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AllgemeinPolitische Ethik

Migration – Chance oder Bedrohung?

I. Einleitung: An der Migration scheiden sich die Geister

Wurde lange Zeit darüber diskutiert, ob Deutschland sich selbst überhaupt als Ein­wanderungsland begreift oder nicht, so hat sich diese Frage mittlerweile eindeutig ge­klärt. Deutschland ist in den letzten Jahren zu einem der gefragtesten modernen Ein­wanderungsländer geworden.

Wie diese Entwicklung jedoch zu beurteilen ist, wird von der deutschen Bevölkerung sehr unterschiedlich gesehen. Der öffentli­chen Wahrnehmung nach ist sie in der Ein­wanderungsfrage in zwei Lager, nämlich Befürworter und Gegner, gespalten. 

Während die einen die Zuwanderer aus­drücklich begrüßen und sich eine Politik der offenen Tür wünschen, stehen die ande­ren der Zuwanderung skeptisch gegenüber und fordern, diese zu begrenzen. So gaben bei einer repräsentativen Umfrage im August/September 2015 35% der Be­fragten an, Deutschland solle so viele Flüchtlinge wie möglich aufnehmen. Gleichzeitig sprachen sich fast genauso viele (37%) dafür aus, die Aufnahmezahl möglichst gering zu halten. Aber nicht alle Bundesbürger lassen sich einem der beiden Lager zuordnen: Fast ein Drittel der deut­schen Bevölkerung (28%) ist in dieser Fra­ge unentschlossen.1Vgl. http://www.ifd-allensbach.de/uploads/tx_repo rtsndocs/FAZ_Oktober_Flu__chtlinge.pdf [04.05.2016, leider nicht mehr verfügbar 28.06.2023].

Die Diskussion um die richtige Einwande­rungspolitik bewegt sich also in einem wei­ten Spektrum zwischen Willkommens­kultur und Abwehrhaltung. Tendenziell lässt sich jedoch beobachten, dass die Men­schen in Deutschland über die Entwicklung der Flüchtlingssituation zunehmend besorgt sind.2Vgl. ebd. Schaubild 1.

Sie gehen mit diesen Bedenken allerdings unterschiedlich um. Vor allem in den sozi­alen Medien lassen Menschen ihren Beden­ken und ihrem Unmut mitunter freien Lauf. Für einige Monate gab es in verschiedenen Städten in Deutschland große Demonstrati­onen gegen eine Politik der offenen Gren­zen (z.B. PEGIDA in Dresden) wie auch Gegendemonstrationen. Hohen Wählerzu­spruch erzielt die Alternative für Deutsch­land (AfD), die sich für eine restriktive Zu­wanderungspolitik ausspricht. Auch im persönlichen Gespräch teilen Menschen ihre Bedenken mit.3Vgl. ebd. Anm. zu Tabelle A7+8 (S.3-4).

Neben dem Vorwurf der Ausländerfeind­lichkeit wird eine sachliche Diskussion dadurch erschwert, dass es sich um eine Thematik handelt, die auf beiden Seiten starke Emotionen hervorruft. Befürworter der Aufnahme weiterer Flüchtlinge sind von deren Leid tief ergriffen, appellieren an das Mitgefühl und verweisen auf die Ver­pflichtung, nicht tatenlos zuzusehen, wie zahllose Menschen aufgrund unterlassener Hilfeleistung ihr Leben verlieren (wie es bspw. jedes Jahr in hoher Zahl bei Boots­unglücken auf dem Mittelmeer geschieht).

Doch auch auf der Gegenseite vermischen sich rationale Argumente mit tiefsitzenden Gefühlen. Menschen fühlen sich durch die große Zahl an Einwanderern bedroht, weil sie die Folgen dieser Entwicklung nicht abschätzen können. Sie sorgen sich um ihre eigene Sicherheit und Zukunft sowie die des deutschen Staates: Begünstigt die Zu­wanderungspolitik wohlmöglich die Ein­reise von Terroristen? Kann das deutsche Sozialsystem die Kosten der Zuwanderung stemmen? Wirkt die Zuwanderung sich negativ auf die Situation der einheimischen Bedürftigen aus (z.B. hinsichtlich der Ver­fügbarkeit von Sozialwohnungen) und lässt sie die inländischen Löhne sinken? Wird das Zusammenleben von Menschen unter­schiedlicher Kulturen gelingen?

Angesichts der Schwere der Thematik wundert es nicht, dass Menschen rat- und orientierungslos sind und sich zwischen dem Wunsch nach Mitmenschlichkeit und dem eigenen Unbehagen hin- und hergeris­sen fühlen. Das gilt auch für viele Christen. Die folgenden Ausführungen wollen daher in der Flüchtlingsfrage zu einer christlich ethisch begründeten Positionierung verhel­fen.

II. „Die Migranten“ – eine he­terogene Gruppe

Eine wichtige Voraussetzung, um zu der Thematik angemessen Stellung beziehen zu können, ist die Erkenntnis, dass „die Mig­ranten“ sich aus verschiedenen Personen­gruppen zusammensetzen. Hier wird in der gesellschaftlichen Diskussion meist nicht hinreichend differenziert. Menschen, die nach Deutschland kommen, tun dies aus sehr unterschiedlichen Beweggründen. 

Zu unterscheiden sind zwei Hauptgruppen: EU-Binnenmigranten und Migranten aus Drittstaaten. Das Freizügigkeitsgesetz ge­steht allen EU-Bürgern, sofern sie gewisse Voraussetzungen erfüllen, ein Recht auf Einreise und Aufenthalt in allen EU-Mit­gliedstaaten zu. Auf dieser Grundlage ka­men rein zahlenmäßig in den letzten Jahren (bis 2014) jährlich weit mehr EU-Bürger nach Deutschland als Drittstaatsangehö­rige.4Vgl. BAMF, Migrationsberichte 2010-2014. Im Fokus der aktuellen öffentlichen Debatte steht jedoch die zweite Gruppe, also diejenigen, die außerhalb der EU leben und nach Deutschland kommen möchten.

Innerhalb dieser Gruppe lassen sich je nach den Motiven, die diese Menschen dazu be­wegen, ihre Heimat zu verlassen, verschie­dene Gruppierungen unterscheiden:

  1. Die Gruppe der Asylsuchenden kommt nach Deutschland, weil sie sich im Her­kunftsland an Leib und Leben bedroht fühlt. Als Flüchtlinge sind diese Menschen recht­lich erst dann zu bezeichnen, wenn über ihren Antrag positiv entschieden wurde. Voraussetzung dafür ist, dass sie nachweis­lich politischer Verfolgung ausgesetzt sind. Darunter fallen gemäß Grundgesetz und Genfer Flüchtlingskonvention (nur) Men­schen, „die wegen ihrer ethnischen Zugehö­rigkeit, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politi­schen Überzeugung an Leib, Leben und Freiheit bedroht sind“.5Kirchenamt, Fremdling, 56.
  2. Alle, auf die diese Definition nicht zu­trifft, haben kein Recht auf Asyl. Dazu ge­hört auch die große Gruppe der Kriegs­flüchtlinge. Die Gewährung von Schutz ist für sie dennoch nicht ausgeschlossen. Wer nicht politisch verfolgt wird, also keine typischen Flüchtlingseigenschaften auf­weist, nachweislich aber anderweitig schutzbedürftig ist, dem kann aus humani­tären Gründen vorübergehend „subsidiärer Schutz“, eine Duldung oder eine humani­täre Aufnahme gewährt werden. Ein solcher Status ist jedoch mit weniger Rechten ver­bunden als Asylsuchende sie genießen, die beispielsweise zu einem späteren Zeitpunkt eine Niederlassungserlaubnis erhalten kön­nen.6Vgl. Babo, Rechtliche Differenzierung, 52-58.
  3. Eine weitere Untergruppe sind die Men­schen, die als Arbeitsmigranten nach Deutschland kommen. Dabei kann es sich um Menschen handeln, die als Fachkräfte gezielt angeworben werden, oder auch um Menschen, die in Deutschland ihre wirt­schaftliche Situation verbessern möchten. Letztere werden in der Gesellschaft häufig als „Wirtschaftsflüchtlinge“ bezeichnet. Während Schutzbedürftige ihre Heimat in jedem Fall unfreiwillig verlassen, geschieht dies bei Arbeitsmigranten mehr oder weni­ger freiwillig. Wenn jedoch die Wirt­schaftslage im Herkunftsland so schlecht ist, dass sich dort keinerlei Bleibeperspek­tive ergibt, ist eher von unfreiwilliger Mig­ration auszugehen. Einen Anspruch auf Asyl können Arbeitsmigranten allerdings nicht geltend machen.7Vgl. Bade, Zur Karriere, 6-7.
  4. Als vierte Gruppe sind diejenigen zu nennen, die aus familiären Gründen nach Deutschland ziehen. Wer in Deutschland lebt, aber noch enge Familienangehörige im Ausland hat, kann die Möglichkeit des Fa­miliennachzugs nutzen, um die Familie wieder zusammenzuführen. Inwiefern ein solcher Nachzug zulässig ist, wird anhand der Lebenssituation des bereits in Deutsch­land lebenden Familienmitglieds ermittelt. Meistens handelt es sich bei den Nachzie­henden um Ehepartner und minderjährige Kinder oder um Eltern Minderjähriger, die allein eingereist und als Flüchtling aner­kannt worden sind.8Vgl. Babo, Rechtliche Differenzierung, 58-63.

Weitere Migranten kommen schließlich zu Bildungszwecken. Sie möchten in Deutschland einen Sprachkurs absolvieren, eine Schule besuchen oder im Rahmen einer Berufsausbildung bzw. eines Studiums ei­nen Beruf erlernen.

Diese vereinfachte Unterteilung zeigt, wie vielschichtig die Gruppe „der Migranten“ in Wirklichkeit ist und dass pauschale Äuße­rungen nie „allen Migranten“ gerecht wer­den können. Sich in der „Flüchtlingsfrage“ zu positionieren, bedeutet daher weit mehr, als dafür oder dagegen zu sein. Eine christ­lich-ethisch begründete Sichtweise wird neben den verschiedenen Ursachen der Migration auch biblisch-theologische As­pekte in die Urteilsbildung einzubeziehen haben.

III. Biblisch-Theologische Ori­entierung: Der Umgang mit Fremden in der Bibel 

3.1. Altes Testament

Bei eingehender Betrachtung lassen sich im Alten Testament für fremde Personen un­terschiedliche Bezeichnungen erkennen und dem entsprechend verschiedene Gruppen differenzieren. Unterschieden werden diese Personengruppen je nach der Einstellung, die diese Fremden zum Gottesvolk Israel haben:9Vgl. zu den folgenden Ausführungen Jubilee, Immigration, 15-16 und Spencer, Asylum, 85-99.

  1. Fremde, die sich vollständig in die neue Gesellschaft integrieren (hebr.:gēr): Diese Gruppe ist sehr weit gefasst und schließt all diejenigen ein, die sesshaft geworden und zu vollwertigen Mitgliedern der neuen Ge­sellschaft geworden sind. Die Israeliten werden aufgefordert, ihnen wohlwollend zu begegnen und im Umgang mit ihnen keinen Unterschied zu Einheimischen zu machen (vgl. 2. Mose 23,9, 3. Mose 19,34). Für die Fremden geht die umfassende Integration mit allen Rechten und Pflichten einher, die auch für Israeliten gelten.
  2. Fremde, die sich nur in Teilen in die neue Gesellschaft integrieren (hebr.:tôšāḇ): Von der vorgenannten Gruppe werden die­jenigen unterschieden, die dauerhaft als Fremde in Israel leben, ohne das Bürger­recht zu haben10Gesenius, tôšāḇ, 874. und ohne sich vollständig in die Gesellschaft zu integrieren. Ihre Rechte sind gegenüber dem voll integrier­ten Fremden begrenzt (vgl. 3. Mose 25,44-45), die Israeliten sind aber angehalten, sich beider anzunehmen und beiden das Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen (vgl. 3. Mose 25,35). 
  3. Fremde, die von der neuen Gesellschaft getrennt bleiben (hebr.:noḵrî und zār): An­ders verhält es sich mit denjenigen, die so­wohl ökonomisch als auch kulturell und religiös unabhängig als Fremde in Israels Mitte leben. Sie sind und bleiben Fremde im eigentlichen Sinne, weil sie sich nicht integrieren und ihre Loyalität weiterhin ihrem Herkunftsland gilt. Das Verhältnis der Israeliten zu diesen Menschen ist ten­denziell von Distanz und Skepsis, bisweilen auch von Feindschaft geprägt (vgl. 5. Mose 17,15; 2. Sam 15,18-19; Hiob 19,15). 

Diese Unterscheidung verschiedener Arten von Fremden ist von Israels Selbstverständ­nis als Volk Gottes her zu verstehen. Der Glaube an Jahwe und der Gehorsam gegen­über seinen Geboten gaben der theokratisch verfassten Gesellschaft Israels ihre Identi­tät. Vollen Zugang konnte (nur) finden, wer diese Grundlage teilte. Die begrenzte Of­fenheit Israels Fremden gegenüber war also nicht primär ethnisch, sondern religiös be­dingt: Ziel war es, das Bundesvolk vor der Verunreinigung durch andere Religionen zu schützen.

3.2 Neues Testament

Im Neuen Testament hat die Ausgangslage sich grundlegend geändert. Die Theokratie Israel gehört der Vergangenheit an. Ergab sich der Zugang zum Volk Gottes früher hauptsächlich durch die Geburt als Jude, liegen der Zugehörigkeit zum Gottesvolk im Neuen Testament nicht länger ethnische Kriterien zugrunde (vgl. Eph 2,11-13). Das Volk des Neuen Bundes ist eine geistliche Größe, deren Einheit durch den Glauben an Jesus Christus und durch die Taufe entsteht (vgl. Gal 3,27-28). Als solche benötigt das neutestamentliche Gottesvolk – im Gegen­satz zum alttestamentlichen – keine Rechtssätze, die den Umgang mit Fremden für eine irdische Gesellschaft regeln. Vielmehr geht es im Horizont des anbrechenden Got­tesreiches um eine Haltung der Christen gegenüber Fremden, wie sie der Wirklich­keit von Gottes Handeln in dieser Welt ent­spricht.

Von Jesus selbst ist überliefert, dass er sich mit den Fremden identifiziert (vgl. Mt 25,35-40). Wenn Christen ihnen fürsorglich begegnen, handeln sie daher in seinem Sin­ne. Wie die Fürsorge im Alten Testa­ment mit dem Fremdsein der Israeliten in Ägyp­ten begründet wird, so verweist das Neue Testament auf das Fremdsein der Christen in dieser Welt (vgl. Hebr 13,14; 1Petr 1,1). Es ist die eigene Erfahrung, die Solidarisie­rungseffekte mit all denen her­vorruft, die Ähnliches erleben.11Vgl. Hübenthal, Fremde, 23.

Das Neue Testament macht dabei keine Unterscheidung mehr, um welche Art von Fremden es sich handelt. Entgegen der Angst der Juden vor Verunreinigung durch den Kontakt mit Fremden macht Gott deut­lich, dass niemand aufgrund seines Fremdseins gemieden oder als unrein angesehen werden soll (vgl. Apg 10,28). Jeder Mensch ist in das Bild Gottes erschaffen und seiner Würde als Mensch gemäß zu behandeln (vgl. Jak 3,9). 

Seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst ist daher ein Anspruch, der grundsätzlich unterschiedslos jedem Menschen gegenüber gilt, der mir zum Nächsten wird (vgl. Luk 10,25-37; Jak 2,1-13). Insbesondere die Gastfreundschaft Fremden gegenüber wird im Neuen Testament positiv hervorgehoben (vgl. 3. Joh 5; Hebr 13,2).

Das Volk Gottes im Neuen Bund ist eine Gemeinschaft des Heiligen Geistes (2 Kor 13,13), die jedoch bis zur Wiederkunft ihres Herrn innerhalb einer irdischen Gesellschaft existiert. Als soziale Wesen bilden Men­schen Gemeinschaften und es ist nach Got­tes Anordnung die Bestimmung der „Polis“, des Gemeinwesens, dass die staatliche Au­torität (deren Gestalt dem geschichtlichen Wandel unterliegt) das Gute bewahrt und dem Bösen wehrt (Röm 13,1-7). Letzteres ist deshalb von bleibender Bedeutung, weil der Mensch nicht nur Geschöpf, sondern infolge des Falls auch Sünder ist, und das heißt: zum Bösen geneigt. Die Reformato­ren haben betont, dass selbst die Gerecht­fertigten bis ans Ende ihres Lebens Sünder bleiben. Umso wichtiger ist es, dass das Gemeinwesen geordnet ist und es eine Au­torität gibt, die diese Ordnung auch durch­zusetzen vermag. 

Christen stehen daher in einer doppelten Verantwortung, nämlich Gott die Ehre, aber auch dem Staat das ihm Zustehende zu ge­ben (vgl. Mk 12,17; 1 Petr 2,17). Dabei hat der Gehorsam Gott gegenüber Vorrang (Apg 4,19), denn die staatliche Gewalt ist „Dienerin Gottes“ (Röm 13,4), nicht umge­kehrt. Soweit der Staat seine ihm von Gott verliehene Bestimmung annimmt, nämlich das Gute zu bewahren und dem Bösen zu wehren, sind Christen dazu angehalten, den Staat in seiner dem menschlichen Zusam­menleben dienenden Funktion anzuerken­nen. 

Was genau das je zu bewahrende Gute und abzuwendende Böse ist, darüber werden auch Christen, wenn es um gesellschafts­politische Fragen geht, nicht immer über­einstimmen. Soviel jedoch ist deutlich: Wenn es um Fragen der Flüchtlingspolitik geht, sind zwei Schutzziele miteinander zu verfolgen: einerseits der Schutz des einzel­nen Fremden, der Geschöpf und Ebenbild Gottes, aber auch Sünder wie wir ist; ande­rerseits der Schutz des staatlichen Gemein­wesens vor einem Auseinanderbrechen. 

Vieles wäre einfacher, wenn es im Verfol­gen dieser Ziele nicht immer wieder prakti­sche Zielkonflikte gäbe. Diese Zielkonflikte gilt es nun sozialethisch zu reflektieren. 

IV. Sozialethische Reflexion: Menschenwürde und Ge­meinwohl

Migration hat heute ein völlig anderes Ausmaß erreicht, als dies zu biblischen Zei­ten der Fall war. Stand damals die Lin­derung der Not Einzelner im Mittelpunkt, hat sich Migration in unserer Zeit zu einem strukturellen Phänomen globalen Ausmaßes entwickelt.12Vgl. Koudissa, Ethik, 184. Die Zunahme der weltweiten Wanderungsbewegungen hängt nicht nur mit Krieg und Verfolgung, sondern auch mit verbesserten Verkehrswegen und Kommunikationstechnologien zusammen.13Vgl. Reuter, Migration, 1215.

Die Kehrseite dieser Entwicklung ist, dass es mehr migrations- und integrationswillige Menschen gibt, als in Deutschland (und auch Europa) aufgenommen werden kön­nen. Hier steht der Staat, der für die Ge­staltung der Migrationspolitik zuständig ist, vor der Aufgabe abzuwägen, wie viele und welche Migranten aufgenommen werden sollen. Aus christlicher Sicht sind dabei sowohl die dem universellen Menschen­rechtsethos zugrunde liegende Würde des Einzelnen als auch das Wohl des nur über endliche Ressourcen verfügenden Gemein­wesens einzubeziehen.

4.1 Menschenwürde – Menschenrechte 

Der Aspekt der Menschenwürde spielt vor allem bei der Entscheidung über die Auf­nahme von Migranten eine Rolle. Men­schen, die politisch verfolgt werden oder in äußerster Armut leben, können in ihrem Herkunfts­land oftmals kein menschenwür­diges Leben führen. Ebenbild Gottes zu sein heißt aber, ein Anrecht auf Achtung seines Menschs­eins zu haben. 

Dieses Anrecht impliziert einen vorstaatli­chen Anspruch darauf, in seinen funda­mentalen, d.h. in seinen Menschenrechten anerkannt zu werden. Diese umfassen vor allem Freiheitsrechte (z.B. Recht auf Le­ben; Recht auf Meinungs-, Religions- und Versammlungsfreiheit) sowie wirtschaftli­che, soziale und kulturelle Rechte (z.B. Recht auf Arbeit; Recht auf Bildung). Den Menschenrechten ist gemeinsam, dass sie universal und für jeden Menschen individu­ell gelten. Menschenrechte sind dem Men­schen angeboren, sie müssen nicht erst durch staatliche Gesetzgebung verliehen werden.14Vgl. Kirchenamt, Fremdling, 55-56.

Handlungsbedarf besteht aus menschen­rechtlicher Perspektive immer dann, wenn diese Mindestvoraussetzungen eines men­schenwürdigen Lebens nicht gegeben sind. Dies trifft auf eine Vielzahl derjenigen zu, die als Migranten nach Deutschland kom­men. Aus humanitären Gründen besteht die Pflicht, die Asylgesuche von Menschen, die europäischen Boden betreten, zu prüfen. 

Die Umsetzung des ethisch Gebotenen ist jedoch nicht uneingeschränkt möglich, weil dem universalen Geltungsanspruch der Menschenrechte nur begrenzte Ressourcen gegenüber stehen, um denjenigen zu helfen, die für sich ein wirtschaftlich besseres Le­ben wünschen. Für Deutschland, letztlich auch Europa, bedeutet dies, die Schutzbe­dürftigkeit aller Betroffenen welt­weit anzu­erkennen, tatsächlich aber nur einer be­grenzten Anzahl an Menschen hel­fen zu können.

Man kann von hier aus noch weiter gehen und fragen, inwiefern tatsächlich von einem Recht auf Einwanderung gesprochen wer­den kann, weil jedes Recht als Gegen­über einen Pflichtenträger benötigt. Einer prinzi­piellen Pflicht zur Gewährung von Aufnah­me könnte jedoch aufgrund der begrenz­ten Ressourcen kein Staat gerecht werden. Die Pflicht eines Staates zur Wahrung der Men­schenwürde jedes Menschen impliziert da­her primär ein Unterlassen, nämlich allen Verhaltens, das die Menschenwürde von Menschen missachtet, sie deckt jedoch nicht das jeden Staat überfordernde Ziel ab, sämtlichen Menschen, deren Würde in ih­rem Heimatland missachtet wird, Auf­nahme zu gewähren.15Vgl. dazu Spaemann, Grenzen, 228-232. 

Halten wir fest: Im christlichen Bekenntnis dazu, dass Gott Schöpfer jedes Menschen ist, liegt die Dringlichkeit begründet, mit der Staaten ethisch verpflichtet sind, sich aus Nächstenliebe im Rahmen ihrer Mög­lichkeiten den Schutzsuchenden gegenüber solidarisch zu zeigen. Zugleich ist der Ziel­konflikt anzuerkennen, der darin liegt, dass ein einzelner Staat – und letztlich auch eine Gemeinschaft von Staaten – nicht allen, die Hilfe verdienen, auch helfen kann. 

4.2 Staatspolitische Aspekte

Als von Gott für den Menschen gewolltes Gemeinwesen hat ein Staat dafür zu sorgen, dass er handlungsfähig bleibt und all seinen Aufgaben gerecht wird. Dass der Staat nur in einem, wenn auch vielleicht großzügig bemessenen, so doch immer begrenzten Umfang zu humanitärer Hilfeleistung fähig ist, liegt in der Endlichkeit seiner Ressour­cen und einer Verantwortung für alle seine Bürger begründet. Daher sind neben men­schenrechtlichen nun auch staatspolitische Aspekte zu berücksichtigen. 

(a) Staatliche Ressourcen: Jeder Staat ver­fügt über – primär aus dem Steueraufkom­men gewonnene – begrenzte finanzielle Ressourcen, die er zur Erfüllung seiner Aufgaben einsetzen kann. Zwar ist um­stritten, ob Migration der einheimischen Wirtschaft langfristig eher nutzt oder scha­det,16Hier ist vor allem zwischen den kurz-, mittel- und langfristigen Folgen zu unterscheiden. Vgl. dazu Collier, Exodus, 119-143. doch die Aufnahme von Migranten geht immer auch mit Kosten einher. Gezielt angeworbene Arbeitskräfte, die in Deutschland selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen können, verursachen dabei weniger Kosten als Schutzsuchende und „Wirtschaftsflüchtlinge“. Die Gesamtzahl derer, die aus den einzelnen Gruppen aufgenommen werden können, richtet sich danach, in welchem Umfang finanzielle Mittel in den Bereich der Migrationspolitik fließen können, ohne dass dadurch andere Staatsaufgaben so stark vernachlässigt werden, dass dies zur Missachtung der Grundrechte der Bürger führt. 

(b) Äußere Sicherheit: In diesen Bereich fällt nicht nur der Schutz vor militärischen Angriffen, sondern beispielsweise auch die Abwehr von Terrorismus und illegaler Zu­wanderung. Jeder Staat hat Fremden gegen­über das Recht, und seinen Bürgern gegen­über die Pflicht, sein Staatsgebiet nach au­ßen hin zu schützen. Er muss jederzeit in der Lage sein zu kontrollieren, wer Zugang zu seinem Staatsgebiet erhält. Einen un­kontrollierten Zustrom von Migranten kann ein Staat im eigenen Interesse nicht dulden, denn „[d]as Grundgesetz setzt die Be­herrschbarkeit der Staatsgrenzen und die Kontrolle über die auf dem Staatsgebiet befindlichen Personen voraus“.17Di Fabio, Migrationskrise, 117.

Delegiert er diese Aufgabe an einen Staa­tenverbund (wie dies die Staaten der „Schengen-Gruppe“ tun), hat er eine ge­meinsame effektive Grenzsicherung zu ge­währleisten. Ist diese nicht sichergestellt, steht der Staat in der Pflicht, wieder selbst für den Schutz seiner Grenzen zu sorgen.18Vgl. ebd. 118.

(c) Innere Sicherheit: Auch nach innen muss die Sicherheit eines Staates gewähr­leistet sein. Ein stabiles friedliches Zusam­menleben einer Gesellschaft ist jedoch nur dann möglich, wenn die Gesellschaft vom Bewusstsein für gemeinsame Grundwerte getragen ist, für die einzustehen die Bürger auch bereit sind. Diese Grundwerte sind für die Bundesrepublik in der verfassungs­rechtlichen Grundordnung festgehalten. Für die Sicherheit im Inneren ist es daher uner­lässlich, dass Einwanderer das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland anerken­nen. Wer sich nicht im Verfassungsbogen der Bundesrepublik zu bewegen bereit ist, erfüllt nicht die Voraussetzungen dafür, seinen Wohnsitz (dauerhaft) in Deutschland nehmen zu dürfen. Ebenso müssen Ver­stöße, die sich – egal ob durch Einheimi­sche oder Migranten – auf dem Staatsgebiet ereignen, konsequent geahndet werden, was bei bestimmten Aufenthaltstiteln auch die Abschiebung ins Herkunftsland einschlie­ßen kann.

Neben gemeinsamen Grundüberzeugungen ist es für das Zusammenleben einer Gesell­schaft wichtig, dass sie sich im weitesten Sinne als ein Gemeinwesen begreift. Der Staat darf nicht zulassen, dass seine Bevöl­kerung in mehrere „Parallelgesellschaften“ zerfällt. Diese Gefahr besteht vor allem dann, wenn Migranten sich als Gruppen oder Clans von der Gesellschaft abschotten und den Anschluss an die einheimische Bevölkerung gar nicht erst suchen. Aus diesem Grund muss der Staat die Integra­tion von Migranten fordern und fördern. Dazu braucht es sowohl den Willen zur Integration seitens der Migranten als auch die Bereitschaft zu deren Aufnahme seitens der Einheimischen. Je mehr beides gegeben ist, umso schneller kann Integration gelin­gen. Je schneller die Integration gelingt, umso mehr Migranten können aufgenom­men werden, ohne das innere Zusammenle­ben der Gesellschaft zu gefährden.19Vgl. dazu Collier, Exodus, 63-117.

Um die Herausforderungen der Integration zu bewältigen, ist der Staat jedoch nicht nur auf die Mitwirkung aller Beteiligten ange­wiesen. Er muss darüber hinaus auch die finanziellen, personellen und zeitlichen Mittel zur Verfügung stellen können, die beispielsweise für die Erteilung von Sprachunterricht oder die Aufnahme in den Arbeitsmarkt nötig sind. Die Integrations­kapazitäten eines Staates begrenzen zwangsläufig die Anzahl an Migranten, die er aufnehmen kann. Die Komplexität der Berechnungen und die Unsicherheit von Prognosen, was die Integrationswilligkeit angeht, erlauben es der christlichen Ethik nicht, konkrete Obergrenzen anzugeben. Es ist Aufgabe der Politik, diesbezügliche Ent­scheidungen zu treffen und zu begründen. 

(d) Internationale Verantwortung:20Vgl. ebd. 189-241. Migra­tionspolitische Entscheidungen wir­ken sich nicht nur auf die Migranten selbst und den Aufnahmestaat aus, sondern auch auf die Herkunftsländer. Je mehr „pull“-Faktoren vorliegen, sprich je attraktiver ein Zielland für Migranten ist und je einfacher es die Einreise gestaltet, umso mehr Men­schen werden dorthin aufbrechen. 

Für die Herkunftsländer hat dies eine hohe Abwanderung vor allem junger, gesunder und leistungsfähiger Bürger zur Folge. Zu­rück bleiben in vielerlei Hinsicht verarmte Gesellschaften, deren Zukunftsperspektive sich aufgrund der Abwanderung ihrer Hoff­nungsträger weiter verschlechtert. Diese Situation wird durch das gezielte Anwerben von Fachkräften aus dem Ausland, auch als „Brain-Drain“ bezeichnet, zusätzlich ver­stärkt. Ein Staat muss daher zum Wohl der Herkunftsländer darauf achten, durch seine Migrationspolitik keine unbeabsichtigten Fluchtanreize zu schaffen.

Global betrachtet ist die Aufnahme mög­lichst vieler Migranten daher nur bedingt zielführend. Internationale Verantwortung wahrzunehmen, bedeutet für die Regierung eines Aufnahmestaates vielmehr, nach ihren Möglichkeiten auf die Beseitigung der „push“-Faktoren, also der Fluchtursachen vor Ort, zu drängen. Diese Strategie ist nicht geeignet, kurzfristige Lösungen zu schaffen, sollte die Migrationspolitik eines Staates auf lange Sicht aber (mit-)bestim­men.

4.3 Migrationspolitische Herausforderun­gen in der Praxis

Die vielfältigen Aufgaben, denen ein Staat gerecht werden muss, zeigen deutlich, dass es in der Migrationspolitik keine einfachen Lösungen gibt. Es handelt sich um ein sehr sensibles Zusammenspiel, in dem ein Gleichgewicht gefunden werden muss zwi­schen dem Anrecht jedes Menschen auf Achtung seiner Würde, den Eigeninteressen und Leistungsgrenzen der Aufnahmestaaten sowie den Auswirkungen auf die Her­kunftsländer. Umso wichtiger ist es, dass Migrationspolitik aktiv gestaltet wird, denn „die Herkunftsländer steuern weder die Auswanderung noch die Rückkehr und sind daher von den Steuerungsmaßnahmen der Aufnahmeländer abhängig“21Ebd. 267..

Die unterschiedlichen migrationspolitischen Ansätze westlicher Staaten gewichten die humanitären und staatspolitischen Aspekte, sprich fremde und eigene Interessen, ver­schieden stark. Die Spannung, in der beide zueinander stehen, wird in der Praxis meis­tens zugunsten der einen oder anderen Seite aufgelöst, wie der Vergleich der Migrati­onsmodelle von Deutschland und Kanada zeigt. Während für Kanada der eigene wirt­schaftliche Nutzen im Vordergrund steht, sind die deutschen Bestimmungen in Sa­chen Zuwanderung stark von einem men­schenrechtliches Ethos hergeleitet:

Deutschland ist eines von wenigen Län­dern, in deren Verfassung das Recht auf Asyl, also ein verbrieftes Grundrecht für Ausländer, verankert ist (Art. 16a GG). Wer in seinem Herkunftsland politischer Verfol­gung ausgesetzt ist, findet in Deutschland Schutz. Da es um die Menschenwürde der Betroffenen geht, ist die Aufnahme poli­tisch Verfolgter und anderweitig schutzbe­dürftiger Personen in Deutschland zahlen­mäßig grundsätzlich nicht begrenzt. Die Zugangsmöglichkeiten für Arbeitsmigran­ten hingegen sind beschränkt. Sie richten sich zahlenmäßig und hinsichtlich der vo­rausgesetzten Qualifikation nach dem Be­darf des deutschen Arbeitsmarktes sowie nach gewissen Voraussetzungen, die die Migranten erfüllen müssen.22Nähere Informationen bietet das BAMF unter http://www.bmi.bund.de/DE/Themen/Migration-Integration/Zuwanderung/Arbeitsmigration/ arbeitsmigration_node.html [05.07.2016, online nicht länger verfügbar, 28.06.2023].

Die unterschiedlich leichten Zugangswege spiegeln sich in der Größe der einzelnen Zuwanderungsgruppen wider: Die mit Ab­stand größte Gruppe bildeten in den letzten Jahren Flüchtlinge und anderweitig Schutz­bedürftige (rund ein Drittel aller Migran­ten). Als Arbeitsmigranten reisten weniger als 10% ein.23Vgl. BAMF, Migrationsberichte 2013 und 2014.

Ganz anders ist die migrationspolitische Lage in Kanada, einem der klassischen Einwanderungsländer. Im Unterschied zu Deutschland legt Kanada fest, wie viele Einwanderer der jeweiligen Kategorie jähr­lich aufgenommen werden sollen. Ange­strebt wird ein Mischungsverhältnis, bei dem Arbeitsmigranten die weitaus größte Gruppe bilden (meist über 50%); Asylsu­chende hingegen werden nur sehr begrenzt zugelassen (2011 lag der Richtwert bspw. bei 12% aller Migranten).24Vgl. zu den in diesem Artikel genannten Zahlen: http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/la­enderprofile/170738/einwanderungsstroeme[08.07.2016]. Die Werte beziehen sich auf Mig­ranten mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis, bei temporären Einwanderern ist die Verteilung zwischen Arbeitsmigranten und Flüchtlingen aber ähnlich (ebd).

Sowohl bei Arbeitsmigranten als auch bei Flüchtlingen trifft Kanada ausgehend von den eigenen Interessen eine bewusste Aus­wahl, wer aufgenommen wird und wer nicht. Potenzielle Arbeitsmigranten werden in einem Punktesystem nach Kriterien wie Alter, Sprachkenntnis, Qualifikation und bestehendem Jobangebot eingestuft und nur bei Erreichen einer Mindestpunktzahl zu­gelassen.25Vgl. Schmidtke, Einwanderungsmodell, 211-212; http://www.welt.de/politik/ausland/ar­ticle138205170/Was-Kanada-besser-macht-und-was-schlechter.html [08.07.2016]. Flüchtlinge werden vor der Auf­nahme genau auf Aspekte wie Sicherheit, Kriminalität und Gesundheit überprüft.26Vgl. http://www.cic.gc.ca/english/refugees/canada. asp [08.07.2016]. Kanada behält es sich vor, bestimmte Per­sonengruppen bei der Anerkennung als Flüchtling zu bevorzugen bzw. andere aus­zuschließen (z.B. allein reisende junge Männer).

Beide Ansätze haben Stärken und Schwä­chen:

Kanada zeichnet sich in der Migrationspo­litik durch einen starken Staat aus, dem es gelingt, die Migration zu kontrollieren und gezielt zu steuern. Damit soll sichergestellt werden, dass der Staat den ihm wesentli­chen Aufgaben dauerhaft gerecht wird. Durch die begrenzte und gezielte Auswahl gelingt es, Migranten von Beginn an gut in die Gesellschaft zu integrieren.27Vgl. BAMF, Kanada, 15-16. Der Hauptkritikpunkt betrifft das Ausmaß der wirtschaftlichen Eigeninteressen. Es handelt sich letztlich um einen utilitaristischen An­satz, der den eigenen Nutzen zum Maßstab des Handelns erhebt und dem das humani­täre Engagement für Schutzbedürftige weit­gehend zum Opfer fällt.28Vgl. Schmidtke, Einwanderungsmodell, 223.

Bei einem Wohlfahrtsstaat wie Deutschland kehren sich Stärken und Schwächen um: Er zeichnet sich aus durch eine große Bereit­schaft zur humanitären Unterstützung Schutzbedürftiger. Gleichzeitig steht er in der Gefahr, Zuwanderung zu wenig aktiv zu steuern. Da Migranten mit niedrigem Hu­mankapital bevorzugt in Wohlfahrtsstaaten einwandern, sind eine genaue Überprüfung der Schutzbedürftigkeit und eine – wie auch immer geartete – Begrenzung der Zuwande­rung für Arbeitsmigranten unerlässlich.29Vgl. BAMF, Kanada, 58. Auch die Integration kann in diesem Mo­dell zu einem Problem werden, wenn inner­halb kurzer Zeit viele Menschen zuwan­dern.

4.4. Ergebnis

Eine christlich-ethisch verantwortbare Mig­rationspolitik zeichnet sich durch eine grundsätzliche Offenheit zur Aufnahme von Migranten in die eigene Gesellschaft aus. Weil sie die angeborene Würde jedes Men­schen anerkennt, schenkt sie politisch Ver­folgten und anderweitig Schutzbedürftigen besonderes Augenmerk und setzt sich mit ihrer wenn auch begrenzten Kraft für eine Verbesserung der Notlage ein. Gleichzeitig trägt sie der Tatsache Rechnung, dass der Staat als von Gott gegebener Ordnungsträ­ger eine Vielzahl von Aufgaben zu erfüllen hat, denen er gleichermaßen gerecht werden muss. Sie erkennt daher an, dass nicht jeder integrationswillige Migrant Aufnahme fin­den kann. Die Auswahl derer, die aufge­nommen werden, gestaltet sie aktiv nach ethisch vertretbaren Kriterien, indem sie wirtschaftliche Eigeninteressen nicht über die Solidarität mit hilfsbedürftigen Mitmen­schen erhebt. 

V. Fazit: Impulse für eine christ­lich-ethische Beurteilung der „Flüchtlingsfrage“

Aus der theologisch-ethischen Reflexion lassen sich einige Impulse gewinnen, die Christen in Deutschland in der „Flücht­lingsfrage“ helfen können, zu einem bib­lisch begründeten und ethisch verantwortli­chen Urteil zu gelangen. Dazu ist es hilf­reich, noch einmal zwischen den verschie­denen Gruppen von Migranten zu unter­scheiden:

a) Politisch Verfolgte/Schutzbedürftige: Ausgehend von dem Menschenrechtsge­danken, der in der angeborenen Würde je­des Menschen gründet, hat die Aufnahme politisch Verfolgter und anderweitig Schutzbedürftiger – soweit die vorliegen­den Ressourcen und die übrigen Staatsauf­gaben dies zulassen – unbedingten Vorrang. Wo die existenzielle Not von Menschen leichtfertig übergangen oder hinter eigene Interessen zurückgestellt wird, müssen Christen unter Verweis auf die Gotteben­bildlichkeit aller Menschen und auf das biblische Gebot der Nächstenliebe ein Um­denken einfordern. Dies gilt sowohl für die Politik als auch im persönlichen Umfeld.

Wenn migrationskritische Bürger einwen­den, dass eine solche Politik auf Dauer nicht tragbar sei, weisen sie auf einen wich­tigen Aspekt hin: Die Gewährung von Asyl zielt auf eine zeitlich begrenzte Auf­nahme des in seiner Heimat an Leib und Leben Bedrohten. Das System ist nur um­setzbar, wenn Menschen in ihre Heimat zurückkeh­ren, sobald die Ursache der Be­drohung, und damit der Asylgrund, ent­fällt.30Vgl. Collier, Exodus, 202. Um dies überprüfen zu können, ist bei der Einreise die Registrierung aller Flüchtlinge notwen­dig. Die Praxis der Rückführung ist ethisch nicht grundsätzlich verwerflich, weil der deutsche Staat damit seiner internationalen Verantwortung den Herkunftsländern ge­genüber gerecht wird, indem er beispiels­weise nach einem Bür­gerkrieg die junge Generation zum Wieder­aufbau dorthin zu­rückschickt.31Vgl. ebd. 278. Dies steht in deutlicher Diskrepanz zu der Tatsache, dass in Umfragen rund 85% der befragten anerkannten Flüchtlinge angeben, für immer in Deutschland bleiben zu wollen (vgl. BAMF, Asylberechtigte, 8). Eine dauer­hafte Aufenthaltserlaubnis wird jedoch nur dann gewährt, wenn die Fluchtursachen lange Zeit weiterbestehen, um den Menschen – ethisch zu Recht - wieder eine Lebensperspek­tive zu bieten. Die Ab­schiebung straffällig gewordener Migranten ist im Interesse der inneren Sicherheit be­gründet zu verantwor­ten.

b) Arbeitsmigranten: Während im Umgang mit Schutzbedürftigen für die Aufnahme zu Recht deren Menschenwürde ausschlagge­bend ist, ist es im Rahmen der Arbeitsmig­ration legitim, die Konsequenzen für alle Beteiligten gleichermaßen zu berücksichti­gen. Da allein das Aufnahmeland den Mig­rationsprozess aktiv beeinflussen kann, ist es seine Aufgabe, die verschiedenen Inte­ressen gegeneinander abzuwägen. Unab­hängig von der konkreten Ausgestaltung des Umgangs mit Arbeitsmigranten sollten aus christlich ethischer Sicht folgende As­pekte Beachtung finden:

Arbeitsmigranten reisen in der Regel ein, weil sie ihre persönliche Lebenssituation verbessern möchten. Angesichts der Armut, aus der viele von ihnen kommen, ist es für Christen angezeigt, diesen Menschen Ver­ständnis entgegenzubringen und sie in ihrer Würde zu achten, indem sie ihnen freund­lich begegnen. Gleichzeitig gilt es im Blick zu behalten, dass Armut – so schlimm sie im Einzelfall auch sein mag – keinen Asylgrund darstellt und dass die globale Ungerechtigkeit auf dem Weg der Migra­tion nicht behoben werden kann. Weil die Zahl der potenziellen Arbeitsmigranten unbegrenzt ist, müssen Aufnahmestaaten wie Deutschland diese Art der Zuwande­rung zwangsläufig begrenzen. Dies ist auch in der Verantwortung gegenüber den Her­kunftsländern ethisch geboten, denen mit den abgewanderten Arbeitskräften ein wichtiger Wirtschaftsfaktor verloren geht. 

Zu den bereits widersprüchlichen Interessen von Migranten und Herkunftsländern kommen noch die Eigeninteressen des Auf­nahmelandes hinzu. Diese zum alleinigen Maßstab des Handelns zu machen (wie es weitgehend in Kanada geschieht), ist aus christlicher Sicht ethisch problematisch. Als eines von verschiedenen Kriterien ist das Gemeinwohl, wie wir sahen, aber durchaus legitim. Zum Bedarf auf dem inländischen Arbeitsmarkt kommen dann die finanziel­len, räumlichen und gesellschaftlichen Ka­pazitäten sowie die Aussichten auf eine erfolgreiche Integration. Außerdem hat der Staat das Recht und die Pflicht, seine Sozi­alsysteme vor einer übermäßigen Beanspru­chung zu schützen.

Eine ethisch verantwortungsvolle Migrati­onspolitik hat in dieser Konstellation wider­sprüchlicher Interessen von Migrant, Auf­nahmeland und Herkunftsland die Aufgabe, die Grundlinien einer menschenwürdigen und zugleich gemeinwohlorientierten Migrationspolitik zu bestimmen. 

In Deutschland zeigt sich zudem ein grund­sätzliches Problem der Arbeitsmigration: Weil die Zugangsmöglichkeiten, von denen für Fachkräfte abgesehen, sehr begrenzt sind, suchen wirtschaftlich motivierte Mig­ranten Zugang über das Asylverfahren. Dies führt zu einer großen Anzahl von Asylan­trägen, von denen jeder einzelne daraufhin geprüft werden muss, ob ein Asylgrund vorliegt. Erschwerend kommt hinzu, dass Migranten nicht immer eindeutig einer der beiden Gruppen zugeordnet werden kön­nen, denn die Übergänge sind durchaus fließend: Wer politisch verfolgt wird, leidet nicht selten unter wirtschaftlichen Benach­teiligungen. Ebenso bringen Kriege zwangsläufig eine Verarmung der Gesell­schaft mit sich. Die Grenze zwischen politi­scher und Wirtschaftsflucht ist oftmals schwer zu ziehen. Arbeitsmigration ethisch verantwortungsvoll zu gestalten, ist daher eine bleibende Herausforderung für jedes Aufnahmeland.

(c) Familiennachzug: Die Möglichkeit des Familiennachzugs besteht sowohl für Ar­beitsmigranten als auch für Asylsuchende und anderweitig Schutzbedürftige. Auch wenn die jeweiligen Bedingungen, die von­einander abweichen, in diesem Text nicht näher beleuchtet wurden, kann festgehalten werden, dass der Schutz von Familien ein großes Anliegen christlicher Familienethik ist. In ihrem Sinne ist eine möglichst schnelle Zusammenführung der Familien von Migranten in jedem Fall geboten. Eine verantwortungsvolle Migrationspolitik be­rücksichtigt den Familiennachzug daher bereits bei der Festlegung ihrer Kontin­gente, verschließt aber auch die Augen nicht vor realen rechtlichen Problemen, wie z.B. dem Phänomen von im Ausland ge­schlossenen Mehr- oder Kinderehen. Das Recht des Staates, an Migranten im Rah­men des Familiennachzugs bestimmte An­sprüche zu stellen (z.B. hinsichtlich der Integrationsbereitschaft), bleibt von der Dringlichkeit des Anliegens unberührt.

Wenn Staaten ihre Migrationspolitik in die­sem Sinne aktiv gestalten und ihre migrati­onspolitischen Entscheidungen der Bevöl­kerung gegenüber entsprechend kommuni­zieren, muss Migration kein Thema bleiben, das die Gesellschaft dauerhaft polarisiert. Wenn Migration so gesteuert wird, dass die – auch unter Berücksichtigung ethischer Gesichtspunkte – unumgängliche Begren­zung des Zustroms erfolgt, und wenn die schnelle Integration der Migranten in die Aufnahmegesellschaft gefordert und geför­dert wird, wird das vielen Bürgern helfen, ihre Ängste abzulegen und Fremden solida­risch zu begegnen. 

© 2016 Institut für Ethik & Werte

Kerstin Schmidt

Kerstin Schmidt

Endnoten

  • 1
    Vgl. http://www.ifd-allensbach.de/uploads/tx_repo rtsndocs/FAZ_Oktober_Flu__chtlinge.pdf [04.05.2016, leider nicht mehr verfügbar 28.06.2023].
  • 2
    Vgl. ebd. Schaubild 1.
  • 3
    Vgl. ebd. Anm. zu Tabelle A7+8 (S.3-4).
  • 4
    Vgl. BAMF, Migrationsberichte 2010-2014.
  • 5
    Kirchenamt, Fremdling, 56.
  • 6
    Vgl. Babo, Rechtliche Differenzierung, 52-58.
  • 7
    Vgl. Bade, Zur Karriere, 6-7.
  • 8
    Vgl. Babo, Rechtliche Differenzierung, 58-63.
  • 9
    Vgl. zu den folgenden Ausführungen Jubilee, Immigration, 15-16 und Spencer, Asylum, 85-99.
  • 10
    Gesenius, tôšāḇ, 874.
  • 11
    Vgl. Hübenthal, Fremde, 23.
  • 12
    Vgl. Koudissa, Ethik, 184.
  • 13
    Vgl. Reuter, Migration, 1215.
  • 14
    Vgl. Kirchenamt, Fremdling, 55-56.
  • 15
    Vgl. dazu Spaemann, Grenzen, 228-232. 
  • 16
    Hier ist vor allem zwischen den kurz-, mittel- und langfristigen Folgen zu unterscheiden. Vgl. dazu Collier, Exodus, 119-143.
  • 17
    Di Fabio, Migrationskrise, 117.
  • 18
    Vgl. ebd. 118.
  • 19
    Vgl. dazu Collier, Exodus, 63-117.
  • 20
    Vgl. ebd. 189-241.
  • 21
    Ebd. 267.
  • 22
    Nähere Informationen bietet das BAMF unter http://www.bmi.bund.de/DE/Themen/Migration-Integration/Zuwanderung/Arbeitsmigration/ arbeitsmigration_node.html [05.07.2016, online nicht länger verfügbar, 28.06.2023].
  • 23
    Vgl. BAMF, Migrationsberichte 2013 und 2014.
  • 24
    Vgl. zu den in diesem Artikel genannten Zahlen: http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/la­enderprofile/170738/einwanderungsstroeme[08.07.2016]. Die Werte beziehen sich auf Mig­ranten mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis, bei temporären Einwanderern ist die Verteilung zwischen Arbeitsmigranten und Flüchtlingen aber ähnlich (ebd).
  • 25
  • 26
  • 27
    Vgl. BAMF, Kanada, 15-16.
  • 28
    Vgl. Schmidtke, Einwanderungsmodell, 223.
  • 29
    Vgl. BAMF, Kanada, 58.
  • 30
    Vgl. Collier, Exodus, 202.
  • 31
    Vgl. ebd. 278. Dies steht in deutlicher Diskrepanz zu der Tatsache, dass in Umfragen rund 85% der befragten anerkannten Flüchtlinge angeben, für immer in Deutschland bleiben zu wollen (vgl. BAMF, Asylberechtigte, 8). Eine dauer­hafte Aufenthaltserlaubnis wird jedoch nur dann gewährt, wenn die Fluchtursachen lange Zeit weiterbestehen, um den Menschen – ethisch zu Recht - wieder eine Lebensperspek­tive zu bieten.

Bibliografie

Babo, Markus, Rechtliche Differenzierung von Migration aus sozialethischer Per­spektive, in: Migration gerecht gestalten, Hg. Martin Dabrowski / Judith Wolf u.a., Paderborn 2015, 39-80

Bade, Klaus J., Zur Karriere und Funktion abschätziger Begriffe in der deutschen Asylpolitik, in: APuZ 25/2015, 3-8

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Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Migrationsberichte 2010-2014, einsehbar unter: http://www.bamf.de/ DE/DasBAMF/Forschung/Ergebnisse/ Migrationsberichte/migrationsberichte-node.html [14.06.2016, leider nicht mehr verfügbar, 28.06.2023]

Collier, Paul, Exodus. Warum wir Einwan­derung neu regeln müssen, München 2016

Di Fabio, Udo, Migrationskrise als födera­les Verfassungsproblem, Bonn 2016, on­line zugänglich unter: http://www. bay­ern.de/wp-content/uploads/2016/01/ Gutachten_Bay_DiFabio_formatiert.pdf [24.06.2016, leider nicht mehr verfügbar, 28.06.2023]

Hübenthal, Christoph, „Denn ihr seid selbst Fremde gewesen“, in: Ethik und Migra­tion. Gesellschaftliche Herausforderun­gen und sozialethische Reflexion, Hg. Michelle Becka / Albert-Peter Reth­mann, Paderborn 2010, 15-23

Jubilee Centre (Hg.), Immigration and Jus­tice. How local churches can change the debate on immigration in Britain, Cam­bridge 2015

Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und Sekretariat der Deut­schen Bischofskonferenz in Zusammen­arbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland, „… und der Fremdling, der in deinen Toren ist.“. Gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht (Gemeinsame Texte 12), Bonn 1997

Koudissa, Jonas, Ethik und Migration. Das afrikanische Flüchtlings- und Migrati­onsproblem. Eine Herausforderung für Europa und Afrika (Forum Sozialethik 12), Münster 2014

Reuter, Astrid, Migration. I. Sozialwissen­schaftlich, in: RGG 5, 4. Aufl. Tübingen 2010, 1215-1217

Schmidtke, Oliver, Das kanadische Ein­wanderungsmodell. Wohlverstandenes Eigeninteresse und multikulturelles Ethos, in: Migration im Spannungsfeld von Globalisierung und Nationalstaat, Hg. Dietrich Thränhardt / Uwe Hunger (Leviathan 22/2003), Wiesbaden 2003, 205-226

Spaemann, Robert, Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, 2001, 2. Aufl. Stuttgart 2002

Spencer, Nick, Asylum and Immigration.A Christian Perspective on a Polarised De­bate, Bletchley 2004