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Paar-, Familien- & SexualethikEhe- und Familienethik

Können Scheidungskinder glücklich werden?

So fragte das Magazin GEO-Wissen in seiner Septemberausgabe 2004. Die beiden Wissenschaftler, die zu diesem Thema interviewt wurden, spiegeln die ganze Bandbreite der Einschätzungen von Scheidungsfolgen wieder: Sie reicht von irreparablen Schäden bis hin zu geringfügiger Nebensächlichkeit. Angesichts immer weiter steigender Trennungsraten stellt der Umgang mit Kindern aus Scheidungsfamilien ein zunehmend wichtiger werdendes Thema in der Jugendseelsorge dar. 

I. Seelsorge an Scheidungskindern 

Wie in der Seelsorge allgemein, so beginnt auch beim Thema Scheidungskinder alles mit einer differenzierten Wahrnehmung der Situation. Jede Scheidung verläuft anders, jedes Kind nimmt sie anders wahr, geht anders mit ihr um. Verallgemeinerungen helfen deshalb naturgemäß nicht weiter – zumal wenn sie zu dem Zweck missbraucht werden, den Seelsorger von der Aufgabe zu entlasten, den jeweiligen Jugendlichen in seiner Besonderheit wahrzunehmen. Andererseits kann diese Wahrnehmung der jeweiligen Besonderheit aber auch geschult werden und dabei können bestimmte allgemeine Aussagen wiederum hilfreich sein. In diesem Newsletter sollen – nach einem kurzen Blick auf die Situation der Eltern –verschiedene mögliche „Problem-Cluster“ vorgestellt werden, die für viele Scheidungskinder von Bedeutung sind: Schuld, Scham, Vertrauen, Struktur, Reife und Loyalität. 

Bei diesen Clustern handelt es sich um häufig anzutreffende Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster von Scheidungskindern, die sich jedoch individuell immer unterschiedlich ausprägen bzw. in unterschiedlichen Kombinationen auftreten können. So kann es sein, dass der eine zwar ein normales Bindungsverhalten entwickelt, sich aber mit der Strukturierung seines Alltags herumplagt, während eine andere sich vor Klassenkameraden für die Scheidung der Eltern schämt, sonst aber ihr eigenes Leben sehr gut organisiert bekommt usw. 

Dabei versteht sich von selbst, dass es hier keine Automatismen gibt. Niemand ist durch eine Scheidungserfahrung zu einem bestimmten Leben „verdammt“. Wohl aber stellt die Scheidung der Eltern immer einen gewaltigen Einschnitt im Leben der betroffenen Kinder dar. Wie gravierend die Folgen sind und wie sie sich genau darstellen, hängt von zahlreichen individuellen Faktoren ab. Deshalb gehen wissenschaftlichen Einschätzungen über die Folgen einer Scheidung so weit auseinander: Es gibt kein „typisches Scheidungskind“. In diesem Sinne sollen die folgenden Problem-Cluster Mitarbeitern in der Jugendarbeit Anregungen bieten, zu einer sensiblen Wahrnehmung des einzelnen Jugendlichen zu gelangen und so Scheidungskindern hilfreich zur Seite zu stehen. Die vertiefte Wahrnehmung steht daher auch im Zentrum dieses Newsletters. Sicherlich gäbe es auch theologisch viel zum Thema Scheidung zu sagen, doch für die konkreten Situationen in der Jugendarbeit erscheint es uns wichtiger zu sein, die Situation von Scheidungsfamilien zuerst einmal möglichst „neutral“ darzustellen. Hinweise zu einer sinnvollen Begleitung von jugendlichen Scheidungskindern sollen diesen Aufsatz abrunden. 

II. Die Situation der Eltern

2.1. Der elterliche Eigenstress 

Nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Eltern stellt eine Scheidung zumeist eine tiefe Lebenskrise dar. Fast zwangsläufig sind sie in dieser Situation stark mit sich selbst beschäftigt. Der Schmerz der Trennung will bewältigt, das Leben neu organisiert werden. Besonders in den ersten beiden Jahren nach der Scheidung gerät das Leben aus seinen Fugen. Häufig verschlechtert sich zusätzlich die wirtschaftliche Situation, da plötzlich zwei Haushalte finanziert werden müssen. Auch das soziale Umfeld der Eltern bleibt von der Scheidung nicht unberührt. Gemeinsame Freunde sind unsicher, wie sie sich verhalten sollen. Vielfach wird ein Elternteil durch Umzug zu einer Aufgabe vertrauter sozialer Netzwerke gezwungen.  

Dadurch steigt der Grad der Selbstaufmerksamkeit der Eltern, ihre Empathiefähigkeit nimmt ab. Die Kinder erhalten weniger Beachtung und Unterstützung. In diesem Fall stehen die Eltern vor einer doppelten Herausforderung: Zum einen sehen sie sich von ihren eigenen Problemen komplett ausgelastet, zum anderen fordert ihr verunsichertes Kind nun vermehrt Zuwendung und Aufmerksamkeit – zum Teil auch durch schwieriges Verhalten. Oft entstehen dadurch Schuldgefühle seitens der Eltern, die einen emotionalen Rückzug vom Kind zusätzlich begünstigen können. Aus Überforderung sind sie umso schneller gereizt, verhalten sich dem Kind gegenüber inkonsequent und verstärken wohlmöglich die Irritation des Kindes durch sinnlose Eskalationen. Diese schwierige Situation der Eltern ist bei der Problematik von Scheidungskindern immer im Blick zu behalten. 

2.2. Der abwesende Elternteil

Eine gewichtige Rolle im Prozess einer Scheidung spielt aber nicht nur der anwesende, sondern auch der abwesende Elternteil –  in über 80% der Fälle der Vater. Gerade die Väter tun sich vielfach mit ihrer neuen „Rolle“ schwer. Obwohl viele Väter eigentlich den Wunsch haben, die Beziehung zu ihrem Kind aufrecht zu erhalten, kommt es relativ oft zu Kontaktabbrüchen. Je jünger das Kind ist, desto wahrscheinlicher ist ein endgültiger Kontaktabbruch zum nicht sorgeberechtigten Elternteil. Langfristig sehen Kinder ihren Vater in fast der Hälfte aller Fälle nur noch ein- bis zweimal pro Jahr, oder gar nicht mehr.  

Die Gründe dafür sind vielfältig: Für die meisten dieser Elternteile sind Konflikte mit dem Expartner bzw. das Bedürfnis nach Distanz zu ihm von grundlegender Bedeutung. Wenn der Vater schon vor der Trennung keine eigene Beziehung zum Kind entwickelt hatte, wird dies anschließend erst recht schwierig. Teilweise wird der Vater aber auch auf die Rolle des „Sonntagspapi“ oder des finanziellen Versorgers reduziert und wendet sich daher frustriert ab. Für manche Väter geht die Scheidung auch mit einem neuen Lebensentwurf einher, in dem für die Kinder kein Platz mehr ist. 

Besonders letzterer Fall ist für die Kinder, wie Untersuchungen deutlich belegen, sehr schwer zu verarbeiten. Auch deshalb legt das deutsche Recht inzwischen großen Wert darauf, dass beide Eltern das Sorgerecht tragen. Denn um eine tragfähige Beziehung aufbauen zu können, müssen Väter mit ihren Kindern in der begrenzten Zeit dennoch Alltag leben und ihnen in entstehenden Konflikten ein verlässlicher Partner sein. Und schließlich ist diese aktive Vaterschaft nicht nur für Väter und Kinder wichtig, sie kann auch die Mütter sehr entlasten. 

III. Die Situation der Kinder – Sechs „Problem-Cluster“ 

3.1. Schuld

Besonders drastisch kann sich das Problem der Schuld für Kinder stellen, die die Scheidung ihrer Eltern zwischen dem zweiten und siebten Lebensjahr erleben. Vereinfacht gesprochen hält ein Kind sich in dieser Altersphase für den Nabel der Welt und bezieht praktisch alles, was es erlebt, auf sich selbst. Emotionen machen dabei den Hauptteil ihrer Umweltwahrnehmung und ihres Erlebens aus. Auf Grund dessen fällt es Kindern auch ausgesprochen schwer, zwischen einer Trennung zwischen den Eltern und einer Trennung eines Elternteils vom Kind zu unterscheiden: Gefühlt trennen sich nicht die Eltern untereinander, sondern sie trennen sich vom Kind. Das wiederum, so die kindliche Logik, muss seine Ursache im Kind selbst haben, vielleicht war es ja nicht artig oder lieb genug?! Die Tragik dieser möglichen Kindeswahrnehmung ist dabei eine doppelte: Einerseits glaubt das Kind – häufig zu Unrecht – die Liebe des jeweiligen Elternteils verloren zu haben. Andererseits befällt das Kind eine große Existenzangst, weil es den wahren Gründen und Schattierungen der Trennungsgeschichte nicht auf die Spur kommen kann. So verbindet sich das vage, irrationale Gefühl von Schuld mit der größten Angst, die ein Kleinkind haben kann, nämlich verlassen zu werden –womöglich sogar von beiden Elternteilen. Bei kleineren Kindern sind die häufigsten Reaktionen darauf: Weinerlichkeit, Trotz, Schuldgefühle, Aggression oder Angst vor Streit. Etwas ältere Kinder, welche die Scheidung und die damit verbundenen Veränderungen besser verstehen, reagieren vermehrt mit Versagensängsten, Konzentrationsstörungen oder ausgeprägten Tagträumen.

Dieses Gefühlchaos aus Schuld und Angst kann bei manchen Scheidungskindern schließlich in den Versuch münden, seine Eltern (bzw. den jeweils verbliebenen Elternteil) durch übereifriges, anhängliches und z.T. unterwürfiges Verhalten zum Bleiben zu bewegen. Solch ein Verhaltensmuster kann sich durchaus auch bis in spätere eigene Partnerschaften hinein fortsetzen, wenn etwa frühere Scheidungskinder später zwar mit hoher Hingabefähigkeit ausgestattet sind, aber sich schwer tun, eigene Wünsche und Bedürfnisse angemessen zu artikulieren – weil sie immer noch befürchten, dann verlassen zu werden. Schlimmstenfalls bricht sich das eigentlich legitime Bedürfnis nach einem eigenständigen Platz innerhalb der Paarbeziehung dann in subtilen Machtspielen, erpresserischen Tränen und ähnlich destruktivem Verhalten Raum. 

3.2. Scham

Neben der Schuld stellt das Thema Scham ein weiteres wichtiges Problemcluster dar. Diese Problematik findet sich typischerweise bei Kindern, die eine Trennung der Eltern zwischen dem neunten und zwölften Lebensjahr erleben. Im Gegensatz zu kleineren Kindern fühlen sie sich meist nicht mehr für die Scheidung verantwortlich, aber in ihrer aufrichtigen Liebe zu dem abwesenden Elterteil zurückgewiesen. Die eigene Zuneigung erscheint in ihren Augen unerwünscht, wertlos und überflüssig zu sein. Das kann die Selbstachtung des Kindes in Mitleidenschaft ziehen. Da Kinder in besagtem Alter lernen, sich selbst in Bezug zu ihrer Umwelt und durch deren Augen zu sehen, entsteht leicht das Gefühl der Minderwertigkeit gegenüber den Altersgenossen: Mit Eltern, die ihr Kind offenbar so wenig lieb haben, dass sie es augenscheinlich im Stich lassen, kann es sich unmöglich positiv identifizieren oder gar stolz auf sie sein. Im Vergleich mit anderen Familien erlebt es sich als defizitär und schämt sich für seine schlechten Eltern. 

Dabei ist der Wunsch von Kindern in diesem Alter in erster Linie, normal und unauffällig zu sein. Deshalb verheimlichen viele Kinder die Scheidung und ihre inneren Probleme damit und bauen sich eine hübsche Fassade auf. Der gefühlte Schandfleck lastet aber unter Umständen noch lange auf der eigenen Selbstwahrnehmung. Noch verstärkt wird das Problem durch Eltern, die die Scheidung gegenüber dem Kind tabuisieren. Auf diese Weise legt sich über die ohnehin verwirrenden Ereignisse noch zusätzlich der Mantel belastenden Schweigens. Kinder, die unter dieser Situation leiden, ziehen sich oftmals in sich selbst zurück und fallen höchstens durch Lethargie und stille Traurigkeit auf. 

Dass Erlebnisse der Zurückweisung und Gefühle der Scham ein Menschleben tiefgreifend prägen können, erweist schon die alltägliche Erfahrung. Der negative Blick auf sich selbst macht übersensibel für kommende Kränkungen, überall könnte die Zurückweisung lauern. Tiefsitzende Scham bringt oftmals den sozialen Rückzug mit sich und ein tiefes Misstrauen gegenüber anderen Menschen. Wer einmal die tiefe Sorge hegt, vor anderen entblößt und verlassen zu werden, wenn man sein Innerstes offenbart, der braucht unter Umständen lange Zeit, um neues Vertrauen zu schöpfen. 

3.3. Vertrauen

Das Thema Vertrauen würden wahrscheinlich die meisten Menschen intuitiv als das hauptsächliche Konfliktfeld von Scheidungskindern ansehen. Und dies nicht ohne Grund: Schließlich spielt das Thema untergründig in praktisch alle anderen Problem-Cluster hinein. Nicht erst die „Bindungstheorie“ der Psychologie hat nachgewiesen, dass Kinder in der Regel ihr Bild von zwischenmenschlichen Beziehungen und deren Verlässlichkeit anhand der Bindung zu den eigenen Eltern entwickeln. Es liegt deshalb auf der Hand, dass eine Scheidung eine tiefe Verunsicherung bei ihnen auslösen kann, die unter Umständen noch lange nachwirkt. Gerade Kinder reagieren auf diese Erschütterung in der Bindung zu den Eltern häufig aggressiv und verstört, weil sie ihrer Verunsicherung noch keinen rationalen Ausdruck geben können. Die Strategien zur Bewältigung solcher Gefühle prägen sich normalerweise erst mit der Pubertät aus. 

Wie stark sich der Vertrauensverlust auf ein Scheidungskind auswirkt, hängt allerdings wiederum von mehreren Faktoren ab: So etwa vom Zeitpunkt der Trennung und der Frage, wie viel Grundvertrauen schon ausgebildet werden konnte. Dann auch von der allgemeinen Konfliktfähigkeit des Kindes. Und schließlich und vor allem davon, welche Beziehung das Kind zu dem abwesenden Elternteil entwickeln kann. Erlebt es, dass trotz Abwesenheit der entsprechende Elternteil verlässlicher Ansprechpartner bleibt, können viele Schäden vermieden werden. 

Dem Thema Vertrauen wohnt aber ebenfalls, ähnlich der Scham, das Potential inne, sich immer weiter zu verstärken: Mehrdeutige Reaktionen anderer Menschen werden negativ interpretiert, kleinere Zurückweisungen sofort in das große, düstere Gesamtbild eingeordnet und sachliche Infragestellungen schnell persönlich genommen. Mit jeder (scheinbaren) Bestätigung der eigenen negativen Sicht von Beziehungen verengt sich der eigene Blickwinkel weiter auf die negativen Seiten der Alltagserfahrungen. 

3.4. Struktur

Eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben des Kindes besteht darin, mit der Zeit zu lernen, sein Leben selbstständig zu strukturieren. Zunächst ist das Kind praktisch vollständig von der elterlichen Fürsorge abhängig. Selbst die Erfüllung elementarste Bedürfnisse wie Essen, Schlafen und Hygiene werden von den Eltern gewährleistet und strukturiert. Der durch eine Scheidung ausgelöste Eigenstress der Eltern führt aber vielfach dazu, dass sie vermehrt Zeit, Kraft und Geld in die Organisation ihres eigenen Lebens investieren müssen und so weniger für das Kind bleibt. Dadurch kann das Leben des Kindes, vor allem in der Zeit direkt nach der Scheidung, schnell seine gewohnte und Sicherheit gebende Struktur verlieren. Plötzlich haben die Eltern keine Zeit mehr, sich ausgiebig um ihr Kind zu kümmern, seine Freizeit zu organisieren, ihm bei Hausarbeiten zu helfen usw. Nach einer Scheidung werden Kinder zumeist weniger gefördert, und sind vermehrt auf sich selbst gestellt. Oft müssen sie sich früh selbst versorgen und tragen Verantwortung für viele Haushaltsaufgaben, da ihre Eltern zu wenig Zeit haben. Diese gestiegene Verantwortung kann aber leicht zu einer Überforderung der Kinder führen. Das kindliche Leben verliert seine Struktur, die normalen Aufgaben eines Kinderlebens (Schule, Hausaufgaben, Spielen, Freunde) büßen ihren gesunden Stellenwert ein oder können nicht mehr richtig wahrgenommen werden. 

Dieser „strukturelle Elternverlust“ kann für ein Kind, besonders in jüngeren Jahren, noch schlimmer sein als die eigentliche Scheidung. Einige Kinder werden lustlos und depressiv oder sehen aus blanker Überforderung stundenlang apathisch fern. Andere wenden sich exzessiv Haustieren zu oder gehen anderen Beschäftigungen nach, um sich über den gefühlten Verlust der Eltern hinweg zu trösten. Teilweise bleiben manche problematischen Bewältigungsstrategien, die hier entwickelt werden, noch im späteren Erwachsenenalter wirksam. 

Ein anderer Faktor, der die kindliche Welt schwierig und unübersichtlich macht, besteht darin, wenn Kinder regelmäßig zwischen den Eltern pendeln müssen. Dies bedeutet einen irritierenden Wechsel zwischen zwei vollkommen unterschiedlichen Lebenswelten mit unterschiedlichen Vorstellungen, Regeln und Idealen, welche integriert werden wollen. Dies wird häufig noch durch (ausgesprochene oder unausgesprochene) Konkurrenz zwischen den Eltern zusätzlich erschwert. 

Für ältere Kinder und Jugendliche ergibt sich überdies das Problem, dass ihr sich entwickelndes Sozialleben durch Wochenendbesuchsregelungen stark in Mitleidenschaft gezogen wird. Muss ein Kind z.B. jedes zweite Wochenende einen entfernt lebenden Elternteil besuchen, kann es häufig an Wochenendaktivitäten seiner Freunde oder am Vereinsleben nicht teilnehmen. Dadurch verliert es bei Freunden leicht den Anschluss. So gut gemeint vielfach das häufige Hin- und Herreisen zwischen entfernt wohnenden Eltern ist: Die Eltern-Kind-Beziehung kann gerade dadurch sehr belastet werden, wenn das Kind das Gefühl hat, ständig aus der eigenen Lebenswelt gerissen und von eigenen Interessen abgehalten zu werden. 

3.5. Reife

Das „Problem-Cluster“ Reife weist eine gewisse Nähe zum vorherigen Thema auf. Während es bei letzterem jedoch mehr um äußere Veränderungen und deren Folgen ging, so stehen hier stärker die Eltern-Kind-Beziehung und das Innenleben des Kindes im Mittelpunkt. Häufig nämlich machen sich ältere Kinder große Sorgen um ihre Eltern und übernehmen deshalb bereitwillig Verantwortung, für die sie eigentlich noch zu jung sind. Kinder sind dann z.B. verantwortlich für die Betreuung jüngerer Geschwister, sie müssen vermehrt Aufgaben im Haushalt übernehmen und finden auch am Abend selten Entlastung, weil der sorgeberechtigte Elternteil häufig müde von der Arbeit kommt und verlangt, in Ruhe gelassen zu werden. Diese Kinder fallen in der Regel nicht negativ auf und werden von Erwachsenen als reif und hilfsbereit wahrgenommen. Dennoch besteht für Kinder hier die Gefahr, aus Sorge um die Eltern kaum mehr richtig Kind sein zu dürfen. Ihre eigenen Interessen und Freundschaften zu Gleichaltrigen kommen häufig zu kurz und schulischen Leistungen nehmen oft ab.  

Diese Reaktion der Kinder hat durchaus eine innere Logik. Viele von ihnen kämpfen mit der nagenden Angst, im elterlichen Überlebenskampf mit unterzugehen und schließlich aufgegeben oder ignoriert zu werden. Diese Ängste verstärken die Sorge um die Eltern. Durch ihren Einsatz scheint es den Kindern vielfach auch tatsächlich zu gelingen, neue Katastrophen zu verhindern. Daher  verwenden sie in der Folge ihre ganze Energie darauf, für die Eltern zu sorgen und Krisen zu verhindern. Dabei vernachlässigen sie die Wahrnehmung sowohl von eigenen Bedürfnissen als auch von altersspezifischen Entwicklungsaufgaben. 

Eine besondere Gefahr besteht, wenn Eltern bei ihren Kindern Unterstützung, Trost und Rat suchen. Vielfach wird dabei der kindliche Kompetenzbereich erheblich überschritten. Dieses Verhalten kann so weit führen, dass buchstäblich die Rollen vertauscht werden und ein Kind plötzlich in die Elternrolle rutscht, obwohl es selbst noch der Fürsorge bedarf. Ein mit Erwachsenenproblemen konfrontiertes Kind ist logischerweise hilflos und überfordert. Dieses existentiell erlebte Unvermögen, den Eltern helfen zu können, führt später nicht selten zu mangelndem Selbstwert und Depressionen, besonders wenn Kinder ihren Eltern als emotionale Stütze dienten. Solche ungesunden Abhängigkeitsverhältnisse und vertauschten Rollen können auch dazu führen, dass Kinder sich im Erwachsenenalter nicht von ihren Eltern lösen können, da sie sich für ihre schwachen Eltern verantwortlich fühlen. Diese Kinder bleiben emotional gebunden und können sich als Erwachsene kein eigenes Leben aufbauen. Als weitere Spätfolge wirkt sich dieses ungesunde Beziehungsmuster oft auf die Partnerwahl aus. Solche Kinder geraten häufig an wenig kompetente Partner und erscheinen diesen gegenüber als rettender Helfer. Sich frühreif aufopfernde Kinder sind sehr in Gefahr, sich als Erwachsene in ungesunden Beziehungen ausnutzen zu lassen.

3.6. Loyalität

Für die kindliche Identitätsbildung ist die positive Identifikation mit beiden Elternteilen von großer Bedeutung. Durch eine Scheidung wird diese Entwicklung verkompliziert. Noch schwieriger wird es allerdings, wenn Kinder von ihren Eltern in Loyalitätskonflikte hineingezogen werden. Das Kind muss dabei nicht nur seine Liebe zu dem jeweiligen Elternteil verleugnen, sondern auch einen wichtigen Teil seiner eigenen Identität, wenn beispielsweise die Mutter im Sohn den inzwischen verhassten Vater zu sehen glaubt. 

Ein Kind, das zwischen Vater und Mutter entscheiden soll, ist immer in einer ausweglosen Situation, denn die Entscheidung für den einen spricht immer gegen den anderen. Das Kind muss daher fürchten, den Elternteil, gegen den es sich entscheidet, zu verlieren. Und auch der Kompromiss ist gefährlich: Ergreift es für keinen Partei, droht es am Ende beide Eltern zu verlieren. 

Auch wenn eine Parteinahme vom Kind nicht bewusst oder offen gefordert wird, so spüren Kinder dennoch die Wünsche und Stimmungen ihrer Eltern sehr genau und reagieren dementsprechend. Beispielsweise erklären viele Kinder beiden Elternteilen, sie würden am liebsten bei ihnen wohnen und den anderen gar nicht so oft besuchen. Gerade bei jüngeren Kindern ist dieses Verhalten keine bewusster Versuch, die Eltern gegeneinander auszuspielen. Das Kind erspürt lediglich die Wünsche seiner Eltern und versucht ihnen zu entsprechen. Indem es sich auf die Seite desjenigen stellt, mit dem es gerade zusammen ist, versucht es zu helfen. Kinder, die sich in solchen Loyalitätskonflikten befinden, sind oftmals von großer Opferbereitschaft erfüllt. Sie neigen dazu, eigene Bedürfnisse, wie zum Beispiel die Trauer um den abwesenden Elternteil, zu verdrängen, weil sie diese nicht äußern dürfen. 

IV. Jugendliche Scheidungskinder

Im Gegensatz zu kleineren Kindern können Jugendliche die Trennungsursachen auf rationaler Ebene zumeist schon nachvollziehen. Sie sind in der Lage, zwischen dem Verhältnis der Eltern untereinander und der Beziehung zu ihren Kindern zu unterscheiden. Der Statistik nach sind Jugendliche, gemeinsam mit den 0-3jährigen, die Gruppe von Scheidungskindern, die mit der Trennung der Eltern am besten umgehen kann. Dies liegt daran, dass sie sich ein eigenes Urteil und einen eigenen Standpunkt in familiären Angelegenheiten aneignen können. Außerdem können sie sich vermehrt Rat, Hilfe und Ablenkung außerhalb der Familie aneignen, zum Beispiel bei Freunden, Freizeiteinrichtungen, Jugendgruppen etc. 

Dennoch stellt auch für Jugendliche eine Scheidung eine einschneidende Krise dar, die erst einmal verarbeitet werden will. Typischerweise zeigen Teenager dabei zwei Tendenzen: Entweder reagieren sie sehr mitfühlend und mit praktischer Unterstützung, oder aber sie entwickeln heftige Gefühle und geben ihrer Enttäuschung deutlichen Ausdruck. Auch ein Wechselbad zwischen beiden Grundtendenzen ist häufig anzutreffen. 

Die jugendlichen Scheidungskinder, die eher der zweiten Gruppe angehören, fühlen sich häufig von ihren Eltern im Stich gelassen und reagieren darauf mit verstärkter Rebellion. Dies kann unter Umständen sogar soweit gehen, dass Jugendliche sich abrupt aus der Scheidungsfamilie lösen, um zu protestieren und dem Konfliktherd zu entkommen. Andere Scheidungskinder wiederum lassen sich stark in den Scheidungsprozess hineinziehen. Sie versuchen, die Stimmungen des verbliebenen Elternteils auszugleichen und helfen, wo es geht. Sie entwickeln dabei häufig ein etwas frühreifes und elternhaftes Verhalten. Möglicherweise werden dadurch sogar wichtige Pubertätserfahrungen versäumt, wenn sie sich übertrieben tugendhaft und erwachsen geben, um sich so von dem aus ihrer Sicht unmoralischen und verwerflichen Verhalten der Eltern abzusetzen. 

Für die Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung ist vor allem deren Qualität vor dem Erreichen der Pubertät entscheidend. Hatte das Kind zuvor eine stabile, positive Beziehung zu den Eltern, ist es wahrscheinlich, dass es seine Wertschätzung auch in Pubertät und Adoleszenz aufrecht erhalten wird. Glauben Eltern hingegen, dass ihre Kinder sie von Natur aus respektieren  müssten, erweist sich das oft als Trugschluss. Eltern müssen sich den Respekt ihrer Kinder durch langjährige aufmerksame und liebevolle Erziehung verdienen. Das zeigt sich spätestens im Teenageralter, wenn Kinder nur noch diejenige Autorität akzeptieren, die ihnen sinnvoll und authentisch erscheint. In diesem Alter werden plötzlich Konflikte, die schon vorher in der Familie schwelten, häufig schärfer und brechen auf. Das mitunter opponierende Verhalten der Teenager ist aber notwendig, denn es hilft, die individuelle Persönlichkeit samt Zielen, Vorlieben und Perspektiven zu entwickelt. Dieses Phänomen tritt zwar in praktisch allen Familien auf, ist aber in Scheidungsfamilien oft noch einmal in verschärfter Form anzutreffen. 

Sind Jugendliche von der Folgen einer Scheidung stark belastet, dann sind spätere Partnerschaften mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Konfliktfeld. Vielfach sind solche Beziehungen dann mit Misstrauen belegt. Schon kleine Probleme erscheinen häufig als tiefe Krise. Zugleich fällt vielen aber das Alleinsein schwer, sodass man zwar Beziehungen eingeht, ohne sich aber ganz darauf einlassen zu können. Besonders Kinder, die ihre Trauer über die Scheidung nie ausdrücken durften, vermeiden in ihren Beziehungen tiefe Gefühle, da sie sich innerlich oft von ihren Emotionen abgeschnitten und wie versteinert fühlen. Generell klagen viele jugendliche Scheidungskinder darüber, dass ihnen die innere Blaupause von funktionierenden Beziehungen fehlen würde und sie sich alles erst erarbeiten müssten. 

V. Hilfreiche Begleitung in der Jugendarbeit

Lässt man die vorgestellten sechs „Problemcluster“ und die spezielle Problematik jugendlicher Scheidungskinder noch einmal Revue passieren, könnte man schnell den Eindruck gewinnen, dass Scheidungskinder zu den so genannten „hoffnungslosen Fällen“ zählen. Das ist keineswegs der Fall. Die meisten Scheidungskinder lernen, im Laufe ihrer Entwicklung mit den Schwierigkeiten der Trennung der Eltern konstruktiv umzugehen. 

Eine nicht unwesentliche Rolle kann dabei auch die christliche Jugendarbeit spielen. Wie dies konkret aussehen kann, dazu noch einige Hinweise:

  • Für Jugendliche aus konfliktbeladenen Familien ist die Gruppe von Gleichaltrigen meistens der Ort, zu dem sie vor ihren Schwierigkeiten Zuflucht nehmen. Dies geschieht manchmal sogar unbewusst, ohne dass man sich der Gruppe offenbart. Oftmals reicht es schon, eine Gemeinschaft zu haben, in der man akzeptiert ist, seinen Platz finden kann und Verlässlichkeit erlebt. 
  • Wenn es zusätzlich noch ältere Leiter gibt, die Orientierungsfiguren sind, kann dies die Entwicklung zusätzlich begünstigen. Gerade Jugendliche, die für gewöhnlich stark zwischen bloßen Worten und authentischem Leben unterscheiden, entwickeln anhand solcher Vorbilder gute Perspektiven für das eigene Leben.
  • Dass die Bibel Scheidung – außer in bestimmten Ausnahmefällen – als Sünde bezeichnet, ist ein sensibles Thema für Scheidungskinder. Auf der einen Seite mögen viele von ihnen diese Sicht gerade aus ihrer eigenen Negativerfahrung heraus teilen. Andererseits wollen sie weder ihre Eltern noch sich selbst im geistlichen Gewande abgewertet sehen.
  • Themen wie Scheidung und deren Folgen in Jugendkreisen aber zu thematisieren, kann sich als hilfreich erweisen, insbesondere wenn für manche Jugendlichen das Thema zu Hause tabuisiert wird. Für sie kann es sehr befreiend sein, hier Verständnis zu finden und eigene Sorgen und Wünsche artikulieren zu können. Es bietet sich an, das Thema im Zusammenhang allgemeiner Werte wie Liebe und Beziehungen zur Sprache zu bringen, da eine isolierte Behandlung schnell ausgrenzende Wirkung haben kann. 
  • Dazu ist eine gewisse Aufklärung über mögliche Folgen von Scheidungen sehr wichtig. Unter Umständen lernen manche Jugendliche dadurch sich selbst, ihre Geschichte und nicht zuletzt auch ihre Familie ganz neu kennen. Es kann auch eine Entlastung sein, zu merken, dass man mit bestimmten Problemen nicht alleine dasteht. 
  • Zuletzt sei noch einmal auf die einleitenden Hinweise zur Seelsorge an Scheidungskindern hingewiesen: Es gibt kein „typisches Scheidungskind“, jede und jeder verarbeitet solche Erlebnisse unterschiedlich. Um in der Seelsorge an Jugendlichen eine Unterstützung sein zu können, ist es entscheidend, die Besonderheit jeder einzelnen Lebensgeschichte zu würdigen. Dabei können die hier beschriebenen „Problem-Cluster“ eine Seh- und Sprachhilfe sein. Sie ersetzen aber weder das aufmerksame Zuhören des Seelsorgers noch das Reden und Wirken Gottes, der trotz menschlicher Widrigkeiten – um es mit den Worten der Josephsgeschichte zu sagen – „es gedachte, gut zu machen“.

VI. Buchtipps

Das Thema Scheidungsfolgen wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Empirisches Material, v.a. in Form von Langzeitstudien, ist dabei leider eher rar gesät. Eine wichtige Langzeitstudie liegt derzeit von Judith Wallerstein und Sandra Blakeslee vor. Sie wurde in zwei Büchern dokumentiert, von denen das erste den Stand der Untersuchungspersonen im frühen Jugendalter, das zweite nach 25 Jahren darstellt: 

Wallerstein, Judith/Blakeslee, Sandra, Gewinner und Verlierer: Frauen, Männer, Kinder nach der Scheidung; eine Langzeitstudie, München: Knaur, 1992.

Wallerstein, Judith/ Blakeslee, Sandra/Lewis, Julia, Scheidungsfolgen - Die Kinder tragen die Last: Eine Langzeitstudie über 25 Jahre, Münster: Votum, 2002. (engl.: „The Unexpected Legacy of Divorce: a 25 Year Landmark Study“)

Die beiden Bücher geben einen hilfreichen Einblick in die individuelle Ausprägung von Scheidungsfolgen. Es werden jeweils verschiedene Personen begleitet und deren Interviews ausgewertet. So ergibt sich ein komplexes, aber gut lesbares Gesamtbild. 

Von einem tiefenpsychologischen Standpunkt aus nähert sich Helmuth Figdor dem Thema Scheidung. Besonders wenn es um das kindliche Erleben von Scheidungsvorgängen geht, haben seine Bücher viele interessante und einfühlsame Beobachtungen und konkrete Hilfestellungen zu bieten. Zwar kann eine vorsichtige kritische Distanz gegenüber manchen tiefenpsychologischen Grundansätzen auch bei der Lektüre Figdors nicht schaden, abgesehen davon weisen schon die großen Auflagezahlen auf zwei sehr empfehlenswerte Werke hin:

Figdor, Helmuth, Kinder aus geschiedenen Ehen: Zwischen Trauma und Hoffnung: Wie Kinder und Eltern die Trennung erleben, 8. Aufl., Gießen: Psychosozial-Verlag, 2004. 

Figdor, Helmuth, Scheidungskinder: Wege der Hilfe, 6. Aufl., Gießen: Psychosozial-Verlag, 2007. 

Als Lektüre aus eher christlicher Sicht neben den vorgestellten säkularen Werken lohnt es sich, einmal das Buch von Elizabeth Marquardt zur Hand zu nehmen. Zwar beschreibt die Autorin die Situation von Scheidungskindern vornehmlich aus einer amerikanischen Perspektive, diese lässt sich aber ohne größere Probleme auf Deutschland übertragen. Interessante Kapitel enthält Marquardts Buch besonders da, wo es um das Verhältnis von Scheidungskindern zu Kirchen und Gemeinden geht. 

Marquardt, Elizabeth, Kind sein zwischen zwei Welten: was im Inneren von Kindern geschiedener Eltern vorgeht, Paderborn: Junfermann, 2007. (engl.: „Between two worlds: the inner lives of children of divorce“)

Monika Jotter

Tobias Braune-Krickau