eines neuen Menschen führen könne.22Vgl. ebd., 183. In Thomsons „künstlich konstruierter” Geigeranalogie sei es zwar richtig, dass der Geiger kein Recht auf die Niere der entführten Person habe, weil die entführte Person nicht dafür verantwortlich sei, dass der Geiger sie brauche. Anders sei es bei einer schwangeren Frau im Verhältnis zu ihrem ungeborenen Kind: Sie trage die Verantwortung für dieses Kind und habe daher auch die Pflicht, sich um dieses Kind zu kümmern.23Vgl. ebd., 184. Selbst die durch eine Vergewaltigung schwangere Frau sei für die Versorgung des ungeborenen Menschen in ihrem Bauch verantwortlich, einfach, weil er eben existiere, und sie die Einzige sei, die in der Lage dazu sei, ihn zu versorgen. Daher stellt für Beckwith zwar die Vergewaltigung einen nicht-legitimen Eingriff in die körperliche Integrität der Frau dar, nicht jedoch die Schwangerschaft.24Vgl. ebd., 195f.

2.3 Fazit: Gibt es ein Recht auf Abtreibung, wenn ungeborene Menschen Personen sind?

Dem Menschenbild des unabhängigen Individuums Thomsons stellt Beckwith ein Menschenbild gegenüber, in dem Menschen grundsätzlich in Beziehungen stehen, mit denen auch Verantwortungen füreinander einhergehen. Folgt man Thomsons Menschenbild, so lässt sich die Geigeranalogie auf eine Schwangerschaftssituation anwenden, weil nur ein Kriterium wichtig ist: Unabhängigkeit bzw. körperliche Selbstbestimmung. Ist Unabhängigkeit von anderen jedoch das, wonach sich menschliches Handeln im Kern richten sollte? Beckwith und Gonser verneinen dies, indem sie darauf hinweisen, dass die Beziehung einer Frau zu ihrem ungeborenen Kind natürlicherweise von Fürsorge geprägt ist. Diese Fürsorgebeziehung besteht, unabhängig von den Bedingungen ihrer Entstehung. In einem beziehungsorientierten Menschenbild entspricht die Geigeranalogie daher auch nicht einer Schwangerschaftssituation. Die Frage „Gibt es ein Recht auf Abtreibung?“ ist vor der Hintergrundfolie eines beziehungsorientierten Menschenbilds zu verneinen.

3. Sind ungeborene Menschen keine Personen?

Das Menschenbild, das Thomson wählen muss, um ihre Behauptung eines Rechts auf Abtreibung plausibel zu machen, trifft nicht auf die Wirklichkeit der Beschaffenheit der Menschen und ihrer Beziehungen zu. Bis jetzt wurde jedoch davon ausgegangen, dass ungeborene Menschen Personen sind, also alle Menschenrechte besitzen. Wer oder was bestimmt jedoch, ab wann und warum ein menschliches Wesen über Menschenrechte verfügt? Welche Kriterien können dafür angelegt werden? Dieser Frage hat sich der Philosoph Peter Singer gewidmet. Nach seinem Kriterium ist ein ungeborener Mensch noch keine Person, verfügt also noch nicht über Menschenrechte. Was dieses Kriterium ist und was es impliziert, soll im Folgenden ersichtlich werden.

3.1 Der Wert ungeborener Menschen bei Peter Singer

3.1.1 Der Präferenz-Utilitarismus und seine Implikationen

Um die Auffassung des Philosophen Peter Singers zum Thema Abtreibung verstehen zu können, ist es zunächst wichtig, die Grundlage seiner Ethik nachzuvollziehen. Singer ordnet seine Ethik der konsequentialistischen, d.h. einer an den Folgen einer Handlung orientierten Theorie des Utilitarismus zu. Utilitaristisch gedacht ist eine Handlung dann richtig, „wenn sie ebensoviel oder mehr Zuwachs an Glück für alle Betroffenen produziert als jede andere Handlung, und [...] falsch, wenn sie das nicht tut“.25Singer, Ethik, 17. Ein Präferenz-Utilitarist beurteilt eine Handlung danach, wie sehr durch diese Handlung die Präferenzen der von ihr Betroffenen getroffen werden.26Vgl. ebd., 128. Dabei geht es nur um die Interessen der von der Handlung Betroffenen, ganz unabhängig davon, wer diese Interessen hat.27Vgl. ebd., 39ff. Daher lässt sich nach Singer das Prinzip der Interessengleichheit auch nicht auf Menschen beschränken, denn wenn nicht nach den Merkmalen der von der Handlung Betroffenen unterschieden werden dürfe, dann dürfe auch nicht nach Gattungsmerkmalen unterschieden werden.28Vgl. ebd., 82f. Singer verabschiedet sich damit vom Speziesismus, der „Bevorzugung“ der biologischen Gattung des Menschen vor anderen Tiergattungen. Die Linie, die stattdessen bei der Berücksichtigung der von einer Handlung Betroffenen gezogen werden soll, ist die Empfindungsfähigkeit, das heißt die Eigenschaft, zu leiden und sich zu freuen. Von ihr hänge ab, ob ein Wesen Interessen habe oder nicht.29Vgl. ebd., 84ff.

Singer teilt alle Lebewesen in drei Kategorien ein, abhängig von ihrer Fähigkeit, Interessen haben zu können: (1) Das unbewusste, nicht empfindungsfähiges Leben habe keinen Wert an sich. Hierzu gehörten beispielsweise Pflanzen.30Vgl. ebd., 146. 2) Das bewusste, also für Schmerz und Lust empfindungsfähige Leben, das jedoch nicht selbstbewusst oder vernunftbegabt sei, habe einen Wert an sich. Es könne Lust empfinden und habe ein Interesse daran, möglichst lustvoll und schmerzfrei zu existieren. Zu dieser Kategorie zählten viele nichtmenschliche Tiere, Neugeborene und manche geistig Behinderte.31Vgl. ebd., 136ff. (3) Das selbstbewusste, vernunftbegabte Leben umfasse alle Lebewesen, die über Vernunft und Selbstbewusstsein verfügten. Diese Lebewesen könnten sich als in der Zeit existierend begreifen, mit Plänen für die Zukunft, und seien daher Personen.32Vgl. ebd., 120. Dazu gehörten viele Menschen, aber auch einige nichtmenschliche Tiere.33Vgl. ebd., 155. Das Leben einer Person sei besonders wertvoll. Das macht Singer anhand von verschiedenen Argumentationssträngen deutlich, die alle ihre Ausgangslage in der Fähigkeit zur Vernunft und zum Selbstbewusstsein einer Person haben.34Vgl. ebd., 124ff.

3.1.2 Der Wert des Lebens eines ungeborenen Menschen

Vor diesem Hintergrund entfaltet Singer seine ethische Haltung zur Abtreibung. Ganz im Sinne seiner Ablehnung des Speziesismus fragt Singer zunächst nach der genauen Definition von „menschlich“ und hält fest, dass mit „menschlich“ gemeint sein müsse, dass es sich um ein „Mitglied der Spezies Homo sapiens“35Ebd., 196. handle. „Menschlich“ im Sinne von Personsein könne nicht gemeint sein, da eine Person ein rationales und selbstbewusstes Wesen sein müsse. Ein ungeborener Mensch verfüge jedoch weder über Rationalität noch über Selbstbewusstsein.36Vgl. ebd., 195f. Die bloße Zugehörigkeit zu einer Spezies hat bei Singer jedoch noch keine moralische Relevanz, da, wie oben gezeigt wurde, das einzig moralisch relevante Merkmal die Fähigkeit sei, Interessen zu haben.37Vgl. ebd., 196. Somit sei die erste Prämisse des konservativen Arguments falsch, da allein die Tatsache, dass es sich um ein menschliches Leben handle, noch keine Aussage darüber machen könne, ob es Unrecht sei, dieses Leben zu nehmen.38Vgl. ebd., 196. Was die Ablehnung des Speziesismus für den Wert des Lebens eines ungeborenen Menschen konkret bedeutet, wird durch folgenden Vorschlag Singers deutlich:

„Ich schlage daher vor, dem Leben eines Fötus keinen größeren Wert zuzubilligen als dem Leben eines nichtmenschlichen Lebewesens auf einer ähnlichen Stufe der Rationalität, des Selbstbewusstseins, der Bewusstheit, der Empfindungsfähigkeit usw. Da kein Fötus eine Person ist, hat kein Fötus denselben Anspruch auf Leben wie eine Person.“39Ebd., 197.

Das bedeute, dass ein ungeborener Mensch, der noch keinen Schmerz empfinden könne, keinen Wert an sich habe, denn er habe auch noch kein Interesse. Ab dem Moment, ab dem der ungeborene Mensch Schmerzbewusstsein erlange, dürfe eine Abtreibung zwar nicht leichtgenommen werden, jedoch hätten die Interessen der Frau normalerweise Vorrang vor den „rudimentären Interessen selbst eines bewussten Fötus“.40Ebd., 197. Auch ein Spätabbruch sei daher keine unrechte Handlung. Allerdings solle das Töten eines ungeborenen Menschen möglichst schmerzfrei für ihn geschehen, denn sein einziges Interesse sei es, keine Schmerzen zu haben. Das Leben selbst für die Zukunft zu erhalten sei kein Interesse, das ein ungeborener Mensch haben könne.41Vgl. ebd., 198.

3.1.3 Fazit: Gibt es bei Singer ein Recht auf Abtreibung?

Wie Thomson bejaht auch Singer die Frage, ob es ein Recht auf Abtreibung gibt. Obwohl bei Singer die Kategorie „Rechte“ nicht explizit eine Rolle spielt, sind Rechte und Pflichten doch Begriffe, auf denen er indirekt seine Ethik aufbaut. Denn wenn Singer sagt, dass das Interesse jedes Lebewesens berücksichtigt werden müsse, sagt er nichts anderes, als dass jedes Lebewesen ein Recht darauf hat, dass sein Interesse berücksichtigt wird. Entscheidend ist nun, dass Peter Singer nur diejenigen Lebewesen als Personen definiert, die sich aufgrund ihrer Vernunft als Wesen in der Zeit verstehen. Alle Lebewesen, die Interessen haben, hätten ein Recht darauf, dass ihr Interesse berücksichtigt wird. Allerdings könnten nur Personen ein Interesse daran haben, in der Zukunft noch zu leben. Das bedeutet, dass auch nur Personen ein Recht darauf haben können. Nimmt man nun einem ungeborenen Menschen auf eine für ihn schmerzfreie Weise das Leben, dann kollidiert das Recht auf Selbstbestimmung der Frau bei Singer in keiner Weise mit dem Recht auf Leben eines Menschen, weil dieser Mensch keine Person sei, daher kein Interesse am Weiterleben als solches haben könne und daher auch kein Recht auf ein solches Weiterleben habe. So gibt es bei Singer nur ein Recht, das im Schwangerschaftskonflikt berücksichtigt werden muss: Das Recht der Frau, ihren Interessen als Person nachzugehen.

3.2 Einwände gegen Singers Argumentation

3.2.1 Schwächen bei Singers Ansatz

Der Theologe Wilfried Härle weist in seiner Auseinandersetzung mit dem Menschenbild Peter Singers auf einige Schwächen hin, die Singers Ansatz seiner Meinung nach hat. Zunächst stelle sich laut Härle die Frage, wer wie entscheiden solle, welche Interessen welches Lebewesen habe. Würden diese Entscheidungen, wie Singer vorschlägt, nur auf der Basis von Intelligenzmessungen getroffen, sei nicht ersichtlich, wie nicht-intelligentes Verhalten zu bewerten ist, das dem Anschein nach auch den Erhalt des eigenen Lebens zum Ziel hat, beispielsweise das Verhalten einer Fliege, die gejagt wird. Zudem stelle sich die Frage, wie beispielsweise mit nur temporären Todeswünschen umgegangen werden solle.42Vgl. Härle, Überlegungen, 315f. Die zweite Schwäche, die Härle nennt, ist, was in einem Interessenkonflikt geschehen solle. Welches Interesse von zwei selbstbewussten Lebewesen habe Vorrang, wenn ihre Interessen in einem Konflikt miteinander stünden?43Vgl. ebd., 316. Durch diese Frage wird deutlich, dass das solitäre ethische Kriterium des Interesses nicht ausreichen kann. Härle unterstellt Singer zumindest, dass auch er der Meinung sei, lebenserhaltende Interessen haben Vorrang vor lebenszerstörenden Interessen.44Vgl. ebd., 316f. Die dritte Schwäche bestehe laut Härle darin, dass Lebewesen möglichweise Interessen haben, die sie nicht zu jeder Zeit als Präferenzen artikulieren könnten. Das seien beispielsweise Interessen, die unbewusst bestünden oder langfristige Interessen daran, dass bestimmte kurzfristige Interessen nicht verwirklicht würden.45Vgl. ebd., 317. Eine weitere Anfrage Härles an Singers Kriterium für das Personsein, die Aktualisierbarkeit von Interessen, ist, ob es nach diesem Kriterium ethisch unproblematisch wäre, schlafende Personen umzubringen. Schlafende Personen haben kein aktuelles Selbstbewusstsein und daher auch kein aktuelles Interesse daran, in der Zukunft noch am Leben zu sein.46Vgl. ebd., 329.

All diese Schwächen führen laut Härle zu der Frage, ob es angemessen sei, die Kategorie der Interessen zur Leitkategorie eines Menschenbildes zu machen: „Trifft man das Entscheidende und Wesentliche am Menschen oder an der Person, wenn man sie als Interessen-Wesen versteht?“47Ebd., 317. Verneint man diese Frage, muss man ein anderes Menschenbild konzipieren, das mehr Überzeugungskraft entfaltet.

3.2.2 Relationsontologie

Härle geht von einem relationsontologischen Menschenbild aus, wobei er davon ausgeht, „dass das Sein des Menschen von allem Anfang an und in jeder Hinsicht durch Relation konstituiert ist“48Ebd., 317. Ein Mensch werde als Kind zweier spezifischer Elternteile bereits in Relationen hineingeboren und sei dadurch von Anfang an Teil einer bestimmten Familie, Kultur, sozialen Schicht, und historischen Zeit.49Vgl. ebd., 319. Härle unterscheidet dabei zwischen den zwei Relationen Bezogensein und Beziehung, wobei das Bezogensein das Sein in einer bereits gegeben Relation bezeichne, und die Beziehung eine Wahl beinhalte. Diese zwei Relationen seien auf vier verschiedene Relate anzuwenden: Auf das Selbst, auf die personalen und nicht-personalen Umweltinstanzen, und auf den Ursprung.50Vgl. ebd., 321f. Nun geht Härle davon aus, dass auch hochentwickelte Tiere eine aktive Beziehung zu sich selbst und zu personalen und nicht-personalen Umweltinstanzen haben, und nicht lediglich auf diese Relate bezogen sind.51Vgl. ebd., 323. Jedoch, so Härle, unterscheide den Menschen von allen anderen Lebewesen seine Beziehungsfähigkeit zum Ursprung. Alle Lebewesen seien zwar auf diesen Ursprung bezogen, aber nur der Mensch habe die Fähigkeit, eine durch Wahl konstatierte Beziehung zu diesem Ursprung zu haben.52Vgl. ebd. Diesem nicht-endlichen Ursprung verdankten sich alle endlichen Relate. Er werde „in der Tradition mit Begriffen wie ‚Natur‘, ‚Schicksal‘, ‚Ursprung‘ oder ‚Gott‘ bezeichnet“53Ebd., 321.. Härle nennt sein Menschenbild „relationsontologisches Menschenbild christlicher Prägung“54Ebd., 317.. Diese christliche Prägung wird nun deutlich, denn Härle sieht in der Beziehung zu Gott die Bestimmung des Menschen. Diese Bestimmung könne er zwar verfehlen, sie bleibe aber dennoch erhalten. Die Menschenwürde und damit die Menschenrechte erhielten ihren Grund in dieser Bestimmung.55Vgl. ebd., 327. Diese Bestimmung sei dem Menschen unabhängig von seinem Sosein „mit seinem Dasein gegeben“56Ebd., 332. und verweise auf den transzendenten Ursprung des Menschen, welcher ihm diese Bestimmung erst verliehen habe.57Vgl. ebd., 332.

3.3 Fazit: Sind ungeborene Menschen keine Personen?

Peter Singer knüpft das Personsein von Menschen an die kognitive Leistung, sich selbst als distinkte Entität in der Zeit zu verstehen, und daher das Interesse daran artikulieren zu können, in der Zukunft noch am Leben zu sein. Härle kann, nachdem er bereits einige Schwächen von Singers Konzeption aufgezeigt hat, darlegen, dass Singer, um zu vermeiden, dass er der Tötung schlafender Menschen zustimmen muss, sein eigenes Kriterium für das Personsein aufgibt. Singer kann also seinen eigenen Ansatz nicht kohärent ausführen. Zudem hat Singer, wie Thomson, ein reduziertes Menschenbild, in dem er den relationalen Charakter des Mensch-seins nicht beachtet. Daher kann mithilfe seiner Argumentation nicht überzeugend davon ausgegangen werden, dass ungeborene Menschen keine Personen sind.

Sowohl Thomson als auch Singer gehen von einem Menschenbild aus, in der die Lebenswirklichkeit der Frau, die in vielfältigen Beziehungen steht, nicht beachtet wird. Um in der Fragestellung also weiterzukommen, braucht es eine Horizonterweiterung, wie sie bei Härle bereits angeklungen ist. Im Folgenden soll die Fragestellung daher aus einer dezidiert christlichen Perspektive betrachtet werden, in der Überzeugung, dass diese einen positiven Beitrag zur Abtreibungsdebatte leisten kann.

4. „Freiheit zum Leben“ – Ab-treibung aus der Sicht Karl Barths

4.1 Das Leben als Leihgabe

Karl Barth versteht das menschliche Leben als Leihgabe Gottes. Die Freiheit, zu leben, bedeutet bei ihm, das eigene Leben und das Leben aller anderen Menschen als diese Leihgabe zu behandeln.58Vgl. Barth, Dogmatik, 380. Weil das Leben eine Leihgabe Gottes sei, dürfe der Mensch leben und empfange das Leben als Wohltat, als ein Gut.59Vgl. ebd., 380f. Das werde gerade dadurch erkennbar, dass Gott selbst in Jesus Christus ein menschliches Leben gelebt habe. Darum gelte es, Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben zu haben.60Vgl. ebd., 386. Diese Ehrfurcht zeige sich darin, dass das eigene Leben und das Leben anderer vom Menschen bejaht und von ihm gewollt werde.61Vgl. ebd., 387. Aus dem Gebot, zu leben, weil das Leben eine Leihgabe Gottes sei, leite sich das Verbot ab, zu töten, wie es sich in den zehn Geboten wiederfinde: „Du sollst nicht töten.“62Ebd., 453. Daher stehe das menschliche Leben unter Schutz. Dieser Schutz erfordere jedoch Modifikationen, weil das Leben eben nicht „ein zweiter Gott“63Ebd., 388. sei, sondern von Gott verfügt und begrenzt.64Vgl. ebd. Weil das Leben keine absolute Größe sei, gelte sein Schutz auch nicht unbegrenzt, sondern es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Grenzfall als ultima ratio in manchen Situationen ins Auge gefasst werden dürfe.65Vgl. ebd., 454.

Unter diesen Voraussetzungen ist für Barth klar, dass es kein lebensunwertes Leben gibt, selbst wenn der Wert eines menschlichen Lebens für alle Beteiligten nicht ersichtlich sein sollte, denn „was der Wert eines solchen Lebens ist, das ist Gottes Geheimnis“66Ebd., 483.

4.2 Leben dürfen anstatt leben müssen

Weil Gott das Leben schenke, bedeute, selbst über das eigene oder über fremdes Leben zu bestimmen, indem man es eigenhändig beendet, sich die Souveränität über das Leben anzumaßen. Jedoch sei es allein bei Gott, Leben zu geben und Leben auch wieder zu nehmen. Nur Gott dürfe darüber entscheiden, ob ein Leben „gelungen oder verfehlt, tragbar oder untragbar“67Ebd., 461. sei. Zwar dürfe der Mensch eine Meinung darüber haben, diese jedoch nicht zu einem Urteil werden lassen und so zu seinem eigenen Richter werden.68Vgl. ebd., 461. Das Zu-eigen-werden-Lassen dieser Einstellung führe nicht etwa in eine Enge, sondern befreie den Menschen im Blick auf sein eigenes Leben. Ein Mensch, der meint, er müsse leben, könne sich auch von diesem Leben müssen befreien wollen. Wirklich frei werde er jedoch, wenn er das Evangelium begreife, das ihm zuspreche: „Du musst ja gar nicht, du darfst ja leben!“69Ebd., 464. Das Leben wollen sei dann „das Wollen in dieser Freiheit, in der der Mensch gerade nicht Souverän und gerade nicht einsam ist, sondern Gott als den Schöpfer, Geber und Herrn seines Lebens beständig und unter allen Umständen über sich hat.“70Ebd.

Dieses Leben dürfen befreie von dem Druck, sein Leben selbst zu meistern und seinem Leben selbst Bedeutung verleihen zu müssen. Weil Gott gnädig sei, dürfe der Mensch annehmen, dass er nicht souverän sein müsse und die Verantwortung für sein Leben nicht selbst tragen müsse, sondern sie in Gottes Hände legen dürfe.71Vgl. ebd.

Vor diesem Hintergrund spricht Barth nun über Abtreibung. Dabei sei klar, dass es sich um die Tötung menschlichen Lebens handle, denn der Ungeborene sei von Anfang an ein eigener, wenn auch abhängiger, Mensch. Wer also abtreibt, müsse vor Gott verantworten, dass er über Leben und Tod eines Mitmenschen verfüge.72Vgl. ebd., 474. Barth konstatiert jedoch:

„Das ist aber auch sicher, dass das abstrakte Nein, das frühere Zeiten hier gesprochen haben, und das heute noch der einzige Beitrag der römischen Kirche zu dieser Sache ist, nun doch zu finster und zu steril ist, um wirksame Hilfe zu versprechen. Die Verkündigung des Gesetzes wird nämlich auch hier nichts ausrichten!“73Ebd., 476.

Denn wenn dem Menschen vorgeschrieben werde, leben zu müssen, werde er weder sein eigenes Leben noch das Leben eines ungeborenen Menschen wirklich respektieren. Wenn ein Mensch, eine Frau, jedoch verstehe, dass sie aus Freiheit und Gnade leben darf, werde sie nicht mehr die Beendung des Lebens im Schwangerschaftsabbruch fordern.74Vgl. ebd., 476f. Sie werde dann ihr Leben und das ihres Kindes als Leihgabe Gottes verstehen und Gottes Gebot, zu leben, als Freiheit, leben zu dürfen.75Vgl. ebd., 476. Gottes Nein zur Abtreibung gründe daher auf seiner Gnade, in der er das Leben schenke.76Vgl. ebd., 476. So muss eine Frau nicht souverän sein, sie muss nicht Meisterin ihres eigenen Lebens werden und sich daher vermeintlich von Umständen befreien, die sie in ihrer Souveränität einschränken. Stattdessen darf sie Gott souverän sein lassen und im Vertrauen auf ihn das Leben, das in ihr heranwächst, bejahen.

4.3 Fazit: Warum kann Barth nicht von einem Recht auf Abtreibung sprechen?

Das menschliche Leben ist nach Karl Barth Leihgabe Gottes. Daraus leite sich das Gebot, zu leben ab, dem das Verbot, zu töten, entspreche. Das menschliche Leben habe Wert, weil es von Gott verliehen werde und weil Gott sich in seiner Menschwerdung in besonderer Weise zu diesem menschlichen Leben bekannt habe. Daher spielen bei Karl Barth das aktuelle Entwicklungsstadium des Menschen oder seine kognitiven Fähigkeiten keine Rolle. Weil Barth von der Anrede Gottes an den Menschen herkommt, spricht er nicht von Rechten oder Pflichten, sondern von Geboten und Verboten. Das Gebot zu leben, sei dabei nicht als ein Muss zu verstehen, sondern als ein Dürfen. Weil Gott souverän sei über Leben und Tod, dürfe der Mensch sein Leben und das Leben aller anderen Menschen Gottes Fügung überlassen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum die Frage „Gibt es ein Recht auf Abtreibung?“ im ethischen Entwurf Barths nicht sinnvoll gestellt werden kann. Die Frau, die verstanden hat, dass sie leben darf, wird ihr Leben und das Leben ihres ungeborenen Kindes bejahen und die Frage, ob es ein Recht auf dessen Tötung gibt, nicht mehr stellen.

5. „Welche Menschen sollten wir sein, um Kinder in dieser Welt willkommen zu heißen?“ – Abtreibung aus der Sicht Stanley Hauerwas‘

5.1 Das Scheitern der philosophischen Abtreibungsdebatte

Der amerikanische Theologe Stanley Hauerwas vertritt die These, dass die philosophische Abtreibungsdebatte gescheitert ist, da Christen, die in der Debatte in der Regel moralische Vorbehalte gegen Abtreibung äußern, sich auf die argumentativen Rahmenbedingungen der liberalen, pluralistischen Gesellschaft eingelassen haben.77Vgl. Hauerwas, Arguments, 212.

Hauerwas konstatiert mit Verweis auf die Arbeit des Philosophen Alasdair McIntyre, dass es, um moralisches Einvernehmen in einer Gesellschaft zu erzielen, ein gemeinsames tradiertes Verständnis vom Wesen und dem Ziel der Menschheit brauche. Jedoch wolle sich die liberale Gesellschaft aber genau von der Gebundenheit an eine solche Tradition lösen, weshalb es in der Abtreibungsdebatte kein Einverständnis mehr darüber gebe, auf welchen Grundannahmen über die Menschheit eine Argumentation aufgebaut werden solle.78Vgl. ebd., 214f. Aufgrund dieser Unterschiede gehe es nicht mehr um die Frage, wie wir erkennen könnten, was gemeinsame Güter seien, sondern nur noch um die Frage, wie wir uns gegenseitig nicht bei der individuellen Glückssuche im Weg stehen könnten.79Vgl. ebd., 216. Daher sei dies auch der einzige Wert, auf dessen Grundlage ein Urteil in der Abtreibungsdebatte getroffen werden könne.80Vgl. ebd., 219.

Vor diesem Hintergrund wird die Frage, ob es ein individuelles Recht auf Abtreibung gibt, zur zentralen Frage in der philosophischen Abtreibungsdebatte. Eine sich daraus ergebende Frage ist, ob dem ungeborenen Menschen individuelle Freiheitsrechte zustehen und wenn ja, ob diese Rechte ihm einen Schutz vor einer Abtreibung garantieren können. In der Analyse der philosophischen Abtreibungsdebatte wurde bereits festgestellt, dass die gängigen Argumentationsweisen das Menschsein abstrahieren und die anthropologische Wirklichkeit nicht widerzuspiegeln vermögen. Hauerwas bietet nach der Darstellung seiner Beobachtungen am philosophischen Diskurs der liberalen Gesellschaft einen Erklärungsansatz dafür an: Die Sprache von individuellen Freiheitsrechten sei nicht angemessen, um zwischenmenschliche Verhältnisse zu beschreiben.81Vgl. Hauerwas, Rights, 128. So setze die Sprache von Rechten voraus, dass die Menschen grundsätzlich als Individuen beschrieben werden könnten, die einander Fremde oder sogar Feinde seien. Die Sprache von Rechten lasse menschliche Beziehungen zudem grundsätzlich als Vertragsbeziehungen erscheinen, durch die das eigene Überleben gesichert werden solle. Dadurch würden Menschen jedoch kommerzialisiert. So lasse die Sprache von Rechten Familien als eine Gruppe von durch Verträge miteinander verbundenen Individuen erscheinen, was jedoch das Gegenteil von Familie sei.82Vgl. ebd. Familienbeziehungen konstituierten sich eben nicht durch Verträge, sondern dadurch, dass Menschen in eine Familie hineingeboren werden. Die innerfamiliären Beziehungen könnten daher vielmehr durch gegenseitige Übernahme von Verantwortung charakterisiert werden.83Vgl. ebd., 128f.

Die Frage, ob Kinder Personen seien, führe daher in die falsche Richtung, denn Kinder sollten nicht deshalb respektiert werden, weil sie Personen seien, sondern weil sie Kinder seien. Als diese Kinder gehörten sie einer konkreten Gemeinschaft an, in der sie nicht aufgrund von ihren Rechten wertgeschätzt werden sollten, sondern aufgrund ihrer Zughörigkeit zu dieser Gemeinschaft.84Vgl. ebd., 138f. Die relevante Frage sei daher, wie wir zu Gemeinschaften werden könnten, in denen neues Leben willkommen geheißen werde. Zu dieser Frage trage die Sprache von Rechten jedoch sehr wenig bei.85Vgl. ebd., 140.

Die Gründe, warum sich eine Frau für eine Abtreibung entscheide, seien daher fast nie die Gründe, mit denen eine Abtreibung im philosophischen Diskurs gerechtfertigt oder verworfen werde. Bei der konkreten Entscheidung einer Frau gehe es nicht um das Lebensrecht des ungeborenen Menschen, sondern um die Qualität der Beziehung, aus der dieser Mensch entstanden sei.86Vgl. Hauerwas, Issue, 199. Hauerwas bezieht sich auf eine Studie Linda Franckes87Vgl. Francke, Linda Bird, The Ambivalence of Abortion, New York 1978. zu den Motiven von Frauen, die eine Abtreibung haben vornehmen lassen: „Franckes general observation [was] that the most critical factor in the decision to abort was the relationship with the male partner.“88Hauerwas, Issue, 200. Untersuchungen zu den Motiven von Frauen, die in Deutschland eine Abtreibung verlangen, bestätigen diesen Befund. (Anm. der Red.) Oft wollten Frauen die Beziehung zu ihren Partnern nicht verlieren und sähen sich daher zu einer Abtreibung gezwungen. Daher kommt Hauerwas zu dem Schluss: Während Abtreibung in der Diskussion oft als notwendig verteidigt werde, um Frauen ihr Recht auf Freiheit zu garantieren, werde sie in Wahrheit oft von Männern als Mittel verwendet, um sich von ihrer Verantwortung zu befreien.89Vgl. ebd., 201.

Um ihre eigene Sprache in der Abtreibungsdebatte entwickeln zu können, müssten sich Christen ihrer eigenen Überzeugungen bewusstwerden, aus denen heraus sie Abtreibung grundsätzlich für undenkbar halten.90Vgl. Hauerwas, Abortion, 610.

5.2 Welche Haltung sollten Christen zu Abtreibung haben?

Hauerwas schlägt vor, die christliche Haltung zum Thema Abtreibung nicht mithilfe von Argumenten, Fakten oder Prinzipien zu entwickeln, da diese zu abstrakt seien. Zielführender sei es vielmehr, einen narrativen Rahmen zu spannen.91Vgl. Hauerwas, Arguments, 221. In diesem narrativen Rahmen verstünden sich Christen als Teil einer historischen Gemeinschaft, die verbunden sei mit ihrer Tradition und ihren Vorfahren.92Vgl. ebd., 226.

Vor diesem Hintergrund entwickelt Hauerwas nun eine theologische Position zum Schutz des Lebens. Unter Rückbezug auf Barths Ausführungen kommt Hauerwas schließlich zu dem Schluss: „Our question is not ‘When does life begin?’ but ‘Who is its true sovereign?’“93Ebd., 225f.

Die Frage, wann das Leben beginnt, werde gestellt, weil davon ausgegangen werde, dass das Leben heilig sei. Genau dies glaubten Christen jedoch nicht, weil das Leben für sie kein absolutes Gut sei, sondern immer Leihgabe Gottes. Christen sollten daher hoffen, dass ein neues Leben bereits begonnen habe, weil sie glaubten, dass Gott neues Leben als Bereicherung für die Gemeinschaft schenken wolle.94Vgl. Hauerwas, Abortion, 614f. Die Frage, ob der ungeborene Mensch eine Person sei, die über ein Recht auf Leben verfüge, sei aus christlicher Perspektive genauso falsch. Hauerwas fasst die Kritik, die in dieser Arbeit bereits zu dieser Herangehensweise geäußert wurde, zusammen: Wer diese Frage stelle, rahme die Abtreibungsdebatte „in einen Kontext außerhalb gemeinschaftlicher Strukturen“95Ebd., 615; eigene Übersetzung.

Welche Haltung sollten Christen nun neuem Leben gegenüber einnehmen? Für Christen seien Ehe und Single-Sein gleichrangige Berufungen, die beide das Reich Gottes verkörperten. Die Ehe sei als Symbol von Gottes Treue der Ort, an dem neues Leben entstehen könnte.96Vgl. Hauerwas, Issue, 209f. Offenheit für Kinder zu haben sei für verheiratete Christen daher Teil ihrer ehelichen Berufung. Mit ihren eigenen Kindern setzten sie ein Zeichen für ihren Glauben daran, dass Gott auch zukünftig noch versorgen werde. Sie bezeugten mit ihren eigenen Kindern, dass sie glaubten, dass Gott der Herr über die ganze Geschichte sei, in der die Christen als eine Gemeinschaft, die schon lange da sei und auch in Zukunft noch da sein werde, lebten.97Vgl. Hauerwas, Arguments, 226. Christen hätten zudem die Zeit, Kinder zu bekommen, weil sie in ihrem Leben nichts beweisen oder erreichen müssten, weil sie die Welt nicht regieren müssten. Die christliche Haltung zu Abtreibung sei ein Zeichen dafür, dass Christen sich unter der Herrschaft Gottes wüssten.98Vgl. Hauerwas, Issue, 210.

Christen glaubten außerdem, dass gerade die Versorgung derjenigen, die am hilflosesten seien, zu ihrer Bestimmung gehöre:

„For it is the Christian claim that knowledge and love of God is fostered by service to the neighbour, especially the most helpless, as in fact that is where we find the kind of Kingdom our God would have us serve.”99Hauerwas, Arguments, 226.

Christen lebten dann in ihrer Berufung, wenn sie es lernten, gerade diejenigen zu lieben, die sie nicht zu lieben erwählt hätten. Die Versorgung von Kindern sei dabei nicht allein die Aufgabe ihrer biologischen Eltern, sondern der ganzen Gemeinschaft.100Vgl. ebd., 227f. Diese Gemeinschaft, die Kirche, sei die wahre Familie, in die Menschen durch die Taufe aufgenommen würden.101Vgl. Hauerwas, Abortion, 612. Kinder seien daher für die Berufung der Kirche, das Königreich Gottes zu vergrößern, nicht notwendig, denn auch Fremde könnten durch die Taufe Teil der Kirche werden. Jedoch sei die Kirche diejenige Familie, die immer offen dafür sein sollte, Kinder in ihrer Mitte willkommen zu heißen, und sie als Gabe Gottes und mit der Hoffnung, dass sie neue Bürger seinem Reich werden, zu betrachten.102Vgl. ebd., 613.

Wie sollten Christen nun mit diesem Verständnis von Abtreibung in der Öffentlichkeit auftreten? Hauerwas betont, dass es zuerst nicht um die Durchsetzung eines Abtreibungsverbotes gehen sollte. Christen sollten in erster Linie ihre offene Haltung bezüglich neuen Lebens bezeugen.103Vgl. ebd., 616. Das bedeute, schwangere Frauen nicht allein zu lassen, sondern sie als Gemeinschaft zu unterstützen. Das heiße beispielsweise, dass Christen ihre Häuser für Mütter und Kinder öffneten.104Vgl. ebd., 620f. Um das tun zu können, sei es wichtig, Abtreibung öffentlich als das zu sehen und zu benennen, was es ist, indem die richtige Sprache gebraucht werde.105Vgl. ebd., 611. Daher sollten Christen den moralisch negativ aufgeladenen Begriff „Abtreibung“ beibehalten und nicht etwa den Begriff „Schwangerschaftsabbruch“ verwenden, da letzterer wie eine normale medizinische Behandlung klinge.106Vgl. ebd., 611.

5.3 Fazit: Warum kann Hauerwas nicht von einem Recht auf Abtreibung sprechen?

Hauerwas bringt ein beziehungsorientiertes Menschenbild mit den theologischen Erwägungen Barths zusammen und setzt beides in den narrativen Kontext der christlichen Gemeinschaft. In dieser Hinsicht sind die Überlegungen Hauerwas‘ meines Erachtens weiterführend: Er betont die Wichtigkeit der christlichen Gemeinschaft, als deren Teil Christen Kinder betrachten sollten. Mit seiner Frage, wie Christen ungeborene Menschen als Kinder in ihrer Mitte willkommen heißen können, trifft Hauerwas aus einer theologischen Sicht den Kern der Abtreibungsthematik.

6. Die Rolle einer theologischen Sichtweise im säkularen Abtreibungsdiskurs

6.1 Eine Frage der Autonomie?

Sowohl Singer als auch Thomson verteidigen in ihrer Argumentation grundsätzlich die Autonomie des Menschen. Laut Singer sollte es einer Person erlaubt sein, selbstbestimmt ihren Interessen nachzugehen, welche Interessen es auch immer sein mögen. Thomson verteidigt die Autonomie der Frau dadurch, dass sie sogar das Recht auf diese Autonomie einfordert. Das ungeborene Kind wird daher als eine Bedrohung gegen die Autonomie der Frau gesehen. Dagegen können zwei Einwände erhoben werden. Der erste Einwand lautet: Ist die schwangere Frau tatsächlich autonom in ihren Entscheidungen? Wie durch die Ausführungen Hauerwas‘ deutlich wurde, spielt oft die Beziehung zum männlichen Partner eine wichtige Rolle in der Entscheidung der Frau. Ist die Entscheidung noch autonom, wenn sie beispielsweise aus Angst heraus getroffen wird, vom Partner verlassen zu werden und das Kind allein großziehen zu müssen? Der zweite Einwand lautet: Verleiht uns Autonomie tatsächlich die Freiheit, die wir uns durch sie erhoffen? Oder ist Autonomie nicht auch eine große Last, die Last, allein Entscheidungen treffen zu müssen, eigene Pläne verfolgen zu müssen, und unsere Beziehung wählen zu müssen? Mit den Worten Karl Barths: leben zu müssen? Um zu echter Freiheit zu gelangen, reicht es nicht aus, wenn der Mensch auf sich selbst verwiesen bleibt. Damit soll nicht gesagt werden, dass der Mensch nicht grundsätzlich Entscheidungsfreiheit haben soll, oder sein Leben nicht selbst in den Umständen, in die er gestellt ist, mitgestalten darf. Um diese Entscheidungsfreiheit jedoch lebensbejahend zu gestalten, braucht es eine Horizonterweiterung.

Was kann diese Horizonterweiterung leisten? Der Theologe Karl Barth betont, dass nur der Gehorsam gegenüber Gottes Gebot, tatsächlich zur Freiheit verhelfen kann. Der Mensch ist bei Barth eigenständig, weil er von Gott angeredet wird und sich zu dieser Anrede verhalten kann. Hört er auf diese Anrede Gottes, kann er sein Leben und das Leben aller anderen Menschen als Leihgabe begreifen. Das macht ihn frei, sein Leben in Abhängigkeit von Gott gestalten zu dürfen, weil dieser allem Leben seinen Wert und sein Ziel gibt. Der Mensch muss nichts mehr erreichen, er muss nicht autonom seine eigenen Ziele verfolgen, er darf das Leben als Geschenk annehmen und muss in neuen Leben keine Bedrohung mehr sehen. Das Willkommenheißen von neuem Leben kann daher niemals die so verstandene Freiheit einer Frau einschränken, weil sie gerade Freiheit darin findet, „Ja“ zu neuem Leben sagen zu dürfen.

Wie kann sie jedoch in dieser Freiheit leben, wenn ihre Lebensumstände laut „Nein“ zu dem neuen Leben schreien? Stanley Hauerwas beantwortet diese Frage, indem auf die Verantwortung der Gemeinschaft verweist. Ein Kind großzuziehen ist nicht die alleinige Aufgabe seiner Eltern, sondern geschieht im Kontext einer konkreten Gemeinschaft. Eine christliche Gemeinschaft kann einer schwangeren Frau dadurch die Freiheit, neues Leben willkommen zu heißen, gewähren, indem sie auf verschiedene Weise Verantwortung für dieses neue Leben übernimmt.

6.2 Welchen Beitrag können Christen zur gesellschaftlichen Abtreibungsdebatte leisten?

Es ist die Aufgabe christlicher Gemeinschaften, ihre Offenheit gegenüber neuem Leben für ihr Umfeld sichtbar und spürbar auszuleben. Das bedeutet konkret, schwangere Frauen in ihrem Umfeld mit großem Einsatz zu unterstützen. In ihrer Haltung zur Abtreibung können Christen daher für die Gesellschaft sichtbar einen alternativen Lebensentwurf vorleben und artikulieren, der ihr Umfeld herausfordern und im besten Fall überzeugen wird. Daneben darf jedoch der Einsatz in der säkularen Abtreibungsdebatte nicht fehlen. Zwar kann aus der Widerlegung säkularer Argumente noch keine dichte Anthropologie gewonnen werden, jedoch kann diese Widerlegung die Ausgangslage für den Plausibilisierungsversuch einer christlichen Haltung bieten.

7. Fazit: Gibt es ein Recht auf Abtreibung?

Bereits die Untersuchung der philosophischen Abtreibungsdebatte hat gezeigt, dass die Forderung eines solchen Rechts in einem Menschenbild wurzelt, in dem Menschen grundsätzlich als miteinander verfeindete, autonome Individuen betrachtet werden, und auf ihre kognitiven Leistungen reduziert werden. Auf diese Weise wird neues, menschliches Leben grundsätzlich als Bedrohung der Autonomie der Schwangeren angesehen. Neben den argumentativen Fehlschlüssen, die sowohl bei Thomson als auch bei Singer aufgezeigt werden konnten, muss die Frage gestellt werden, ob wir als Gesellschaft ein solches Menschenbild tatsächlich vertreten, bzw. vertreten wollen. Die These, die in diesem Text zu plausibilisieren versucht wurde, ist, dass Menschen sich eben nicht auf ihre Autonomie oder Rationalität reduzieren lassen, sondern als Beziehungswesen zu begreifen sind. Erst wenn wir uns als Beziehungswesen begreifen und unsere Gottesbeziehung bejahen, können wir unsere Bestimmung erfahren, was uns dazu freisetzt, neues Leben in unserer Mitte willkommen zu heißen. Die Frage, die dann beantwortet werden muss, ist nicht mehr, ob es ein Recht auf Abtreibung gibt, sondern auf welche Weise wir unserer Verantwortung gegenüber ungeborenen Menschen nachkommen können. Christen bezeugen, dass dies nur in Gemeinschaft möglich ist.

Sophia Keppler

Endnoten

  • 1
    Vgl. Gonser, Abtreibung, 19.
  • 2
    Jacobs, Consensus.
  • 3
    Vgl. Thomson, Verteidigung, 11f. Aufgrund der englisch-deutschen Ausgabe des Werkes ist mit f. stets die übernächste Seite gemeint.
  • 4
    Vgl. ebd., 13.
  • 5
    Vgl. ebd., 13.
  • 6
    Vgl. Schroth, Nachwort, 89.
  • 7
    Vgl. Thomson, Verteidigung, 15.
  • 8
    Vgl. ebd., 23ff.
  • 9
    Vgl. ebd., 41.
  • 10
    Vgl. ebd., 43.
  • 11
    Vgl. ebd., 43f.
  • 12
    Vgl. ebd., 47ff.
  • 13
    Ebd., 57f.
  • 14
    Vgl. ebd., 63.
  • 15
    Vgl. Beckwith, Defending, 175.
  • 16
    Vgl. ebd., 175f.
  • 17
    Ebd., 176.
  • 18
    Ebd., 176.
  • 19
    Vgl. ebd., 176.
  • 20
    Vgl. ebd., 179f.
  • 21
    Vgl. ebd., 180.
  • 22
    Vgl. ebd., 183.
  • 23
    Vgl. ebd., 184.
  • 24
    Vgl. ebd., 195f.
  • 25
    Singer, Ethik, 17.
  • 26
    Vgl. ebd., 128.
  • 27
    Vgl. ebd., 39ff.
  • 28
    Vgl. ebd., 82f.
  • 29
    Vgl. ebd., 84ff.
  • 30
    Vgl. ebd., 146.
  • 31
    Vgl. ebd., 136ff.
  • 32
    Vgl. ebd., 120.
  • 33
    Vgl. ebd., 155.
  • 34
    Vgl. ebd., 124ff.
  • 35
    Ebd., 196.
  • 36
    Vgl. ebd., 195f.
  • 37
    Vgl. ebd., 196.
  • 38
    Vgl. ebd., 196.
  • 39
    Ebd., 197.
  • 40
    Ebd., 197.
  • 41
    Vgl. ebd., 198.
  • 42
    Vgl. Härle, Überlegungen, 315f.
  • 43
    Vgl. ebd., 316.
  • 44
    Vgl. ebd., 316f.
  • 45
    Vgl. ebd., 317.
  • 46
    Vgl. ebd., 329.
  • 47
    Ebd., 317.
  • 48
    Ebd., 317.
  • 49
    Vgl. ebd., 319.
  • 50
    Vgl. ebd., 321f.
  • 51
    Vgl. ebd., 323.
  • 52
    Vgl. ebd.
  • 53
    Ebd., 321.
  • 54
    Ebd., 317.
  • 55
    Vgl. ebd., 327.
  • 56
    Ebd., 332.
  • 57
    Vgl. ebd., 332.
  • 58
    Vgl. Barth, Dogmatik, 380.
  • 59
    Vgl. ebd., 380f.
  • 60
    Vgl. ebd., 386.
  • 61
    Vgl. ebd., 387.
  • 62
    Ebd., 453.
  • 63
    Ebd., 388.
  • 64
    Vgl. ebd.
  • 65
    Vgl. ebd., 454.
  • 66
    Ebd., 483.
  • 67
    Ebd., 461.
  • 68
    Vgl. ebd., 461.
  • 69
    Ebd., 464.
  • 70
    Ebd.
  • 71
    Vgl. ebd.
  • 72
    Vgl. ebd., 474.
  • 73
    Ebd., 476.
  • 74
    Vgl. ebd., 476f.
  • 75
    Vgl. ebd., 476.
  • 76
    Vgl. ebd., 476.
  • 77
    Vgl. Hauerwas, Arguments, 212.
  • 78
    Vgl. ebd., 214f.
  • 79
    Vgl. ebd., 216.
  • 80
    Vgl. ebd., 219.
  • 81
    Vgl. Hauerwas, Rights, 128.
  • 82
    Vgl. ebd.
  • 83
    Vgl. ebd., 128f.
  • 84
    Vgl. ebd., 138f.
  • 85
    Vgl. ebd., 140.
  • 86
    Vgl. Hauerwas, Issue, 199.
  • 87
    Vgl. Francke, Linda Bird, The Ambivalence of Abortion, New York 1978.
  • 88
    Hauerwas, Issue, 200. Untersuchungen zu den Motiven von Frauen, die in Deutschland eine Abtreibung verlangen, bestätigen diesen Befund. (Anm. der Red.)
  • 89
    Vgl. ebd., 201.
  • 90
    Vgl. Hauerwas, Abortion, 610.
  • 91
    Vgl. Hauerwas, Arguments, 221.
  • 92
    Vgl. ebd., 226.
  • 93
    Ebd., 225f.
  • 94
    Vgl. Hauerwas, Abortion, 614f.
  • 95
    Ebd., 615; eigene Übersetzung.
  • 96
    Vgl. Hauerwas, Issue, 209f.
  • 97
    Vgl. Hauerwas, Arguments, 226.
  • 98
    Vgl. Hauerwas, Issue, 210.
  • 99
    Hauerwas, Arguments, 226.
  • 100
    Vgl. ebd., 227f.
  • 101
    Vgl. Hauerwas, Abortion, 612.
  • 102
    Vgl. ebd., 613.
  • 103
    Vgl. ebd., 616.
  • 104
    Vgl. ebd., 620f.
  • 105
    Vgl. ebd., 611.
  • 106
    Vgl. ebd., 611.

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