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Politische EthikGlaube und Politik

Menschlichkeit in der Politik

Bleibt die Menschlichkeit in der Politik auf der Strecke? Geht die politische Kultur vor die Hunde? So oder ähnlich haben sicherlich viele schon einmal gefragt, die Medienberichte verfolgen oder gar selbst politisch engagiert sind. Nun lebt das politische Geschäft von dem Streit der Meinungen, von der Überzeugungskraft des besseren Arguments und auch von der zugespitzten Redeweise, die Aufmerksamkeit finden will. Trotzdem: Wer in der Wahrnehmung politischer Verantwortung die Dimension der Menschlichkeit ausblendet, kann kaum in guter Weise Politik für die Menschen gestalten.

Was aber ist mit dieser Dimension der Menschlichkeit gemeint. Ich möchte es an fünf Imperativen festmachen.

Erster Imperativ:

Erniedrige den anderen niemals in seinem Menschsein.

Gelegentlich kommt es einem der politische Raum wie in Gottes buntem Tier- und Pflanzenreich vor. Zumindest sprachlich. Da kann sich jemand, der als Tiger startet und als Bettvorleger landet, noch fast geschmeichelt fühlen. Aber meist dient dieser sprachliche Bettvorleger dann für viele als Fußabtreter. So warf ein Staatssekretär der FDP in der aktuellen gesundheitspolitischen Diskussion der CSU vor, sie trete wie eine „Wildsau“ auf – korrekterweise müsste es sich dann um ein ganzes Rudel handeln. Der CSU-Generalsekretär konterte, die FDP sei eine „Gurkentruppe“. Und in einer früheren Hartz-IV-Debatte, die Guido Westerwelle mit seinem Hinweis auf die "spätrömische Dekadenz" in den sozialen Netzen unseres Staates losgetreten hatte, bezeichnete Heiner Geißler diesen als „Esel“. Nun wird, wer gehört werden möchte, auf die Zuspitzung in der politischen Auseinandersetzung nicht verzichten können. Aber Sprache konstruiert immer auch Wirklichkeit. Die Erniedrigung des anderen beginnt häufig mit verbaler Herabsetzung – aber anders als in den oben genannten Beispielen bleibt sie dabei nicht immer stehen. Man denke an die Rede der Terrororganisation RAF von den „Kapitalistenschweinen“. Sind Kapitalisten erst einmal zu Schweinen erklärt, scheint es weniger schrecklich zu sein, wenn man sie schließlich auch „schlachtet“. Von dem, was unseren Mund verlässt, gehen mehr oder weniger starke, in jedem Fall aber nicht mehr rückholbare Wirkungen aus. Für Christen entsteht schnell eine zutiefst widersprüchliche Situation, die Jakobus so beschreibt: „Mit der Zunge loben wir den Herrn und Vater, und mit ihr fluchen wir den Menschen, die nach dem Bilde Gottes gemacht sind“ (3,9). Sprachliche Herabwürdigung verletzt, wann immer sie einen Menschen trifft, ein Ebenbild Gottes.

Das Miteinander in der Politik setzt nicht voraus, dass Menschen einer Meinung sind, es lebt aber davon, dass wir einander als Menschen anerkennen. Was ich nun über die Sprache gesagt habe, gilt für das Ganze. Auch im Umgang mit in Parlamente gewählten Extremisten sollen Christen daher einen Weg des Umgangs finden, der Anstand und Höflichkeit mit klarer Ablehnung in der Sache zu verbinden vermag. Christen plädieren also für Anstand, auch da, wo sie politisch auf Abstand gehen müssen – weil Gott dem anderen als Menschen seine Nähe zusagt. Damit ist eine Grenze „nach unten“ markiert.

Zweiter Imperativ:

Komm nicht als Heilsbringer, sondern als Gestalter und Diener daher.

Jetzt gilt es auch eine Grenze „nach oben“ zu markieren. Wir haben in unsere Geschichte eine wichtige Lektion gelernt: wer den Himmel auf der Erde schaffen will, der macht die Erde zur Hölle. Überzogene politische Ansprüche führen ins Unglück. Und so schreibt Paulus in seinen Überlegungen zur staatlicher Obrigkeit: „Die Obrigkeit ist Gottes Dienerin“ (Röm 13,4). In dem heute noch gebrachten Titel „Minister (lateinisch: Diener) ist diese Vorstellung noch enthalten. Auch das Grundgesetz weiß um die „Verantwortung vor Gott und den Menschen“.

Deshalb hat auch die höchste Ebene politischer Entscheidungsträger immer noch eine Autorität über sich: Gott. Aber wie kann das greifbar werden? Politik im Horizont der Menschlichkeit unterscheidet sich von einer Politik, die mit ideologischer Verbissenheit betrieben wird. Eine solche erhebt einen Anspruch auf letztgültige Antworten im Blick auf die Gestaltung des Miteinanders. Doch Politik kann und soll nicht das Heil verwirklichen, sondern zum Wohl der Gesellschaft beitragen. Dabei gibt es zumeist mehrere Gestaltungsoptionen. Auch Christen in der Politik haben ihre Position argumentativ zu begründen und sind darauf angewiesen, eine Mehrheit für ihr jeweiliges Anliegen zu gewinnen. Sie stehen aber niemals an der Stelle Gottes in dieser Welt, sondern verstehen sich als Diener, die stets Menschen bleiben – Menschen mit begrenztem Einsichtsvermögen, die irren können und verführbar sind. Das bessere Argument wird im Dialog, im Gespräch geboren – für Christen wird dies freilich das Gespräch mit ihrem Herrn einschließen.

Dritter Imperativ:

Lass Dich von den Geboten Gottes leiten, aber verteufele nicht den Kompromiss.

Prinzip und Kompromiss gelten weithin als unvereinbar wie Feuer und Wasser. Denn Prinzipien drängen auf unbedingte Durchsetzung, der Kompromiss aber weicht das Prinzip auf, macht es wirkungslos. Folglich sind auf der einen Seite die Prinzipienreiter, auf der anderen die Umfaller und Weichspüler. Nun können Kompromisse in der Tat weh tun, sie können mich sogar tief in meinem Gewissen anfechten. Und doch gehört beides in den politischen Entscheidungsraum: die Festigkeit der eigenen Überzeugung wie die Freiheit zum Ausgleich einander widerstreitender Interessen.

Stellen wir einmal vor, beides fällt auseinander. Denken wir von der unbedingten Durchsetzung eines Prinzips (und sei es noch so verlockend gut) her: Die kompromisslose Durchsetzung von Grundsätzen ist ein Kennzeichen totalitärer Systeme. Vielleicht meint jemand: Ja, wenn aber das totalitäre System von einem Christen geführt wird und damit dem Guten dient? Ich meine: auch dann wäre dieses System nicht besser als ein demokratischer Staat. Denn erstens ist kein Christenmensch immun gegenüber den Kräften der Verführung, wie schnell ist das Gute lediglich das Gutgemeinte. Zweitens kann ein totalitäres System sich gegen Veränderung in der Regel nur durch repressive Mittel sichern – und das widerspricht der Würde des Menschen. Und drittens sind wir – als Ebenbilder Gottes – auf Dialog angelegt. Wir sollen in komplexen gesellschaftlichen Fragen keine „einsamen“ Einscheidungen fällen (wollen).

Der politische Kompromiss gehört zur Signatur demokratischer Systeme und kollektiver Entscheidungsinstanzen. Er erwächst aus der Notwendigkeit, widerstreitende Interessen miteinander zu vermitteln, aber auch aus der Notwendigkeit, Güter miteinander abzuwägen. So sind das Erziehungsrecht der Eltern und der Schutz der Privatsphäre ebenso Güter wie das Recht von Kindern auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit und Schutz vor Misshandlung. In einer gefallenen Welt kann es geschehen, dass diese Güter gegeneinander stehen und miteinander in Ausgleich gebracht werden müssen.

Vielleicht hilft es auch weiter, statt von Prinzipien eher von dem Gebotenen her zu denken: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig wandeln vor deinem Gott“ (Mi 6,8). Das Prinzip steht am Anfang und da bleibt es auch. Gott aber geht mit. Gott gebietet – aber er tut dies im Blick auf eine konkrete Wirklichkeit (Bonhoeffer spricht von „Mandaten“). Und deshalb bedeutet den Willen Gottes zu tun etwas anderes je nachdem, ob ich als Familienmitglied, kirchlicher Amtsträger oder als Politiker agiere. Wo die Kirche vielleicht in prophetischer Weise ihre Stimme zu erheben hat, da bleibt es auch weiterhin Auftrag von Christen in politischer Verantwortung, mit Sachargumenten zu überzeugen und Mehrheiten zu organisieren.

Nun mag es „Grenzfälle“ geben, in denen Christen in der Politik es für geboten erachten, sich zeichenhaft zu verweigern. Das kann geschehen, wenn der Eindruck entsteht, dass eine Entscheidung schwerste Verletzungen der Menschenwürde nach sich zieht. Das auch durch Gesetze nicht zu heilende Unrecht der massenhaften Abtreibung mag für manche Christen so ein Punkt sein. Doch ist zu beachten: Zum einen lebt ein Zeichen von seinem Ausnahmecharakter. Wenn der luxemburgische Großherzog Henri sich vor einigen Jahren weigerte, ein Gesetz zur Legalisierung der Sterbehilfe zu unterzeichnen und anbot, die Verabschiedung von Gesetzen nicht mehr von seiner Unterschrift abhängig zu machen, dann ist deutlich: hier wird ein Zeichen gesetzt, das so schon der Sache nach nicht wiederholbar ist. Das Gewissen will daher gründlich erforscht sein. Zum anderen ist der Verzicht auf aktive Mitwirkung nicht gleichbedeutend mit dem Herauslösen aus der Mitverantwortung. Schon im Menschsein selbst liegt eine Grundsolidarität beschlossen, der wir uns nicht entziehen können. Der Preis, der uns winkt, wenn wir uns schwerem Unrechtshandeln verweigern, ist daher nicht das reine Gewissen. Es gibt Situationen und Konstellationen, aus denen wir nicht ohne Schuld herauskommen. Gerade Christen können dieser Einsicht nichtausweichen.

Vierter Imperativ:

Habe den Mut, öffentlich Schuld einzugestehen.

Als Kennzeichen öffentlicher Verantwortung gelten weithin der gestählte Ellenbogen und das gefütterte Schienbein. Wer Schuld zugibt, hat schnell verloren. Nun weiß bereits die Bibel von einem öffentlichen Amtsträger, der sich zu seiner Schuld bekannte und um Wiedergutmachung bemühte. Nachdem Jesus in das Haus des Zollbeamten Zachäus eingekehrt und mit ihm gegessen hatte, sagt Zachäus: „Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück“ (Lk 19,8). Es mag nicht als schick gelten, sich öffentlich zu seiner Schuld zu bekennen, bevor die Medien alles ans Licht gebracht haben. Offenbar ist es menschenwürdiger, sich in ein Netz von Lügen einzuspinnen und dann daran zu „ersticken“. Die Kraft wirklicher Reue und echter Umkehr erwächst, wie uns das Beispiel Zachäus lehrt, nicht schon aus der Konfrontation mit den Tatsachen, sondern kommt aus der Begegnung mit Jesus. Petrus, der Verräter, weinte, nachdem Jesus ihm noch einmal in die Augen geschaut hatte. Wer sich darauf verlassen kann, von Jesus gehalten zu werden, der kann – wie das Beispiel von Bischöfin Käßmann gezeigt hat – auch öffentlich zurücktreten, von einer Idee, einem Projekt, vielleicht sogar vom Amt, denn wen Jesus hält, der kann geradestehen für den Mist, den er gebaut hat.

Fünfter Imperativ:

Stärke solche Institutionen, die einen guten menschlichen Umgang fördern und einüben.

Spätestens nach dem vierten Imperativ muss die Frage erlaubt sein: Können Politiker, können Christen in der Politik, alleine die Aufgabe schultern, Menschlichkeit einzuüben? Natürlich geht es nicht ohne sie. Aber wir müssen tiefer ansetzen. Wer in die Politik geht, der hat vermutlich schon einige Sozialisierungsagenturen durchlaufen. Kindergarten, Schule, Vereine, Kirchgemeinde usw. Es ist wichtig, dass in all diesen Bereichen Menschlichkeit gelebt und nicht alle Beziehungsformen dem Diktat einer instrumentellen, rein auf Zweckmäßigkeitserwägungen orientierten Vernunft unterworfen werden. Und doch glaube ich, dass das fruchtbarste und nachhaltigste Übungsfeld für einen menschenwürdigen Umgang die Familie ist. Das zur Mode gewordene systematische Schlechtreden der Familie kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ehe und Familie in ihrer „traditionellen“, das heißt auf Treue und Verbindlichkeit angelegten Form kein Gefängnis, sondern – wie der Richter am Bundesverfassungsgericht Ude de Fabio es formuliert – „Fundament und Voraussetzung der freiheitlichen Gesellschaft“ sind. Man muss kein idealisiertes Bild von Ehe und Familie zeichnen, um einige zunächst rein statistische Werte zur Kenntnis zu nehmen: In welcher Lebensform besteht die größte Wahrscheinlichkeit, dass Erwachsene ein Kind großziehen? In welcher Lebensform besteht die größte Wahrscheinlichkeit, dass dieses Kind mit Geschwistern aufwächst? Und in welcherLebensform besteht die größte Wahrscheinlichkeit, dass diese Kinder von ihren leiblichen Eltern großgezogen und nicht von „Vater Staat“ alimentiert werden? In allen drei Fällen ist dies die sich zur Familie erweiternde Ehe. Damit ist nicht gesagt, dass nicht auch in anderen Lebensformen Werte gelebt und weitergegeben werden, aber das auch in der Kontinuität und Verlässlichkeit der Beziehungen stabilste und zugleich intimste Übungsfeld menschlichen Miteinanders sind die im Grundgesetz Artikel 6 geschützte „Ehe und Familie“. Wer mehr Menschlichkeit in der Politik möchte, der sollte – von Staats wegen – Ehen und Familien stärken. Denn jeder Mensch, jeder Politiker, ist das Kind von Eltern, deren Erziehungsauftrag aller Unterstützung wert ist. Nicht nur, aber gerade hier ist jede Investition in das Großprojekt „Menschlichkeit“ bestens angelegt.

Prof. Dr. Christoph Raedel

Prof. Dr. Christoph Raedel