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Kindeswohlgefährdung in staatlicher Verantwortung

Helmut Kentler und die Bestellung pädosexueller Männer als Pflegeväter

Einleitung

Es war ein Abend im Herbst 1989, als H. zu Marco ins Zimmer kam. „Kuscheln“ möchte er, sagte H. Dann forderte er Marco auf, ihn oral zu befriedigen. Marco zögerte. „Das machen Söhne mit ihrem Papa so, wenn sie sich liebhaben“, erklärte ihm H. daraufhin. Marco, gerade einmal sieben Jahre alt, glaubte ihm. Zehn Jahre lang erlebte er sexuelle Gewalt durch H. Die ersten Jahre wurde er etwa einmal pro Woche zu H. ins Schlafzimmer gerufen oder H. lauerte ihm auf, wenn er nachts zur Toilette ging. Der erzwungene Analverkehr hinterließ bei Marco blutende Wunden. "Das ist normal, das hört wieder auf", habe H. dann gesagt. Die Narben hat er heute noch. Marco geht davon aus, dass er auch missbraucht wurde, während er schlief. H. habe ihm Tabletten gegeben, die ihn müde machten.1Vgl. https://www.spiegel.de/spiegel/berliner-jugendamt-vermittelte-kinder-an-paedophile-a-1185461.html

Marco steht stellvertretend für (überwiegend) Jungen, die Opfer sexueller Gewalt von Tätern wurden, die ihnen vom Jugendamt als Pflegepersonen zugewiesen wurden oder deren Versorgung durch pädosexuelle Betreuer organisiert wurde. Die Taten sind strafrechtlich verjährt, viele der Täter nicht mehr am Leben. Doch warum interessiert sich kaum jemand für das Leben und Leiden der Kinder und Jugendlichen, die seit Anfang der 1970er Jahre über Jahrzehnte hinweg in Pflegeverhältnisse pädosexueller Männer2Die Forscher der Universität Hildesheim entscheiden sich dafür, den verbreiteteren Begriff Pädophilie zu verwenden. Dieser Artikel verwendet den heute eher gebrauchten Begriff Pädosexualität, der zum Ausdruck bringt, dass hinter dem etwas verschleiernden Begriff der „Kinderliebe“ sexualisierte Gewalt und Kindesmissbrauch stehen. Zitate folgen der Begrifflichkeit der jeweiligen Quelle. vermittelt wurden, welche ihre Schutzbefohlenen schwer und über lange Zeiträume hinweg sexuell missbrauchten? 

I. Wer war Helmut Kentler?

2019 begann an der Universität Hildesheim eine vom Berliner Senat in Auftrag gegebene Aufarbeitung des Wirkens Helmut Kentlers in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe. Im Fokus der Untersuchung stand dabei die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Tätern und den beteiligten Organisationen. Genauer gefragt: „wie konnte organisational Kentlers ‚Experiment‘ und damit die Verletzung der Rechte von jungen Menschen verwirklicht und so lange möglich werden“?3https://www.uni-hildesheim.de/media/fb1/sozialpaedagogik/Forschung/Aufarbeitung_-Jugendhilfe_Berlin-_Kentler/jhberlin_Vorhabensbeschreibung.pdf, 5.

Helmut Kentler (1928-2008) war nach seinem Studium der Psychologie, Medizin, Pädagogik und Philosophie zunächst in evangelischen Bildungsinstitutionen tätig, später orientierte er sich stärker wissenschaftlich. Wichtig für die folgende Untersuchung ist seine achtjährige leitende Position im Pädagogischen Zentrum (1966-1974). 1975 promovierte er zum Thema „Eltern lernen Sexualerziehung“, dessen Publikation eine große Reichweite hatte. Er galt seinerzeit als Experte für Sexualerziehung, sprach sich für eine „emanzipatorische“ Jugendarbeit und Sexualaufklärung aus und war auch für seine pädosexuellen-freundlichen Positionen bekannt. Von 1976 bis 1996 war Kentler als Professor für Sozialpädagogik an der Universität Hannover tätig. Er war ledig, homosexuell und hatte drei Adoptivsöhne sowie einen Pflegesohn.

In politischen Kreisen angesehen und einflussreich, forderte Kentler, Kinder als sexuelle Wesen wahrzunehmen und sie zum Ausleben ihrer Bedürfnisse zu ermutigen. Von dieser Grundannahme angetrieben, in der er stark von den Sexualforschern Wilhelm Reich und Alfred C. Kinsey geprägt war, setzte er sich für die Entkriminalisierung von „einvernehmlich“ sexuellen Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen ein. Andreas Späth und Menno Aden beobachten treffend: „Lebenslüge dieser Bewegung war die These, sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern könnten einvernehmlich und freiwillig sein. Kinder hätten ein ‚Recht auf Sexualität‘ und es geschehe ihnen ein Unrecht, wenn ihnen sexuelle Betätigung nicht erlaubt werde – mit wem auch immer ‚sie‘ es wünschten.“4Andreas Späth, Menno Aden, Die missbrauchte Republik. Aufklärung über die Aufklärer, London/Hamburg 2010, 127.

Um seine Ansichten wissenschaftlich zu untermauern, startete Kentler in den 1970er Jahren ein „Experiment“5Die Wissenschaftler betonen, dass der Begriff „Experiment“ ebenso wie weitere Bezeichnungen von Kentler selbst stammen und in der Untersuchung deshalb übernommen, aber durchgängig als solche durch Anführungszeichen gekennzeichnet werden, um sich von diesen abzugrenzen (6). Im Kontext des Pädagogischen Zentrums und auch in der Senatsverwaltung war das Konzept des „Experiments“ bekannt, verbreitet und positiv konnotiert (29). , bei dem er Jugendliche, die auf der Straße lebten oder als schwer erziehbar galten, bei pädosexuellen „Pflegevätern“ unterbrachte. 

Worum geht es bei den untersuchten Vorgängen konkret? Ende der 1960er Jahre errichtete Kentler nach eigenen Angaben Pflegestellen für Jugendliche, die als schwer erziehbar galten, bei drei „Hausmeistern“, wissend, dass es sich bei diesen Männern um vorbestrafte Pädosexuelle handelte. Kentler erwartete sogar sexuelle Kontakte der Pflegeväter mit den Jugendlichen und wollte seine Vermutung überprüfen, dass sich der zärtliche Umgang positiv auf die Verfassung der Jugendlichen auswirke und sie sozial integriere. Denn nur Pädosexuelle seien in der Lage, „schwachsinnige“ Kinder wie diese zu lieben. 

Er dokumentierte sein „Experiment“ und dessen Ergebnisse in einem 1988 veröffentlichten Gutachten („Homosexuelle als Betreuungs- und Erziehungspersonen unter besonderer Berücksichtigung des Pflegekindschaftsverhältnisses“ (i. A. des Berliner Senats für Jugend und Familie)) und veröffentlichte sie auch in seinem Buch „Leihväter“ (1989), beides jedoch erst, nachdem die begangenen Straftaten bereits verjährt waren. Auch die eher vagen Angaben zu den teilnehmenden Personen lassen vermuten, dass Kentler sich der Illegalität seines „Experiments“ bewusst war. Trotzdem fand alles in staatlicher Verantwortung statt, die Pflegestellen liefen über das Berliner Jugendamt und Kentler präsentierte sein „Experiment“ stolz als vollen Erfolg – der es nach außen scheinbar war: Die „Trebegänger“ waren weg von der Straße, die vorbestraften Pädosexuellen wurden nicht mehr straffällig – zumindest nach außen hin nicht. Für Kentler war klar: Eine Win-Win-Situation.

So begann in den 1970er Jahren ein „Experiment“ an schutzbefohlenen Minderjährigen, ein „Experiment“, das über Jahrzehnte dauerte und an dessen Ermöglichung staatliche Stellen maßgeblich beteiligt waren. Kentler gelang es, die Reichweite seines kriminellen Wirkens über Jahrzehnte zu verschleiern, mehr noch: das von Kentler selbst präsentierte Bild der Pflegeverhältnisse bestimmt bis in die Gegenwart weithin selbst die kritische Wahrnehmung. Vorherige Untersuchungen des Themas sowie die Berichterstattung in den Medien beschränkten sich zumeist auf Kentlers Darstellung des „Experiments“, wogegen die „Perspektiven und Deutungsmuster“ der Betroffenen unberücksichtigt blieben (7).6Ergebnisbericht. Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe, Hg, Meike Baade, Carolin Oppermann, Julia Schröder, Wolfgang Schröer, Hildesheim 2020. Die im Text in Klammern angegebenen Seitenangaben beziehen sich alle auf diesen Ergebnisbericht. Zudem wurde zu wenig aufgearbeitet, inwieweit zuständige Organisationen an der Durchführung von Kentlers „Experiment“ beteiligt waren. Für das unter seiner Verantwortung durchgeführte „Experiment“ wurde Kentler nie strafrechtlich verfolgt, die Taten galten als verjährt. Er starb 2008, bevor sein Wirken neu aufgerollt bzw. untersucht wurde und Betroffene sich an die Öffentlichkeit wandten.

Kritisch rezipiert wurde das sogenannte „Kentler-Experiment“ zunächst zögerlich, nur einzelne Stimmen, wie die feministische Zeitschrift „EMMA“7Siehe „Falsche Kinderfreunde“ (1993), https://www.emma.de/artikel/falsche-kinderfreunde-263497 (Zugriff: 19.02.2021). seit den 1990er Jahren, Andreas Späth und Menno Aden in ihrem Buch „Die missbrauchte Republik“ (2010) und „Der Spiegel“8https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-110117926.html (Zugriff: 19.02.2021) (2013), machten darauf aufmerksam. Erst 2015 erweckte das Geschehene das Interesse der Öffentlichkeit. Dabei hatte Kentler durchaus einen politischen Resonanzraum und hat maßgeblich dazu beigetragen, dass pädosexuellen-freundliche Positionen auch in politischen Kreisen bereitwillig diskutiert wurden. 

So forderte in den 1980er Jahren die junge Partei Die Grünen die Legalisierung von einvernehmlichen sexuellen Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen. Obwohl besonders feministische Stimmen die Parteiprogrammatik bald in eine andere Richtung zu lenken vermochten, kam breite öffentliche Empörung über diese in der frühen Phase der Partei diskutierten Positionen erst 2013 auf, wobei sich Bündnis 90/Die Grünen klar von diesen Positionen distanziert hat. Doch geschah die Aufarbeitung eher zurückhaltend, auch die öffentliche Verantwortungsübernahme und Distanzierung von Ansichten, die in Teilen des Parteimilieus vertreten wurden, fiel der Partei schwer, die dieses Kapitel Parteigeschichte lieber verdrängt hat.9Die Hintergründe dazu sind nachzulesen in: Die Grünen und die Pädosexualität. Eine bundesdeutsche Geschichte (Hg. Franz Walter / Stephan Klecha / Alexander Hensel), Göttingen 2015.

Auch die FDP wird nur ungern daran erinnert, dass es in den 1980er Jahren zumindest eine Offenheit für pädosexuelle Positionen in ihren Reihen gab.Darüber berichtet 2013 „Der Spiegel“, 10https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-110117926 .html (Zugriff am 19.02.21). So wurde Helmut Kentler 1981 von der FDP als Teil einer Expertenkommission zu einer Debatte über eine Anpassung des Sexualstrafrechts eingeladen, und erhielt so die Gelegenheit, auch Ergebnisse seines „Experiments“ vorzustellen.11Wie versucht wurde, die Anpassung des Sexualstrafrechts bei pädosexuellen Handlungen an die politische Umsetzung von Entkriminalisierung männlicher Homosexualität anzuhängen, „um Pädosexuelle als Opfer gesellschaftlicher Zwänge und als zu Unrecht verfolgte Minderheit zu stilisieren“, wird in der Vorstudie der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs gezeigt (6-18), die verschiedene pädosexuelle Netzwerke und Bewegungen in Berlin untersucht und auch Verbindungen zum Fall Kentler aufzeigt. Iris Hax / Sven Reiß, Vorstudie. Programmatik und Wirken pädosexueller Netzwerke in Berlin – eine Recherche, Berlin 2021, https://www.aufarbeitungskommission.de/mediathek/programmatik-und-wirken-paedosexueller-netzwerke-in-berlin/ (Zugriff am: 10.03.2021)

Kentler hat von Anfang an das Ausmaß seines „Experiments“ verschleiert. Die Stimmen der Betroffenen, denen damals jede Hilfe verwehrt wurde, blieben ungehört. Der Ergebnisbericht der Universität Hildesheim hat vor diesem Hintergrund zum Anliegen, den Protagonisten die Hoheit über die Geschichtsschreibung aus der Hand nehmen und die organisationalenVerflechtungen, die Kentlers Menschen-„Experiment“ überhaupt erst ermöglichten, freizulegen.

In diesem Artikel soll der Schleier des Nichts-wissen-Wollens, der über dem Wirken Kentlers liegt, zurückgezogen werden, indem im Anschluss an die Hildesheimer Studie nach der staatlichen Verantwortung für die sexuelle Gewalt an Minderjährigen gefragt und im Weiteren die Reichweite seiner „emanzipatorischen“ Sexualpädagogik problematisiert wird. Dazu sollen zunächst die Ergebnisse der Untersuchung der Universität Hildesheim zum Fall Kentler dargestellt und eingeordnet werden. Abschließend fragen wir danach, wie eine Verantwortungsübernahme nach staatlichem Systemversagen aussehen sollte.

II. Der Ergebnisbericht der Universität Hildesheim: „Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe“ (2020)

Bei der Untersuchung handelt es sich um ein vom Berliner Senat für Bildung, Jugend und Familie in Auftrag gegebenes Aufarbeitungsprojekt des Wirkens Helmut Kentlers in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe. Auf der Untersuchung lagen große Hoffnungen. Auch wenn das Geschehene nicht ungeschehen gemacht werden kann und die Straftaten als verjährt galten, erhofften Betroffene sich Klärung und Verantwortungsübernahme durch den Ergebnisbericht der Studie, der dies selbst als Ziel formuliert hat. 

Mit dem neuen Ergebnisbericht sollen die Darstellungen der Betroffenen stärker berücksichtigt werden. Grundlage der Untersuchung bilden daher die Aussagen zweier Betroffener („Marco“ und „Sven“), die bis Anfang der 2000er Jahre bei einem solchen Pflegevater untergebracht waren und trotz Verjährung 2017 eine Strafanzeige gegen den Pflegevater und den zuständigen Sozialarbeiter einreichten. 

Außerdem wird in der Untersuchung herausgearbeitet, dass Kentlers Wirken „nicht außerhalb von bestehenden Infrastrukturen“ (5), sondern im Rahmen verschiedener sozialer, pädagogischer sowie staatlicher Strukturen stattfand und er sich dieser Strukturen bediente, um Verantwortungsträger in wichtigen Positionen zu beeinflussen. Im Mittelpunkt der Aufarbeitung im Rahmen der Hildesheimer Studie stehen daher Fragen wie diese: Wer war involviert und trägt welche Verantwortung für das Geschehene? Welche Rolle hatten Organisationen? Welche Strukturen ermöglichten systematisch die Missachtung der Rechte der betroffenen Kinder und Jugendlichen? Wo bestehen Verbindungen zu anderen Verfahren? 

Im Ergebnisbericht geht es nicht um das, was in den Pflegestellen selbst geschehen ist, sondern um die Beteiligung und Verantwortung der involvierten Organisationsstrukturen. „Im Mittelpunkt […] steht das Recht der Betroffenen zu erfahren, in welcher Verantwortungsstruktur und in welchem Ausmaß Organisationen Übergriffe, Gewalt und Grenzverletzungen ermöglicht haben.“ (8).

Das Ergebnis dieser Untersuchung zeigt: Kentler war auf verschiedenen Ebenen aktiv. Die Komplexität dieses Netzwerks von sozialen, pädagogischen und staatlichen Einrichtungen wird im zweiten Teil der Studie in seiner Komplexität dargestellt. Das Fazit der Forscher lautet: „Aus Sicht der Aufarbeitung handelt es sich bei dem Wirken von Helmut Kentler in den unterschiedlichen Konstellationen weder um ein ‚Experiment‘ noch um eine Idee von Heimreform, sondern um Kindeswohlgefährdung in staatlicher Verantwortung.“ (10).

Teil I: Erfahrungen der Betroffenen

Der erste Teil der Studie schildert die Erfahrungen und Wahrnehmungen der Betroffenen, wobei nur wenige der Betroffenen ihre Erfahrungen öffentlich machen. Zwei der an der Aufarbeitung beteiligten Betroffenen kamen 1989 und 1991 in die Pflegestelle. Daher wird deutlich, dass Kentlers Wirken „weit über das hinaus gegangen ist (auch zeitlich) was er selbst als sein „Experiment“ beschrieben hat“ (11) und dass dieses bis ins 21. Jahrhundert hineinreichte: In dem Gutachten über das „Experiment“, dass Kentler 1979 veröffentlichte, „suggeriert er mit der Abgeschlossenheit der Erzählung über sein sogenanntes ‚Experiment‘ zugleich die Abgeschlossenheit des ‚Experimentes‘, während in Wirklichkeit vergleichbare Strukturen […] weiter wirkten […]. Das […] dient in Wirklichkeit der Verdeckung einer vergleichbaren und zeitlich zur Veröffentlichung parallelen Praxis.“ (18) 

Nachweislich war Kentler auch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Gutachtens und auch noch danach als Gutachter für Pflegestellen mit ähnlichen Verhältnissen tätig. Die beiden Betroffenen berichteten von schweren, regelmäßigen Gewalt- und Missbrauchserlebnissen sowie vor allem auch davon, in ihrer Situation nicht vom zuständigen Jugendamt wahrgenommen und geschützt worden zu sein.

Auch ein dritter Betroffener berichtete von einer Pflegestelle, die nicht von Kentler errichtet worden war, die aber starke strukturelle Parallelitäten aufwies. Der „Pflegevater“, ein Professor der Sozialpädagogik, kannte und teilte Kentlers sexualpädagogische Positionen. Auch dieser Betroffene erfuhr trotz Hilfesuche keine Unterstützung durch das Jugendamt (11).

Teil II: Pflegestellen bei pädophilen Männern – zur organisatorischen Verantwortungsstruktur

Die Untersuchung der beteiligten organisatorischen Strukturen belegt: Die Errichtung der Pflegestellen ist unter Kenntnis der Berliner Verwaltung, mindestens unter der Kenntnis einzelner Mitarbeiter geschehen. Es lässt sich zeigen, dass es ein „Netzwerk von Akteuren in der Senatsverwaltung, mindestens zwei Bezirksjugendämtern und den Institutionen der Bildungsreform“ (13) gab, dem die Pflegestellen bei pädophilen Pflegevätern bekannt war und das diese unterstützte. In diesem Netzwerk agierte Kentler als ein zentraler Akteur, auch wenn das Netzwerk und seine Verflechtungen weit über Kentler hinausreichten (13).

Eine zentrale Position in diesem Netzwerk nahm das Pädagogische Zentrum als nachgeordnete Behörde des Senats ein. Dieses Zentrum „hatte […] explizit den Auftrag, Bildungs- und Sozialreformen anzuregen“ (13), wobei ihm große Entscheidungsfreiheit gelassen wurde, obwohl es sich um eine staatliche Einrichtung handelte. 

Von Anfang an wurden große Erwartungen an das Pädagogische Zentrum gerichtet, eine alternative Pädagogik zu den autoritären Ansätzen der Nachkriegszeit zu entwickeln. Dahinter standen die derzeit verbreiteten Bestrebungen, West-Berlin in seinem besonderen Status als „halbe Stadt“ zu einem modernen „Ort der weltweit geistig-kulturellen Auseinandersetzung“ zu machen (14). Dieses Ideal erwies sich als fruchtbarer Boden für allerlei reformpädagogische Ideen, die eifrig vorangetrieben wurden. Das Pädagogische Zentrum war eng mit der Politik verbunden, hoch angesehen und die mit ihm verbundenen Personen hatten einen guten Ruf. Es sollte wissenschaftliche Forschung und Praxis verbinden, dazu gehörte auch, „Experimente“ zu entwickeln, die wissenschaftliche Theorien überprüfen und wenn gelungen verbreiten sollten.

Kentler war acht Jahre lang in leitender Position für das Pädagogische Zentrum tätig. „Der Status […] war offensichtlich zentral für sein Selbstverständnis“ (17) und er schien sich mit der Vision des Pädagogischen Zentrums, zwischen Theorie und Praxis zu vermitteln, zu identifizieren sowie sie in seinem Wirken umzusetzen. Mit diesen beiden Merkmalen, seinem wissenschaftlichen Status und persönlichen Praxiserfahrungen, legitimierte er dann auch sein „Experiment“. Das „Kentler-Experiment“ passte seiner Form nach zu den Methoden des Pädagogischen Zentrums und den Maßnahmen, die im Rahmen von verschiedenen Reformen der Jugendwohlfahrtsprogramme unter Verantwortung des Berliner Senates durchgeführt wurden. Damit lag es in dessen Verantwortungsbereich. Im Rahmen welches Jugendwohlfahrtsprogramms die Kentler-Pflegestellen genau errichtet wurden, lässt sich nicht mehr feststellen.

Insgesamt ist von einem „Netzwerk von Akteuren“ auszugehen, „durch das pädophile Positionen geduldet, gestärkt, legitimiert wurden und pädophile Übergriffe in Wohngemeinschaften und Pflegekonstellationen nicht nur geduldet, sondern auch arrangiert und gerechtfertigt wurden.“ (30) Das bedeutet, dass unter staatlicher Aufsicht pädosexuelle Täterstrukturen gedeihen konnten, während den Missbrauchsopfern keine Unterstützung zuteilwurde. 

Teil III: Die Pflegestelle Fritz H.

In der Studie näher untersucht wird exemplarisch die Pflegestelle bei Fritz H. Von 1973 bis 2003 waren insgesamt zehn Jugendliche bei Fritz H. untergebracht, oft mehrere Kinder und Jugendliche zeitgleich, später unter diesen auch zwei schwerstbehinderte Kinder, von denen eins in dessen Obhut starb. Die Untersuchung basiert auf einer anonymisierten Akte der Pflegestelle, die es erlaubt, die organisationale Struktur des Falls zu rekonstruieren und zu untersuchen, wo und auf welche Art Verbindungen zu Kentler sichtbar werden.

Die Forscher beschreiben die Akte zur Pflegestelle Fritz H. als „diffus, als ein schwer zu sortierendes ‚Durcheinander‘“ (34). Aus ihr geht hervor, dass der Kontakt von Fritz H. zu mindestens einem der Jugendlichen gar nicht über das Jugendamt zustande kam, sondern von H. selbst gesucht und hergestellt wurde. Nachdem er den Jugendlichen in einem Pflegeheim kennengelernt hatte, wohnte dieser bereits bei ihm, bevor das Jugendamt hinzugezogen wurde, um offiziell die Pflegerlaubnis für den Jugendlichen zu beantragen. Die Pflegestelle wurde somit von Fritz H. eingerichtet und danach vom Jugendamt nur noch formalisiert. 

Dabei fällt auf, dass auch bei der Formalisierung nicht das Jugendamt eigentlicher Akteur der Situation war, sondern ein Spielball des ‚Pflegevaters‘ und verschiedener Akteure, die mit Fritz H. in persönlichem Kontakt standen, aber ihre institutionellen Stellungen nutzten, um die Pflegestelle durchzusetzen, darunter auch Kentler (vgl. 35). Insgesamt zeigt sich, dass Fritz H. so immer wieder „durchaus mit Erfolg die normalerweise geltenden rechtlichen Verfahren der Jugendämter unterläuft“ (36). Während er „stetig mehr an Kontrolle über die Fallformierung [gewinnt]“, wurde die ohnehin leise Stimme der Betroffenen in diesem Verfahren quasi unhörbar (36). Obwohl kritische Indizien auftauchten und von verschiedenen Seiten problematische Aspekte im Pflegeverhältnis festgestellt wurden, blieb dieses bestehen, da man keine bessere Alternative für den Jugendlichen sah. 

Zu den unterstützenden Akteuren der Pflegestelle H. zählte auch Kentler, der mehrmals, obwohl er eigentlich völlig unbeteiligt war, ungefragt Gutachten zugunsten des ‚Pflegevaters‘ ausstellte, wobei er sich als objektiver, wissenschaftlicher Berater inszenierte (offizieller Briefkopf der TU Hannover und andere Verweise auf seine Stellung). Gleichzeitig betonte er aber, H. persönlich zu begleiten und gut einschätzen zu können. So versuchte er, Einfluss auf das Jugendamt zu gewinnen und die Pflegestelle gegen Anfragen von außen zu „immunisieren“ (vgl. 39-43). Das Jugendamt zog diese Gutachten in Betracht und „lässt damit zu, dass Kentler zunehmend die Kontrolle über die Pflegestelle einnimmt und diese immer weiter von außen abgeschottet wird.“ (43).12Hiermit könnte neben der Abschottung von den leiblichen Eltern (42) ebenso die von anderen Gutachtern oder auch medizinischem, psychologischem und pädagogischem Fachpersonal gemeint sein. Der Ergebnisbericht führt dies jedoch an dieser Stelle nicht explizit aus.

Schlussfolgernd stellen die Forscher fest, dass Fritz H. zwar große Eigeninitiative in der Errichtung der Pflegestelle und im Umgang mit dem Jugendamt zeigte, es aber auch viele Hinweise gibt, „dass nicht Fritz H., sondern Kentler den Fall führt“ (43) und „mit seiner institutionalisierten Expertenmacht massiv [auf den Fall] eingewirkt hat.“ (47).

Die Rekonstruktion der Akte wird anschließend mit einer Vergleichsanalyse und Zeitzeugenberichten abgeglichen. Ein Vergleich der Akte der Pflegestelle Fritz H. mit anderen, zufällig ausgewählten Fallakten zeigt, dass sie sich durchaus vom normalen Procedere abhebt: Der Einfluss externer Gutachten ist ungewöhnlich hoch, Forderungen ans Jugendamt durch die Pflegeeltern selbst und auch Gutachten wie Kentler sie für H. verfasste, waren untypisch. Die Pflegestelle wurde nicht hinreichend kontrolliert und wenn es wie vorgesehen Überprüfungen der Pflegestellen gab, wurden diese nur knapp dokumentiert. 

Auch zeigt sich, dass die Stimmen der Betroffenen weniger Gewicht hatten und besonders der Umgang mit den Herkunftsfamilien der Kinder und Jugendlichen problematisch war: Kamen von deren Seite aus Nachfragen oder Kritik am Umgang mit ihren Kindern, wurden sie schlichtweg ignoriert und die Eltern für erziehungsunfähig erklärt. Die Kinder und Jugendlichen wurden bewusst zunehmend von ihren Herkunftsfamilien isoliert (37; 44). Die Zeitzeugeninterviews weisen darauf hin, dass die aus der Akte hervorgehenden Indizien, die ihrerzeit unbeachtet blieben, durchaus auffällig waren und als solche vom Jugendamt hätten behandelt werden müssen (45). 

Das lässt darauf schließen, dass Kentler sich im Jugendamt einen Einfluss verschafft und eine Reputation erarbeitet hatte, die es ihm ermöglichte, ein Abweichen vom üblichen amtlichen Procedere durchzusetzen. 

IV: Zusammenfassende Ergebnisse: „Kindeswohlgefährdung in öffentlicher Verantwortung“

Das Fazit der Forscher ist deutlich: Aus heutiger Perspektive und nach Aufarbeitung des Falls sei es „nicht nachvollziehbar, dass die Pflegestelle von den zuständigen Jugendämtern über drei Jahrzehnte weitergeführt und verantwortet wurde, dadurch Kinder und Jugendliche über diesen Zeitraum dort leben und die Betroffenen sexualisierte Gewalt erleben mussten. Es geht hier nicht um ein ‚Experiment‘ oder ‚Heimreformen‘, sondern Kindeswohlgefährdung in öffentlicher Verantwortung der Jugendwohlfahrt resp. Kinder- und Jugendhilfe.“ (48).

III. Verantwortung übernehmen heißt Missstände abstellen

Im Fokus der Studie steht „[d]as Recht der Betroffenen zu erfahren, wie Organisationen und Personen gehandelt haben und warum sie nicht anders gehandelt haben“ (47). Dabei wird vor allem das Versagen der staatlichen Strukturen untersucht, geschehene Straftaten und Kindesmissbrauch nicht unterbunden, sondern sogar gefördert zu haben. Dies auf der Basis der ausgewerteten Quellen differenziert darzustellen gelingt den Autoren der Studie. 

Bemerkenswert ist gleichwohl, dass die dritte zum Eingang der Untersuchung gestellte Leitfrage unbeantwortet bleibt. Denn Anliegen der Studie war es auch, danach zu fragen, „[w]elche Konsequenzen […] aus den Ergebnissen für heutige Kinder- und Jugendhilfe und methodische Erziehungskonzepte gezogen werden [müssen]“. Leider verzichten die Autoren darauf, im Ergebnisbericht darauf eine Antwort zu geben. 

Das überrascht insofern, als die Forscher ausdrücklich anerkennen, dass „vermeintlich historische Strukturen und vermeintlich Vergangenes auch immer in die Gegenwart hineinwirken“ und der Bericht belegt, wie verbreitet und einflussreich Kentlers sexualpädagogische Überzeugungen geworden sind (vgl. 48f.). Ungeachtet dessen kommt der Gegenwartsbezug im Ergebnisbericht zu kurz. Die Forscher betrachten die Aufarbeitung als nicht abgeschlossen, unterbreiten jedoch keine Vorschläge, wie vermieden werden kann, dass sich das Geschehene wiederholt. 

Dieser Verzicht scheint beabsichtigt: „Um also perspektivisch die Gegenwart gestalten und verändern […] zu können, bedarf es […] in einem ersten Schritt der Übernahme von Verantwortung – und zwar der Verantwortungsübernahme für das Vergangene und die Gegenwart“ (51). Die Autoren des Ergebnisberichts geben damit die Verantwortung für den Umgang mit den gewonnenen Erkenntnissen zurück in die Hände der politischen Verantwortungsträger. 

Doch wie reagierte namentlich der Berliner Senat auf die von ihm in Auftrag gegebene Untersuchung? Wird erkennbar, dass er auf der Grundlage des Ergebnisberichts Schlussfolgerungen für das politische Handeln zieht?

Die Veröffentlichung der Studie hat am 15. Juni 2020 im Rahmen einer Pressekonferenz stattgefunden. Diejenigen Medien, die überhaupt davon berichteten, beließen es bei einer einzelnen Meldung. Dass die Studie ausdrücklich vom „Kindesmissbrauch in staatlicher Verantwortung“ spricht, hat jedenfalls keine gesellschaftliche Debatte ausgelöst.

Auf der erwähnten Pressekonferenz brachte die Berliner Senatorin für Bildung, Jugend und Familie Sandra Scheeres (SPD) Empathie für die Opfer des Missbrauchs zum Ausdruck. Sie benannte das Geschehene als „menschenverachtend“ und bat die Betroffenen um Vergebung; das Land Berlin übernehme die Verantwortung für das Geschehene. Außerdem stellte sie konkrete Unterstützung und eine Entschädigung in Aussicht, die den Betroffenen bislang aufgrund von Verjährung verweigert worden war.13https://www.berlin.de/sen/bjf/service/presse/ pressearchiv-2020/pressemitteilung.944979.php (Zugriff 10.03.21).

Was genau bedeutet hier Verantwortungsübernahme? Erkennbar besteht sie in einer Entschuldigung sowie einer Entschädigung der Opfer. Eine solche Entschädigung erhielten bislang nur zwei Betroffene, die ihr Leid öffentlich gemacht hatten („Marco“ und Sven“). Nach Verhandlungen, die sich über sechs Monate erstreckten, willigte das Land Berlin ein, ihnen eine „substanzielle finanzielle Leistung“ zu zahlen.14Frank Bachner, Missbrauchsopfer des Berliner Kentler-Experiments werden entschädigt, https://www.tagesspiegel.de/berlin/einigung-nach-monatelangen-verhandlungen-missbrauchsopfer-des-berliner-kentler-experiments-werden-entschaedigt/27133286.html (Zugriff am 16.06.2021) Die Verantwortungsübernahme geschieht damit zunächst einmal im Blick auf in der Vergangenheit liegende Geschehnisse, was gut und richtig ist, doch erst auf öffentlichen Druck hin. Entschädigt werden zwei Betroffene, was dem nachgewiesenen systematischen Charakter des Missbrauchs Schutzbefohlener in der Obhut staatlicher Stellen nicht gerecht wird. Ausgeblendet bleibt zudem die Verantwortung für das politische Handeln in Gegenwart und Zukunft. Die Frage lautet doch: Was will das Land Berlin, was wollen die Bundesländer insgesamt unternehmen, damit sich das Geschehene nicht, in welcher Form auch immer, wiederholt?

Dass dafür Verantwortung übernommen wird, ist nur dann glaubwürdig, wenn der ideologische Nährboden, auf dem die staatlich gedeckten Strukturen pädosexueller Gewalt gedeihen konnten, ausgetrocknet wird. Doch genau das geschieht nicht, im Gegenteil. Die Sexualisierung von Kindern und Jugendlichen, wie sie durch die von den „Sexualpädagogen der Vielfalt“ propagierten Bildungsprogramme befördert wird, leistet übergriffigen Praktiken Vorschub und zeigt, dass es nicht zu einer glaubwürdigen Distanzierung von den ideologischen Grundlagen gekommen ist, die die vom Ergebnisbericht vorgestellten Geschehnisse ermöglicht haben.

Die Studie benennt die mögliche Gefahr, die darin liegt, wenn der Staat in das Aufwachsen und die Erziehung von Kindern und Jugendlichen hineinregiert, es aber keine funktionierenden Kontrollmechanismen gibt und bestimmte Praktiken politisch-ideologisch legitimiert werden. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass diese Gefahr weiterhin real besteht.

Zunächst zur Frage nach den Strukturen: Den Schwerpunkt der Studie bildet die Untersuchung des von Kentler genutzten Netzwerkes, das die Macht verdeutlicht, die staatlichen Strukturen und einflussreichen Personen, die sich geschickt in diesen Netzwerken bewegten, zukam. 

Die Auswertungen der Akte der Pflegestelle Fritz H. zeigt auch, wie den Familien der Betroffenen die Erziehung und die Sorge um das Wohl ihrer Kinder zunehmend entzogen wurde. Nach all dem, was unter dem Deckmantel der als fortschrittlich geltenden emanzipatorischen Sexualerziehung geschehen ist sowie im Rahmen staatlicher Jugendwohlfahrtsprogramme Kindern und Jugendlichen angetan wurde, muss der Schluss gezogen werden: Der Staat verdient in pädagogischen Entscheidungen und Erziehungsfragen kein blindes Vertrauen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die zunehmende Verlagerung der Kinderbetreuung aus der Familie heraus hin zu staatlichen und pädagogischen Einrichtungen solchem Missbrauch Vorschub leistet. Einrichtungen, die sexuelle Übergriffe und Gewalt in Familien erkennen und verhindern sollen, bedürfen selbst der wirksamen Kontrolle, weil auch sie versagen können.

Auch die Diskussion über die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz gewinnt vor diesem Hintergrund einen bitteren Beigeschmack.15Vgl. https://www.bundesregierung.de/breg-de/ aktuelles/kinderrechte-ins-grundgesetz-1840968 (Zugriff am: 20.02.21) Die bisherige Fassung von Art. 6 GG stellt eine feine Balance zwischen den Elternrechten und dem Wächteramt des Staates her. Die Erziehung der Kinder ist in erster Linie Aufgabe ihrer Eltern und darf nur zur konkreten Gefahrenabwehr durch den Staat eingeschränkt werden. Obwohl insbesondere die Corona-Krise gezeigt hat, dass die Familie durch nichts zu ersetzen ist, gibt es staatlicherseits kaum Bestrebungen, Familien in der Ausübung ihrer Kernaufgaben zu unterstützen.16Die Vorstudie im Auftrag der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs warnt explizit davor, dass auch in der Vergangenheit bereits thematisierte Kinderrechte „auf die ‚Befreiung‘ des Kindes von jeglicher Erziehung ab[zielten]. Es entstanden Narrative einer ‚Befreiung‘ des Kindes von kleinbürgerlichen Familien- und Unterdrückungsverhältnissen. Besonderes Augenmerk lag auf der Befreiung der sexuellen Bedürfnisse des Kindes, wobei sehr deutlich wurde, dass es dabei in Wirklichkeit um die Interessen von Erwachsenen ging.“, Hax, Iris / Sven Reiß, Programmatik und Wirken pädosexueller Netzwerke in Berlin – eine Recherche. Vorstudie. Hg. Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Berlin 2021, 18. Die Studie ist einsehbar unter: https://www.aufarbeitungskommission.de/wp-content/uploads/Vorstudie_Programmatik-und-Wirken-paedosexueller-Netzwerke_Auarbeitungskommission.pdf

Stattdessen wird unter den Stichworten Entlastung der Eltern oder Unvereinbarkeit von Familie und Beruf massiv drauf hingewirkt, dass die Kinder den Großteil ihrer Zeit außerhalb der Familie betreut werden – eine logische Folge der politischen Präferenz für Doppel-Verdiener-Elternpaare. 

Zum Missbrauch kommt es auch in den Herkunftsfamilien, wobei insbesondere Patchwork Familien, in denen die biologisch angelegte Inzest-Hemmung nicht greift, höhere Missbrauchszahlen aufweisen als Familien, in denen Kinder mit ihren leiblichen Eltern zusammenleben. Jetzt jedoch den Schluss zu ziehen, dass Kinder durch institutionelle Betreuung automatisch besser geschützt und begleitet werden, wäre voreilig. Die Kinder begegnen dort Menschen, die unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was eine entwicklungsgerechte Förderung des Kindes bedeuten kann. Einige dieser Vorstellungen sind, wie die Beispiele unten zeigen werden, sehr problematisch. 

Auch die zugrundeliegenden Ideologien der Akteure, welche ihr Denken und Handeln prägten, benennt der Ergebnisbericht kurz. Die Reaktionen der politisch Verantwortlichen darauf fallen eher flüchtig aus.17Die Vorstudie benennt konkret auch die Beobachtungen Betroffener, „dass Täter und Täterinnen auch deshalb geschützt wurden, weil sie die ‚richtige‘ Programmatik vertreten haben […]. Täter konnten sich zu Sprechern einer neuen, befreiten Pädagogik erklären und sich im Lichte renommierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nahezu unangreifbar machen.“ Etwas direkter formuliert die Vorstudie auch den Vorwurf, dass die Ergebnisse der Aufarbeitungskommissionen nicht offensiv an aktuelle pädagogische Ansätze herangetragen werden, was sich auch für den Fall Kentler beobachten lässt. Ebd., 16. Hinter der Aufdeckung von den Missbrauch begünstigenden Organisationsstrukturen darf nicht der Kern des Problems verborgen bleiben: Grund für die Einrichtung der Pflegestellen, den Kindesmissbrauch in staatlicher Verantwortung, waren Kentlers sexualpädagogische Positionen, die großen Einfluss erlangten und als fortschrittlich wahrgenommen wurden, sodass sein „Experiment“ toleriert, ja sogar staatlich gefördert wurde.

Die Frage, die die Verantwortlichen in Berlin nicht zu stellen bereit sind, lautet: Wie weit reicht Kentlers Einfluss heute? Wo prägen seine Ansichten noch heute die Ideologien und Annahmen, die (scheinbar) modernen pädagogischen Konzepten zugrunde liegen? Können die zunehmend strengeren und verbesserten Strukturen davor schützen, dass von ihnen selbst Gefahr ausgeht, ohne dass dies erkannt wird? 

Noch immer liegt den Erziehungs- und Bildungskonzepten der Länder ein sexualpädagogisches Programm zugrunde, das sich „Sexualpädagogik der Vielfalt“ nennt.18Die wichtigsten Vertreter sind Uwe Sielert („Einführung in die Sexualpädagogik“, er gilt als Kentlers wichtigster Schüler und arbeitete für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) und Elisabeth Tuider („Sexualpädagogik der Vielfalt: Praxismethoden zu Identitäten, Beziehungen, Körper und Prävention für Schule und Jugendarbeit“). Besonders die Methoden und Konzepte Tuiders sind nicht unumstritten. Das Land Berlin ist unverändert Vorreiter dieser pädagogischen Ideologie. Auch wenn man sich inzwischen von Kentlers „Experiment“ distanziert hat,19Vgl. Uwe Sielert, Einführung in die Sexualpädagogik, 2. Aufl., Weinheim 2015, 15. wirken seine Ideen weiter, seine Ansichten bleiben in der Pädagogik ein gängiger Referenzpunkt. 

„Sexualpädagogen der Vielfalt“ wie Uwe Sielert kritisieren zwar seine Methoden und einige seiner Forderungen, stellen sich aber ungebrochen in die Tradition der dahinterliegenden Überzeugungen. So teilen sie seine Grundthese, dass Kinder als sexuelle Wesen wahrgenommen werden sollten.20Vgl. Ebd., 97f.  Sie sprechen sich dafür aus, Sexualität möglichst breit, und ohne soziale und gesellschaftliche Einschränkungen zu denken, dazu gehört auch, die Sexualentwicklung von Kindern kreativ zu fördern.

In ihrem Anliegen, traditionelle Ansichten zur Sexualität zu dekonstruieren, geht die moderne Sexualpädagogik der Vielfalt „weit hinaus über die Erziehung zu einem respektvollen und gewaltfreien Miteinander“21Christoph Raedel, Gender. Von Gender-Main-streaming zur Akzeptanz sexueller Vielfalt, überarb. 2. Aufl., Gießen 2019, 97. , sie fordert sexuelle Befreiung und eine Sexualbildung, die über Wissen hinausgeht, sie fordert Erfahrung – auch für Kinder. Ihr Ziel ist, „Sexualpädagogik [weniger] als ‚Gefahrenabwehrpädagogik‘ zu betreiben“22Sielert, Einführung, 19. sondern sexualfreundlich zu gestalten. Pädagogische Konzepte sind daher darauf ausgerichtet, dass Kinder durch praktische Übungen zu sexuellen Erfahrungen angeregt werden.23Das fordert Sielert in seinem Vortrag „Sexuelle Bildung von Anfang an! Sexualität und Sexualerziehung im Bildungsauftrag von Kindertagesstätten“, vom 21.02.2005 in Hamburg, https://www.isp-sexualpaedagogik.org/downloadfiles/vortrag _Sielert_-_Sexuelle_Bildung.pdf (Zugriff am: 08.03.2021).  Am besten seien jene Kinder vor sexuellem Missbrauch geschützt, die eine selbstbewusste sexuelle Identität ausgebildet haben. 

Die Idee dahinter ist, dass Kinder durch Konfrontation mit ihrer Sexualität sexuell sprachfähig gemacht werden sollen, sodass eigene Wünsche und Vorlieben kennengelernt und gegenüber anderen ausgedrückt werden können. Im Umkehrschluss sollen Kinder dann auch das ausdrücken können, was sie nicht möchten.24Vgl. Sielert, Einführung, 157-163. 
Helmut Kentler schrieb dazu in seiner Dissertation „Eltern lernen Sexualerziehung“ noch etwas deutlicher: „Sexuell befriedigte Kinder […] sind vor sexueller Verführung und sexuellen Angriffen am besten geschützt.“ Auch wenn ein Erwachsener dem Kind nahe kommen sollte empfiehlt Kentler Eltern, nicht in Panik zu verfallen, denn „war der Erwachsene rücksichtsvoll und zärtlich, dann hat unser Kind womöglich sogar die sexuellen Berührungen mit ihm genossen.“ Helmut Kentler, Eltern lernen Sexualerziehung, Reinbek bei Hamburg, 1981, 103-104.
Dabei wird unter dem Vorzeichen von gegenseitigem Einvernehmen und sexueller Selbstbestimmung jedoch das gravierende Machtgefälle zwischen Erwachsenden und Heranwachsenden überspielt. In den letzten Jahren hat die Sexualpädagogik der Vielfalt zunehmend eine Deutungshoheit auf dem Gebiet der frühkindlichen und schulischen Sexualerziehung erlangt und nimmt massiven Einfluss auf die Konzepte der pädagogischen Einrichtungen. 

Schaut man genauer hin, wie diese Konzepte in Kindergärten und Grundschulen umgesetzt werden, kommen Zweifel daran auf, dass eine solche Pädagogik Kinder wirklich vor sexuellem Missbrauch schützt. Im Gegenteil: Der Eindruck verfestigt sich, dass übergriffigem Verhalten eher Vorschub geleistet wird.

Die in der Praxis eingesetzten sexualpädagogischen Programme erwecken nicht den Eindruck, dass aus der Vergangenheit gelernt worden wäre. Ein Beispiel: Das sogenannte „Original Play“.25Erfinder ist der US-Amerikaner Fred Donaldson. Die Website des Konzepts erklärt die Idee, informiert aber auch, wie sich jeder in einem zweitägigen Workshop als Trainer ausbilden lassen kann, vgl. www.originalplay.de (Zugriff am: 20.02.2021). Das Spielkonzept ist wissenschaftlich nicht anerkannt, eine kritische Reportage mit Berichten von Eltern liefert die ARD (https://www.youtube.com/watch?v= LRNyt5KcuZM&feature=youtu.be). Dieses pädagogische Konzept soll Kindern dabei helfen, ihren Körper besser kennenzulernen. Problematisch daran ist, dass ein erwachsener „Trainer“, ein Kindern und Eltern fremder Mensch, teilweise ohne Wissen der Eltern in Kitas eingeladen wird, um im engsten Körperkontakt mit den Kindern zu „spielen“. Grenzüberschreitungen zu überprüfen ist schwer. 

Wiederholt sind Missbrauchsvorwürfe laut geworden, nachdem „Original Play“ in Kitas angeboten wurde. Ungeachtet von Forderungen, dieses pädagogische Konzept auf Bundesebene zu verbieten, ist es in den meisten Bundesländern, darunter Berlin, nach wie vor erlaubt. Kitas bzw. Kindergärten sind Teil des pädagogischen Alltags, die meisten Eltern vertrauen ihnen ihr Kind an. Verdienen öffentliche Einrichtungen, die solche Konzepte umsetzen, dieses Vertrauen? Wie üben staatliche Akteure angesichts solcher Programme wirksam ihr Wächteramt aus? 

Daneben gibt es auch einige andere, auf staatlicher Ebene angeordnete und von staatlichen Geldern finanzierte Projekte im Sinne der Sexualpädagogik der Vielfalt. Kleinkinder in Kindertagesstätten und Grundschulen sollen begleitet denken lernen, so zum Beispiel mit Hilfe einer vom Berliner Senat in Auftrag gegebenen Broschüre („Murat spielt Prinzessin, Alex hat zwei Mütter und Sophie heißt jetzt Ben“)26https://www.queerformat.de/murat-spielt-prinzessin-alex-hat-zwei-muetter-und-sophie-heisst-jetzt-ben/ (Zugriff am: 10.03.21) oder eines „Kita-Koffers“ (einer Sammlung von Büchern und Medien zum Thema sexuelle Vielfalt)27https://queerfor.uber.space/fileadmin/user_upload/ news/Begleitmaterial_Kita-Koffer.pdf (Zugriff am: 10.03.21) Spielerisch sollen die Kinder mit der Vielfalt von Sexual- und Familienformen konfrontiert und vor allem traditionelle Familienbilder entnormalisiert werden. 

Es handelt sich hierbei nicht lediglich um Infomaterialien für Erzieher, wie Kinder zu einem toleranten Miteinander erzogen werden können oder bei Auffälligkeiten auf Kinder eingegangen werden kann. Vielmehr geht es erkennbar darum, auf der Basis der wissenschaftlich äußerst umstrittenen These frühkindlicher sexueller Bedürfnisse, Erwachsene mit Kindern „spielen“ zu lassen bzw. die Kinder zur „spielerischen Entdeckung“ ihrer eigenen Sexualität anzuregen. 

Wenn es dafür einen geeigneten Raum gibt, dann ist es mit Sicherheit die Familie und nicht ein öffentlicher Raum, in dem Kinder es mit wechselnden Bezugspersonen zu tun haben.

Inzwischen wissen wir: Nicht nur in Programmen und Institutionen unter staatlicher Aufsicht kam und kommt es zu Missbrauch. Auch in kirchlichen Einrichtungen kamen in den letzten Jahren und kommen immer noch zahlreiche Fälle von sexueller Gewalt ans Licht. Die Aufarbeitung geschieht nur schleppend. Auch hier gilt es, nicht nur die Täter zur Verantwortung zu ziehen, sondern begünstigende Faktoren zu ermitteln und auch zu benennen, um zu verhindern, dass sich das Geschehene wiederholt oder neues Unrecht geschieht.28Eine gute Analyse der Aufarbeitungslage innerhalb der kath. Kirche bietet der transparente Forschungsbericht MHG „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester. Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ (Hg. Harald Dreßing u.a.), 2018.

Das Wirken Kentlers in der der Berliner Kinder- und Jugendhilfe hat nur exemplarisch gezeigt, wie in der Vergangenheit ein Klima sexueller Emanzipation und Entgrenzung sexueller Beziehungen den Missbrauch in öffentlicher Verantwortung begünstigt hat und Kontrollmechanismen für staatliche Einrichtungen nicht griffen. So wurden „pädagogische“ Praktiken politisch-ideologisch legitimiert, die den Anspruch erhoben, besonders fortschrittlich zu sein. 

Das Geschehene zeigt: Der Staat verdient kein blindes Vertrauen, wenn es um die Gewährleistung des Kindeswohls geht. Vielmehr muss der Staat aktiv Verantwortung übernehmen, nicht nur für Unrechtstaten in der Vergangenheit, sondern auch für das gegenwärtige und zukünftige politische Handeln. Das bedeutet, die wissenschaftlich umstrittenen und ideologisch überfrachteten Grundannahmen der Sexualpädagogik der Vielfalt auf den Prüfstand zu stellen und sich davon zu verabschieden. Verantwortungsübernahme durch politische Akteure ist nur dann glaubhaft, wenn diese nicht nur für bereits Geschehenes einstehen, sondern ihr politisches Handeln in Gegenwart und Zukunft am Wohl der Kinder ausrichten, deren natürlicher Ort eigentlich die Familie ist, es aber in manchen Fällen aus guten Gründen nicht sein kann. Es besteht kein Anlass dafür zu glauben, dass „Vater Staat“ es grundsätzlich besser kann. Auch „er“ muss sich das Vertrauen seiner Bürger immer wieder verdienen.

© 2021 Institut für Ethik & Werte

Prof. Dr. Christoph Raedel

Prof. Dr. Christoph Raedel

Theresa Hennighausen

Endnoten

  • 1
  • 2
    Die Forscher der Universität Hildesheim entscheiden sich dafür, den verbreiteteren Begriff Pädophilie zu verwenden. Dieser Artikel verwendet den heute eher gebrauchten Begriff Pädosexualität, der zum Ausdruck bringt, dass hinter dem etwas verschleiernden Begriff der „Kinderliebe“ sexualisierte Gewalt und Kindesmissbrauch stehen. Zitate folgen der Begrifflichkeit der jeweiligen Quelle.
  • 3
  • 4
    Andreas Späth, Menno Aden, Die missbrauchte Republik. Aufklärung über die Aufklärer, London/Hamburg 2010, 127.
  • 5
    Die Wissenschaftler betonen, dass der Begriff „Experiment“ ebenso wie weitere Bezeichnungen von Kentler selbst stammen und in der Untersuchung deshalb übernommen, aber durchgängig als solche durch Anführungszeichen gekennzeichnet werden, um sich von diesen abzugrenzen (6). Im Kontext des Pädagogischen Zentrums und auch in der Senatsverwaltung war das Konzept des „Experiments“ bekannt, verbreitet und positiv konnotiert (29). 
  • 6
    Ergebnisbericht. Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe, Hg, Meike Baade, Carolin Oppermann, Julia Schröder, Wolfgang Schröer, Hildesheim 2020. Die im Text in Klammern angegebenen Seitenangaben beziehen sich alle auf diesen Ergebnisbericht.
  • 7
    Siehe „Falsche Kinderfreunde“ (1993), https://www.emma.de/artikel/falsche-kinderfreunde-263497 (Zugriff: 19.02.2021).
  • 8
  • 9
    Die Hintergründe dazu sind nachzulesen in: Die Grünen und die Pädosexualität. Eine bundesdeutsche Geschichte (Hg. Franz Walter / Stephan Klecha / Alexander Hensel), Göttingen 2015.
  • 10
  • 11
    Wie versucht wurde, die Anpassung des Sexualstrafrechts bei pädosexuellen Handlungen an die politische Umsetzung von Entkriminalisierung männlicher Homosexualität anzuhängen, „um Pädosexuelle als Opfer gesellschaftlicher Zwänge und als zu Unrecht verfolgte Minderheit zu stilisieren“, wird in der Vorstudie der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs gezeigt (6-18), die verschiedene pädosexuelle Netzwerke und Bewegungen in Berlin untersucht und auch Verbindungen zum Fall Kentler aufzeigt. Iris Hax / Sven Reiß, Vorstudie. Programmatik und Wirken pädosexueller Netzwerke in Berlin – eine Recherche, Berlin 2021, https://www.aufarbeitungskommission.de/mediathek/programmatik-und-wirken-paedosexueller-netzwerke-in-berlin/ (Zugriff am: 10.03.2021)
  • 12
    Hiermit könnte neben der Abschottung von den leiblichen Eltern (42) ebenso die von anderen Gutachtern oder auch medizinischem, psychologischem und pädagogischem Fachpersonal gemeint sein. Der Ergebnisbericht führt dies jedoch an dieser Stelle nicht explizit aus.
  • 13
  • 14
    Frank Bachner, Missbrauchsopfer des Berliner Kentler-Experiments werden entschädigt, https://www.tagesspiegel.de/berlin/einigung-nach-monatelangen-verhandlungen-missbrauchsopfer-des-berliner-kentler-experiments-werden-entschaedigt/27133286.html (Zugriff am 16.06.2021)
  • 15
  • 16
    Die Vorstudie im Auftrag der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs warnt explizit davor, dass auch in der Vergangenheit bereits thematisierte Kinderrechte „auf die ‚Befreiung‘ des Kindes von jeglicher Erziehung ab[zielten]. Es entstanden Narrative einer ‚Befreiung‘ des Kindes von kleinbürgerlichen Familien- und Unterdrückungsverhältnissen. Besonderes Augenmerk lag auf der Befreiung der sexuellen Bedürfnisse des Kindes, wobei sehr deutlich wurde, dass es dabei in Wirklichkeit um die Interessen von Erwachsenen ging.“, Hax, Iris / Sven Reiß, Programmatik und Wirken pädosexueller Netzwerke in Berlin – eine Recherche. Vorstudie. Hg. Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Berlin 2021, 18. Die Studie ist einsehbar unter: https://www.aufarbeitungskommission.de/wp-content/uploads/Vorstudie_Programmatik-und-Wirken-paedosexueller-Netzwerke_Auarbeitungskommission.pdf
  • 17
    Die Vorstudie benennt konkret auch die Beobachtungen Betroffener, „dass Täter und Täterinnen auch deshalb geschützt wurden, weil sie die ‚richtige‘ Programmatik vertreten haben […]. Täter konnten sich zu Sprechern einer neuen, befreiten Pädagogik erklären und sich im Lichte renommierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nahezu unangreifbar machen.“ Etwas direkter formuliert die Vorstudie auch den Vorwurf, dass die Ergebnisse der Aufarbeitungskommissionen nicht offensiv an aktuelle pädagogische Ansätze herangetragen werden, was sich auch für den Fall Kentler beobachten lässt. Ebd., 16.
  • 18
    Die wichtigsten Vertreter sind Uwe Sielert („Einführung in die Sexualpädagogik“, er gilt als Kentlers wichtigster Schüler und arbeitete für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) und Elisabeth Tuider („Sexualpädagogik der Vielfalt: Praxismethoden zu Identitäten, Beziehungen, Körper und Prävention für Schule und Jugendarbeit“). Besonders die Methoden und Konzepte Tuiders sind nicht unumstritten.
  • 19
    Vgl. Uwe Sielert, Einführung in die Sexualpädagogik, 2. Aufl., Weinheim 2015, 15.
  • 20
    Vgl. Ebd., 97f. 
  • 21
    Christoph Raedel, Gender. Von Gender-Main-streaming zur Akzeptanz sexueller Vielfalt, überarb. 2. Aufl., Gießen 2019, 97. 
  • 22
    Sielert, Einführung, 19.
  • 23
    Das fordert Sielert in seinem Vortrag „Sexuelle Bildung von Anfang an! Sexualität und Sexualerziehung im Bildungsauftrag von Kindertagesstätten“, vom 21.02.2005 in Hamburg, https://www.isp-sexualpaedagogik.org/downloadfiles/vortrag _Sielert_-_Sexuelle_Bildung.pdf (Zugriff am: 08.03.2021). 
  • 24
    Vgl. Sielert, Einführung, 157-163. 
    Helmut Kentler schrieb dazu in seiner Dissertation „Eltern lernen Sexualerziehung“ noch etwas deutlicher: „Sexuell befriedigte Kinder […] sind vor sexueller Verführung und sexuellen Angriffen am besten geschützt.“ Auch wenn ein Erwachsener dem Kind nahe kommen sollte empfiehlt Kentler Eltern, nicht in Panik zu verfallen, denn „war der Erwachsene rücksichtsvoll und zärtlich, dann hat unser Kind womöglich sogar die sexuellen Berührungen mit ihm genossen.“ Helmut Kentler, Eltern lernen Sexualerziehung, Reinbek bei Hamburg, 1981, 103-104.
  • 25
    Erfinder ist der US-Amerikaner Fred Donaldson. Die Website des Konzepts erklärt die Idee, informiert aber auch, wie sich jeder in einem zweitägigen Workshop als Trainer ausbilden lassen kann, vgl. www.originalplay.de (Zugriff am: 20.02.2021). Das Spielkonzept ist wissenschaftlich nicht anerkannt, eine kritische Reportage mit Berichten von Eltern liefert die ARD (https://www.youtube.com/watch?v= LRNyt5KcuZM&feature=youtu.be).
  • 26
  • 27
    https://queerfor.uber.space/fileadmin/user_upload/ news/Begleitmaterial_Kita-Koffer.pdf (Zugriff am: 10.03.21)
  • 28
    Eine gute Analyse der Aufarbeitungslage innerhalb der kath. Kirche bietet der transparente Forschungsbericht MHG „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester. Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ (Hg. Harald Dreßing u.a.), 2018.