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Corona und das Kreuz

COVID-19 und die geistlichen Chancen einer Krise

I. Einleitung

In den letzten Monaten haben wir eine Serie von schweren Katastrophen erlebt, die für die Mehrzahl aller menschlichen Gesellschaften, die jemals gelebt haben, vor allem eines gezeigt hätten: dass die Götter, oder Gott, zornig sind.  Wir haben hier in Australien Brände ertragen, die uns im wahrsten Sinne des Wortes Zeugen von dem werden ließen, wovon der israelitische Prophet Joel sprach: „Die Sonne soll in Finsternis und der Mond in Blut verwandelt werden“ (Joel 3,4)1Alle aufgeführten Bibeltexte sind aus der Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, entnommen, der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung..

In Canberra, wo ich lebe, gab es apokalyptische Hagelstürme, die eine Spur der Verwüstung in der ganzen Stadt hinterlassen haben, so als ob der Laserstrahl eines Raumschiffs von feindlichen Aliens die Stadt verwüstet hätte. Heuschrecken haben viele Ernten in Afrika vernichtet, und in geringerem Maße auch in Queensland –  wieder ähnlich wie schon vom Propheten Joel beschrieben, der auch von der Dürre schrieb, die den Heuschrecken vorausging: „Steht beschämt, ihr Ackerleute, heult, ihr Weingärtner, um den Weizen und um die Gerste, weil aus der Ernte auf dem Felde nichts werden kann! Der Weinstock steht jämmerlich und der Feigenbaum kläglich, auch die Granatbäume, Palmbäume und Apfelbäume, ja, alle Bäume auf dem Felde sind verdorrt. So ist die Freude der Menschen zum Jammer geworden.“ (Joel 1,11). 

Und jetzt erleben wir den Angriff eines neuen, schleichenden, unsichtbaren Feindes, der in wenigen Monaten unsere gesamte Lebensweise auf den Kopf gestellt hat. „Erzittert, alle Bewohner des Landes!“, sprach der Prophet Joel, „denn der Tag des HERRN kommt und ist nahe, ein finsterer Tag, ein dunkler Tag, ein wolkiger Tag, ein nebliger Tag… Ja, der Tag des HERRN ist groß und voller Schrecken, wer kann ihn ertragen?“ (Joel 2,1-2; 11). 

Zu behaupten, dass wir in diesen Ereignissen in irgendeiner Art und Weise ein Gericht Gottes erleben, ist heutzutage natürlich keine populäre Aussage oder Meinung. Eine solche Behauptung wird zumeist leicht spöttisch abgetan oder gleich „zensiert“. Aber hier von göttlichem Gericht zu reden, lässt sich nicht einfach abtun. Und das sollte man auch gar nicht. Es gibt gute Gründe, an dieser Stelle vorsichtig zu sein, aber es gibt auch schlechte Gründe, es einfach auszublenden. Meine Absicht mit diesem Text ist es, auf biblischer Grundlage offen über dieses Thema zu sprechen und dabei zu fragen, ob diese Einordnung vielleicht geistlich ergiebiger ist, als wir uns das vorstellen. 

II. Schlechte Gründe, das Reden von Gottes Gericht einfach abzutun. 

Der erste schlechte Grund dafür, es abzulehnen, angesichts schrecklicher Ereignisse von Gottes Gericht zu sprechen, ist, dass wir die Ursachen und Erklärungen für diese Ereignisse kennen. Wir wissen, dass die Trockenheit, Brände und Heuschrecken durch bestimmte messbare Wettermuster und den Klimawandel verursacht werden, und wir wissen, warum es zu ihnen kommt. Wir wissen, wie neue Formen des Coronavirus für gewöhnlich entstehen und wir vermuten, dass sich das Virus auf einen Tiermarkt in Wuhan zurückführen lässt. Diese Fähigkeit, solche Ereignisse zu erklären, bedeutet unserer Meinung nach, vermeintlich primitive Hypothesen wie das Verständnis dieser Ereignisse als Gericht Gottes nicht gebrauchen zu müssen. 

Aber das ist ein Kategorienfehler, lediglich ein fehlendes Verständnis dafür, was die Propheten Israels mit „Gott“ meinten. Das Buch Joel legt nicht nahe, dass Gottes Hand die einzige Erklärung für die schrecklichen Heuschreckenplagen war, die Israel heimsuchten. Genauso wenig behauptet der Prophet Jesaja, dass die einzige Erklärung für den kometenhaften Aufstieg des Königs Cyrus von Persien eine wundersame göttliche Handlung war. Dabei handelt es sich auch um ganz natürliche Prozesse, aber nicht um ausschließlich natürliche Prozesse. Hinter ihnen, ihnen zugrunde lag die führende Hand Gottes.

Zu meinen, dass wir über solche Dinge nicht nachdenken müssen, weil wir die physikalischen Erklärungen dieser Ereignisse kennen, ist keine wissenschaftliche, sondern eine philosophische und religiöse Position. Ihr liegt die Entscheidung zugrunde, sich mit dem Reden über bestimmte Arten von Ursachen zufriedenzugeben und andere nicht in Betracht zu ziehen. Sie ist „wissenschaftlich“ nur insofern, als sie ihren Standpunkt auf Dinge beschränkt, die der Wissenschaft zugänglich sind. Aber solch eine Beschränkung lässt sich wissenschaftlich nicht rechtfertigen, weil die verschiedenen Arten der Ursache, die hier im Blick sind, sich nicht widersprechen. Der Gott der Bibel ist nämlich kein Lückenfüller-Gott, nicht die Erklärung für Dinge, die wir noch nicht verstehen. Gott ist vielmehr der Schöpfer des Himmels und der Erde, der tiefste Grund und der Erhalter jeder Bewegung und jedes Geschehens im Universum. 

Unsere Gründe, diesen Gott als Ursache abzulehnen, müssen daher grundlegend philosophischer und religiöser Natur sein. Wir können tatsächlich solche Gründe haben; aber die bloße Tatsache, dass wir mehr über die Biomechanik oder Meteorologie dieser Ereignisse wissen als unsere Vorfahren, wird nicht ausreichen. Wir müssen zudem bereit sein, die Verantwortung für die Konsequenzen unserer Entscheidung zu tragen. Wenn wir es ablehnen, tiefer zu hinterfragen, warum solche Dinge geschehen, dann verwehren wir Menschen die Möglichkeit, sich mit ihrer Situation aus geistlicher Perspektive auseinanderzusetzen. 

Der zweite schlechte Grund, sich von dem Reden über Gottes Gericht fernzuhalten, ist die Vorannahme, dass solches Reden unmöglich den Charakter unserer Beziehung mit irgendeinem Gott oder irgendwelchen Gottheiten beschreiben könnte, die vielleicht existieren. Wie anmaßend, in Betracht zu ziehen, dass Gott uns durch diese schrecklichen Ereignisse „richtet“. Ist das nicht eine Art von Religion, die wir inzwischen überwunden haben? Wir können uns vielleicht mit Religion abfinden, wenn sie von Gott als der Liebe spricht, aber nicht, wenn sie von einem Gott spricht, der wütend wird, der richtet und verurteilt. 

Diese Art zu denken haben sich Christen ebenso zu eigen gemacht wie andere Menschen, und der kritische Zuhörer wird, wenn er danach sucht, viele Prediger finden, die dieses bestätigende Evangelium eines harmlosen Gottes predigen. Dieses Gottesbild entspricht allerdings schlicht und ergreifend nicht dem Gott der Bibel oder des traditionellen christlichen Glaubens. Christen (und auch Juden) haben immer geglaubt, dass Gott ein Gott der heiligen Liebe ist, ein Gott, dessen Liebe eins ist mit seiner Reinheit und Perfektion. Und so ist er ein Gott der Gerechtigkeit und Liebe gleichermaßen – der Liebe und Gerechtigkeit zur gleichen Zeit, vollkommen vereint in der Schönheit seiner Güte und Wahrheit. Das ist der Grund, warum der Prophet Joel, der gerade noch das Unheil des Tages des Herrn angekündigt hat, im nächsten Atemzug sagen kann: „Kehrt um zu dem HERRN, eurem Gott! Denn er ist gnädig, barmherzig, geduldig und von großer Güte, und es reut ihn bald die Strafe“ (Joel 2,13).

Anders als wir hat die Bibel keine Schwierigkeit damit, einen Gott vorzustellen, der sowohl ein Gott der Liebe als auch ein Gott des Gerichtes ist. Der Gott von Abraham, Isaak, Jakob und Jesus ist weder der gerne so genannte „zornige Gott des Alten Testaments“ – eine Karikatur, erdacht, um intelligentes und reflektiertes Lesen zu umgehen – noch ist er der harmlose Gott, der von manchen Strömungen der modernen, warm gefilterten, einander die Schultern klopfenden Christenheit gepredigt wird. Er ist der Heilige, in welchem „Gerechtigkeit und Friede sich küssen“ (Psalm 85,11).

Aber wir werden doch wohl trotzdem nicht behaupten können, dass Gott hier und jetzt richtet, dass Ereignisse wie diese in gewisser Weise aus seiner Hand kommen und uns etwas über seine Haltung zu uns zeigen könnten? Glauben Christen nicht an einen Gott der Gnade, der uns liebt – der seinen Sohn für unsere Rettung gab? Das glauben wir tatsächlich; und das ist der wichtigste Grund dafür, an dieser Stelle vorsichtig zu sein. Wir werden später darauf zurückkommen. Aber bevor wir das tun, möchte ich eine weitere unausgesprochene Vorannahme in den Blick nehmen, die solchen Gedanken oft zugrunde liegt. Es geht darum anzunehmen, dass wir niemals solche Verurteilung verdienen könnten. Bestimmt könnte nichts, das wir tun, solch eine willkürliche Zerstörungswut Gottes rechtfertigen. 

Dieser Gedanke beinhaltet eine Wahrheit, die wir nicht übersehen dürfen, aber diese Wahrheit ist nicht, dass wir solch eine Behandlung nicht verdient hätten. Denn warum genau sollten wir kein Gericht verdienen? Wir sind verdorbene Menschen, und das wissen wir eigentlich auch. Die moralische Entrüstung, die unseren öffentlichen Diskurs prägt, ist nicht unbegründet. Die Propheten Israels brandmarkten an der israelitischen Gesellschaft Übel, die wir auch in unserer Zeit erkennen können. „Weh denen, die ein Haus zum andern bringen und einen Acker an den andern rücken, bis kein Raum mehr da ist und ihr allein das Land besitzt!“, sprach der Prophet Jesaja (5,8). Die Propheten sprechen von Ungerechtigkeit, Misshandlung der Armen, von Kriegsverbrechen und Grausamkeit gegenüber Fremden, von sexueller Perversion und Materialismus. So schreibt Amos: „Sie hassen den, der im Tor Recht spricht, und verabscheuen den, der die Wahrheit sagt.“ (5,10) Sie sprechen von Götzendienst, von Dekadenz und Selbstgefälligkeit, wenn alles Gute und Wahre zusammenbricht.

Sollten solche Urteile uns tatsächlich nicht treffen? Wir, die wir als Gesellschaft einen in der Menschheitsgeschichte unvergleichlichen und dabei sehr ungleich verteilten Wohlstand genießen, den wir zulasten der gesunden Erde und ihrer alten Völker konsumieren? Wir, die wir in Pornographie schwelgen und es dabei ablehnen zu sehen, was dies andere, wirkliche Menschen kostet? Wir, die wir die Wahrheit geringschätzen und uns lieber mit dem Nebel der Verschleierung umgeben? Wir, die wir bereit sind, über Leichen zu gehen, nur um unseren eigenen Lebensstil halten zu können? In Australien legen aktuell von der Regierung eingesetzte Kommissionen offen, wie tief die Fäulnis in unserer Gesellschaft sitzt: schwere Ungerechtigkeit im Bankensektor und offensichtliches Versagen bei der Betreuung von alten Menschen sowie von gefährdeten Kindern oder solchen in Flüchtlingslagern. Warum sollte Gott nicht wütend auf uns sein? Warum sollte er uns nicht demütigen? 

III. Gute Gründe, beim Reden von Gottes Gericht zu zögern

Trotz allem gibt es gute Gründe, vorsichtig zu sein, bevor man anfängt, in diese Richtung zu denken, und wir müssen sie im Blick behalten. Der erste gute Grund ist, dass unser Wissen über die Pläne und Wege Gottes äußerst begrenzt ist. Ich habe bereits gesagt, dass unser Gefühl, solche willkürlichen Zerstörungen nicht verdient zu haben, auch eine Wahrheit enthält, die wir anerkennen sollten. Diese Wahrheit hat etwas mit dem Charakter des Bösen in der Welt zu tun. Die Bibel zeichnet nicht das Bild, wonach Unglück immer direkt aus Gottes Hand kommt, und Punkt. Im Gegenteil, wenn es um das Böse geht, dann wird es in der Bibel schnell unübersichtlich. Ja, Gott ist souverän, aber in seiner Souveränität hat er zugelassen, dass die Welt in Aufruhr ist, und dem Bösen erlaubt, sich auszutoben.

Im Buch Hiob ruft der bedrängte Hiob schon früh aus: „Der HERR hat's gegeben, der HERR hat's genommen.“ (Hiob 1,21) Und obwohl dies die grundlegendste Wahrheit seines Leidens sein mag – denn er ist tatsächlich in Gottes Hand und hat es in letzter Konsequenz nur mit Gott zu tun – so ist dies doch nicht die einzige Wahrheit seines Leidens: Es stimmt auch, dass er wegen der finsteren Figur „Satans“ leidet, der in der himmlischen Wirklichkeit als Gottes Ankläger auftritt, als sein Befrager, sein misstrauischer Gegner. Jesus nennt Satan später den „Fürst dieser Welt“ (Johannes 12,31), und spricht von ihm als jemand, der aktiv gegen Gottes Werke arbeitet. „Musste dann nicht diese, die doch Abrahams Tochter ist, die der Satan schon achtzehn Jahre gebunden hatte, am Sabbat von dieser Fessel gelöst werden?“, fragte der erzürnte Jesus (Lukas 13,16). Das bedeutet, dass das Böse eine wirkliche Kraft in dieser Welt ist und es einen gewissen Grad an Unabhängigkeit in seiner Rebellion gegen die Herrschaft Gottes hat. Was wir also über die COVID-19-Pandemie sagen müssen, ist nicht nur, dass sie einfach nur von Gott zugelassen wurde, sondern auch, dass sie etwas Schreckliches ist – eine chaotische Finsternis, die in dieser Welt entfesselt wurde, eine Tragödie und ein Unheil.

Wenn es um konkretes Leiden geht, wissen wir einfach nicht genau, was Gott tut und wie es wirklich um die Dinge steht. Es sind Hiobs Freunde, die darauf bestehen, Hiobs Leiden damit erklären zu können, dass er gesündigt hat. Aber sie liegen falsch. Wenn Jesus den Leiden im Leben von Menschen begegnet, dann verwahrt er sich vehement dagegen, es mit einer besonderen Sündhaftigkeit in ihrem Leben in Verbindung zu bringen. „Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?“, fragen die Jünger, als sie einen blinden Mann am Straßenrand sehen (Johannes 9,2). Jesus antwortet: „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern.“ So funktioniert es nicht. Wozu wir im Angesicht von persönlichem Leiden und Verlust berufen sind, sind nicht Analyse und Erklärung, sondern Mitgefühl und Solidarität. 

Das Lukasevangelium erzählt davon, wie Jesus mitbekam, dass sich eine große Empörung über einige seiner Landsleute breitmachte. Er reagierte, indem er sagte (Lukas 13,1-5): 

„Meint ihr, dass diese Galiläer mehr gesündigt haben als alle andern Galiläer, weil sie das erlitten haben? Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle ebenso umkommen. Oder meint ihr, dass die achtzehn, auf die der Turm von Siloah fiel und erschlug sie, schuldiger gewesen seien als alle andern Menschen, die in Jerusalem wohnen? Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle ebenso umkommen.“

Hier haben wir einen guten Grund zu zögern, bevor wir selbstbewusst von der Realität des Gerichtes Gottes sprechen. Wir wissen ganz einfach nicht genug darüber, was Gott tut, obwohl wir eine verkehrte Tendenz dazu haben zu glauben, dass wir es wüssten, und anzunehmen, dass wir in der Lage sind, Übel mit Fehlern in Verbindung zu bringen. 

Jesu Worte bringen uns zu dem nächsten guten Grund, an dieser Stelle zu zögern: Derjenige, der sich auf diese Reise begibt, muss zunächst bereit sein anzuerkennen, dass dieses Gericht auch ihm oder ihr gilt. „Wenn ihr nicht Buße tut,“ sagt Jesus, „werdet ihr alle ebenso umkommen.“ Die Leiden anderer können nicht Grund für selbstgerechte Selbstzufriedenheit sein, sondern nur für Demut. Das Leiden spricht zu mir als eine Nachricht, eine Warnung: Ich muss auf mich selbst achten, darauf, wie nötig ich selbst es habe, Buße zu tun. 

Die schärfsten Worte der Propheten Israels waren oft nicht an die heidnischen Völker ringsum gerichtet, sondern an das Volk von Israel und Juda. In einer dramatischen rhetorischen Wendung schließt der Prophet Amos eine Reihe von Prophezeiungen gegen Israels Nachbarn ab, indem er sich plötzlich an Gottes Volk wendet (Amos 1,3-2,16). Ihre Sünden sind umso abscheulicher, weil gerade sie es besser hätten wissen müssen. Für das auserwählte Volk gibt es ganz bestimmt keine Ausnahme. Im Gegenteil, ihre Erwählung sorgt dafür, dass sie sich dem Gericht Gottes umso ungeschützter stellen müssen. Dasselbe Muster findet sich auch im Neuen Testament wieder. Die Deutlichkeit der Ankündigung des Apostels Paulus, dass "Gottes Zorn […] vom Himmel her offenbart (wird) über alles gottlose Leben und alle Ungerechtigkeit der Menschen" (Römer 1,18), erklärt sich zumindest teilweise durch deren rhetorische Funktion. Sie soll den Weg für den wirklichen Hammerschlag des Arguments vorbereiten: "Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der du richtest." (Römer 2,1). Bevor es sich mit dem Urteil über andere befasst, muss sich das Volk Gottes um seine eigene Schuld kümmern. 

Und so muss jeder Christ, der in den aktuellen Ereignissen den schrecklichen Blick Gottes sieht zunächst bereit sein, diesen Blick auf sich selbst und auf die Kirche, seine Kirche, gerichtet zu sehen. Sind diese Ereignisse vielleicht auch als Gericht über unsere Sünden geschickt worden? Sie sollen uns dazu motivieren, uns selbst zu prüfen und zu erkennen, wo wir versagt haben, die Menschen zu sein, die zu sein wir berufen sind. Die Suche wird schnell zu Ergebnissen führen. Ich erwähnte bereits die jüngsten Regierungskommissionen, von denen diejenige zu den erschütterndsten Ergebnissen gekommen ist, die den sexuellen Missbrauch von Kindern, insbesondere in kirchlichen Einrichtungen, untersucht. Aber wir dürfen unser Denken nicht auf diese spezielle Abscheulichkeit beschränken. Wir müssen auch nach anderem Versagen fragen: nach Stolz und Ängstlichkeit, nach Heuchelei, Gier, verurteilendem Denken und Kleinlichkeit. Konservative müssen sich fragen, ob ihre Sorgen von Liebe geprägt sind und ob sie dazu neigen als Gruppe in Erscheinung zu treten, "die ihr Mücken aussiebt, aber Kamele verschluckt!" (Matthäus 23,24). Progressive müssen nach ihrer Treue fragen, nach ihrer Tendenz, schwierige Überzeugungen und Praktiken zu vermeiden oder zu minimieren. "Ihr seid das Salz der Erde", lehrte Jesus seine Jünger. „Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen?“ (Matthäus 5,13). Die COVID-19 Pandemie unterscheidet nicht zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen. Wenn sie ein Wort des Urteils spricht, dann spricht sie es auch über uns aus – vielleicht über uns am allermeisten. 

IV. Die Kreuzigung als Gericht Gottes

Es gibt einen weiteren guten Grund, bei dem, was wir über das Gericht Gottes sagen, vorsichtig zu sein – ein Grund, der nah am Herzen des christlichen Glaubens liegt. Und zwar, dass der „Tag des Herrn", der Tag von Gottes entscheidendem Urteil über Sünde und Böses, in einem sehr zentralen Sinn bereits gekommen ist, nämlich mit der Kreuzigung Jesu, des Messias. Die Propheten Israels sprechen immer wieder davon, wie aus dem kommenden Unheil die Erlösung kommen wird. In der furchteinflößenden Gegenwart der Heiligkeit Gottes, die ihn eigentlich sicher vernichten müsste, findet Jesaja keine Verurteilung, sondern Reinigung und Sühne (Jesaja 6,1-7). Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes wird auch die Offenbarung seiner Barmherzigkeit mit sich bringen. „Die Sonne soll in Finsternis und der Mond in Blut verwandelt werden“, verkündigt Joel, „ehe denn der große und schreckliche Tag des HERRN kommt. Und es soll geschehen: Wer des HERRN Namen anrufen wird, der soll errettet werden.“ (Joel 2,4-5). Die ersten Christen verkündeten, dass sich diese Prophezeiung mit dem Kommen Jesu erfüllt habe (Apostelgeschichte 2,20-24).

In seinem Tod ertrug Jesus Gottes Verurteilung von Sünde und Bösem um unseretwillen. Es gibt solche, die die Kreuzigung nicht auf diese Weise beschreiben wollen. Sie schrecken vor der Meinung zurück, dass eine solche Gewalttat im Sinne Gottes sein könnte, dass es richtig sei, von Dingen wie Gottes Zorn zu sprechen, oder dass Gott der Vater seinen Sohn solchem Leiden unterwerfen könnte. Solche ehrliche Empörung wird häufig durch Missverständnisse im Blick auf Gott als Dreieinigkeit und auf die Gegenwart Gottes in Jesus genährt. Der Gott des christlichen Glaubens ist drei „Personen“, aber nicht drei getrennte Subjekte, drei Individuen. Gott ist Einer; und er handelt als Einer in allem, was er tut. Wenn Jesus handelt, ja wenn er den Willen seines Vaters tut, dann unterwirft sich darin nicht einfach der Geringere (ein Mensch) einem Höheren (Gott); es handelt sich dabei auch um das freie Handeln des Einen Gottes, der der Herr ist.

Noch grundlegender ist jedoch die Weigerung, zu akzeptieren, dass es beim Tod Christi um Dinge wie den göttlichen Zorn über die Sünde und um sein Gericht gehen könnte, weil sie der Erfahrung Jesu, wie sie in den Evangelien festgehalten ist, einfach nicht gerecht wird. Die Kreuzigung war für Jesus vor allem anderen ein Kampf, in dem er sich mit Gott auseinandersetzte. Die launischen, unwissenden, selbstschützenden Handlungen der anderen sind lediglich das Hintergrundgeschehen für das wirkliche Drama. "Abba, Vater", betet Christus im Garten, "Nimm diesen Kelch von mir weg" (Markus 14,36). Als er stirbt, schreit er die Worte aus Psalm 22: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Markus 15,34). Als der Hauptmann, der bei der Kreuzigung Jesu dabei war, sieht, wie Jesus stirbt, kommt er zu dem Schluss: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“ (Markus 15,39). So intensiv war die Beziehung Jesu zu Gott in seinem Tod.

Um dieser Erfahrung gerecht zu werden, müssen wir von der Kreuzigung als einem Geschehen sprechen, das von Gott gewollt, in dem Gott am Werk war. Wir müssen anerkennen, dass es ein Tun war, in dem Gottes Urteil über die Sünde durch die Person Jesu in Gottes eigenes Leben aufgenommen wurde. Es war ein Akt des Gehorsams durch Jesus, den er jedoch in Freiheit vollbrachte, in dem die Liebe, die in Gott ist, in einem Opfer Erfüllung fand. „Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse,“ sagt Jesus, „auf dass ich's wieder empfange. Niemand nimmt es von mir, sondern ich selber lasse es. Ich habe Macht, es zu lassen, und habe Macht, es wieder zu empfangen. Dies Gebot habe ich empfangen von meinem Vater“ (Johannes 10,17-18). Christus nahm es an, Gottes Zorn gegen die Sünde als Mittel zur Erlösung anderer zu erleiden. Jesus sagte auch: „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.“ (Markus 10,45) Die Finsternis, die über das ganze Land kam, als er starb (Markus 15,33), weist uns auf die Wahrheit hin: Dies war „der Tag des Herrn“, den Joel und andere prophezeit hatten.

Wenn wir dies akzeptieren, dann muss sich die Art und Weise ändern, in der wir über Gottes Gericht in der heutigen Zeit denken. Wir dürfen kein Unglück als einen Akt des göttlichen Gerichtes losgelöst betrachten von den Absichten Gottes, die in Jesus Christus offenbart sind. Denn in der Kreuzigung Jesu sehen wir den Höhepunkt des Zornes Gottes gegen die Sünde, und wir sehen Gott in seiner Barmherzigkeit. Wir sehen, wie sich seine vollkommene Heiligkeit in vollkommener Liebe manifestiert. Und so können wir kein noch so schreckliches Unglück hier und heute als bloße Rachsucht Gottes oder einfach nur als Ausdruck seiner Gerechtigkeit verstehen. Gewiss, Katastrophen sind Warnungen. Sie warnen uns, indem sie uns daran erinnern, dass diese Welt nicht so ist, wie sie sein sollte, und dass Gottes Widerstand gegen das Böse so heftig ist wie die Kreuzigung. Doch sie erinnern uns nicht nur an Gottes Zorn, sie lenken unseren Blick auch auf den Ort, an dem sich Gerechtigkeit und Frieden ein für alle Mal getroffen haben. Verborgen im Unglück können wir auch die Güte Gottes finden.

V. „Die Hände waschen und Buße tun“

Aber worin könnte die Gnade in dieser Katastrophe liegen, in diesem Elend, das sich Tag für Tag um uns herum abspielt? Vielleicht finden wir sie in dem Raum, der uns zur Umkehr gegeben wird. Im Angesicht der Katastrophe erhalten wir eine Chance.

„Doch auch jetzt noch, spricht der HERR, kehrt um zu mir von ganzem Herzen mit Fasten, mit Weinen, mit Klagen! Zerreißt eure Herzen und nicht eure Kleider und kehrt um zu dem HERRN, eurem Gott! Denn er ist gnädig, barmherzig, geduldig und von großer Güte, und es reut ihn bald die Strafe. Wer weiß, ob er nicht umkehrt und es ihn reut und er Segen zurücklässt, sodass ihr opfern könnt Speisopfer und Trankopfer dem HERRN, eurem Gott.“ (Joel 2,12-14)

Ende Februar veröffentlichte die Zeitung The New Yorker eine Karikatur des US-Vizepräsidenten Mike Pence, in der er meinte, dass „die erste Verteidigungslinie gegen diesen Ausbruch energisches Händewaschen und Buße sind“.2https://twitter.com/NewYorker/status/1233096494594613249?s=20 Der Cartoon war eindeutig als Scherz gemeint und insoweit es eine unangemessene Reaktion der US-Bundesregierung auf die Ausbreitung des COVID-19-Virus aufs Korn nahm, war es wahrscheinlich gerechtfertigt. Soweit es sich jedoch über Reue als sinnvolle Reaktion auf die Krise lustig machte, war es töricht. Wie selbst der Bildtext der Karikatur zeigt, steht die Reue anderen Arten praktischer Reaktionen, wie etwa dem Händewaschen, nicht im Wege. Sie ist keine Alternative zu einer ernsthaften, koordinierten Reaktion. Sie kann diese sogar unterstützen, indem sie die Aufmerksamkeit darauf lenkt, wie ernsthaft man mit so einer Situation umgehen muss. Die Person, die Buße tut, kann nicht gleichzeitig so tun, als wäre alles in Ordnung. Frauen und Männer, die beim Händewaschen das Vaterunser beten anstatt 20-30 Sekunden „Happy Birthday“ zu singen, werden sehr viel wahrscheinlicher den Ernst der Situation erkennen und ernsthafte Antworten begrüßen. Buße kann jedoch einige Reaktionen weniger wahrscheinlich machen. Diejenigen, die den Weg des „Fastens und Weinens und Trauerns“ gehen, werden sich wohl nicht gerade dem Horten von Toilettenpapier, Lebensmittel verschreiben, oder dem Kauf von Medikamenten, die den Anschein von Wirksamkeit erwecken.

Aber was, mag mancher immer noch fragen, ist der Sinn solcher Buße? Inwiefern kann sie Gutes bewirken? Welchen 'Segen', um das Wort des Propheten Joel zu gebrauchen, könnte diese Katastrophe zurücklassen? Keinen, wenn das, was wir anstreben, einfach eine Rückkehr zu den früheren Zuständen ist. Das Ziel der Buße besteht nicht einfach darin, Gott zu besänftigen, damit wir zu unserem alten Leben zurückkehren können. Buße ist die Entscheidung, das, was geschehen ist, als etwas anzunehmen, das in gewisser Weise auf uns zurückzuführen ist, und uns dafür zu öffnen, aus den Geschehnissen zu lernen. Damit ist nicht gemeint – und es ist wichtig, das noch einmal zu betonen –, dass, was geschehen ist, gewissermaßen direkt auf die Schuld einer bestimmten Person zurückzuführen ist. Das Geschehene ist eine Tragödie, ein Übel, das über uns gekommen ist und in dem wir uns alle gemeinsam wiederfinden. Aber es ist auch ein Übel, das Gott zugelassen hat, das uns widerfährt, um uns zu warnen und zu lehren. Buße bedeutet, dass wir uns für diese Lektion öffnen.

Der 'Segen', von dem Joel sich vorstellt, dass er bleiben wird, sind „Speisopfer und Trankopfer dem HERRN, eurem Gott.“ (2,14). Das schließt eine Wiederherstellung dessen ein, was in der Dürre, der Hungersnot und durch die Heuschrecken, die über Israel gekommen waren, verloren gegangen war.  Es würde wieder Gesundheit und Wohlstand geben. Aber es ist eine Wiederherstellung, die auf ein neues Ziel ausgerichtet ist: dem Herrn zu opfern. Was aus der Buße entstehen kann, ist nicht nur wirtschaftliche Wiederherstellung, sondern auch moralische und spirituelle Heilung. 

In einer kürzlich ausgestrahlten Radiosendung sprach Waleed Aly sehr treffend über das, was im Moment geschieht:

„Wir erleben gerade eine grundlegende Wahrheit, die wir unser Leben lang verschleiern, nämlich dass wir die Dinge nicht unter Kontrolle haben, dass wir vollständig von unserer Umwelt abhängig sind, dass wir biologisch geerdet, in eine bestimmte Situation gestellt und untrennbar miteinander verbunden sind ... wir sind verletzlich, wir sind unsicher. Wir leben in hohem Maße ein Leben, das wir nicht in der Hand haben, doch wir täuschen uns lieber darüber hinweg, indem wir großen Abstraktionen erschaffen: Wirtschaft, Weltwirtschaft, Informationstechnologie, neue Industrien, die wir aus dem Nichts erschaffen, neue Formen des Handels . . . Unsere Abhängigkeit, gerade unsere Macht als Menschen, als Zivilisation, ist auf Verwundbarkeiten aufgebaut, die wir nicht anerkennen wollen. Plötzlich sind sie offenbar geworden.“3ABC Radio National, ‘The Minefield’, 25 March 2020: https://www.abc.net.au/radionational/programs/theminefield/what-(new)-forms-of-living-might-the-coronavirus-produce/12068000

Vielleicht sind dies einige der Lehren, die wir aus dieser schmerzhaften und schrecklichen Zeit ziehen können. Aber wie können wir diese Lektionen lernen anstatt zu verzweifeln, da alles um uns herum zusammenbricht, oder bitter und nachtragend zu werden, mit einem anderen gegenüber verhärteten Herzen? Was kann uns helfen, solche Lektionen zu lernen, um etwas Gutes aus dieser Zeit zu ziehen? Es ist die Zuversicht, dass wir nicht allein sind. Wir sind nicht verlassen, ausgestoßen, ohne Zukunft gelassen worden, denn selbst im Unglück sind wir immer noch mit Gott verbunden.

Kürzlich hat Papst Franziskus solches Lernen durch Buße mit treffender Klarheit zum Ausdruck gebracht: 

„Wir haben uns mit halsbrecherischem Tempo voran bewegt, haben uns mächtig und zu allem fähig gefühlt. Profitgierig haben wir uns in Dingen verrannt und uns durch ständige Eile weglocken lassen. Wir haben trotz deinem Tadel nicht innegehalten, wir wurden weder von Kriegen oder Ungerechtigkeiten auf der ganzen Welt erschüttert und haben auf den Schrei der Armen oder unseres leidenden Planeten nicht gehört. Wir machten unbekümmert weiter und dachten, wir würden in einer kranken Welt gesund bleiben.“ 4https://www.vaticannews.va/en/pope/news/2020-03/urbi-et-orbi-pope-coronavirus-prayer-blessing.html

Entgegen dem, was wir üblicherweise annehmen, ist es paradoxerweise befreiend, über das Gericht Gottes nachzudenken und darüber zu sprechen. Denn es füllt Momente wie diesen mit geistlicher Bedeutung: Wir begegnen Gottes Zurechtweisung. Dies ist sicherlich ein zutiefst beunruhigender Gedanke. Aber es ist ein Gedanke, der eine Situation wie diese aus dem Anschein sinnlosen Verlusts herausführt und mit Sinn erfüllen kann. Dieser Gedanke bedeutet nämlich, dass es selbst in dieser angstmachenden Dunkelheit Einen gibt, mit dem wir zu tun haben, Einen, der selbst in diesem Chaos mit einem Ziel handelt. Es gibt den lebendigen Gott, den Heiligen, der „die Wasser mit der hohlen Hand (misst)“ (Jesaja 40,12), und der uns selbst jetzt mit einer Liebe, die stärker als der Tod ist, dazu aufruft, zu ihm zurückzukehren.  

Übersetzung: Arnd Foede

© 2020 Institut für Ethik & Werte

Dr. Andrew Errington

Endnoten