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Gewalt bei Jugendlichen

Hintergründe, Verständnishilfen und Lösungsansätze

Von der Gewalt gehen gleichzeitig Grauen und Faszination aus. Die Medien stürzen sich begierig auf die Zeugnisse von randalierenden und prügelnden Jugendlichen. Orte wie Winnenden oder die Münchner S-Bahn-Station Donnersbergerbrücke sind längst zu öffentlichen Symbolen geworden. Ob die Lage dabei wirklich schlimmer ist als früher, ist mit den Mitteln der Statistik schwer zu erfassen. Für die Jugendarbeit dürfte das auch nicht die entscheidende Frage sein. Weit wichtiger ist, zu verstehen, was es mit der Gewalt grundsätzlich auf sich hat: Wie entsteht sie? In welchen Erscheinungsformen tritt sie auf? Wie verhält sich unsere Kultur zur Gewalt? Wie der christliche Glaube? Und wie kann man der Gewalt sinnvoll begegnen?  

Dieser Newsletter geht diesen Fragen in drei Abschnitten nach, die in sich abgeschlossen sind. Man kann als Leserin oder Leser also direkt bei den jeweils interessierenden Fragen einsetzen. Abschnitt I widmet sich den grundsätzlichen theologischen und kulturellen Fragen, die durch die Gewalt aufgeworfen werden. Der zweite Abschnitt versucht, den konkreten Erscheinungsformen von Gewalt im Zusammenhang mit Jugendlichen auf die Spur zu kommen. Der dritte und letzte Abschnitt möchte Anregungen geben zum konkreten Umgang mit verschiedenen Formen von Gewalt.

I. Das Rätsel und die Paradoxie der Gewalt

In gewisser Weise ist die Gewalt ein Rätsel. Sie rührt an die dunkle Seite des Menschen, in der er sich selbst ein Rätsel ist, in der unklare Triebe Handlungen freisetzen. Sie bringt etwas davon zur Anschauung, was die Psychologie der 1920er Jahre so treffend das „Es“ in der menschlichen Seele nannte. Wenn es soweit ist, erkennt sich der Mensch selbst nicht wieder – und begegnet doch gerade darin seinem Ureigensten. Da ist eine ungerichtete Energie, im Letzten vielleicht undurchschaubar, nur in Ansätzen zu bändigen durch Kultur und Zivilisation. 

Damit greift die Psychoanalyse zugleich ein altes theologisches Thema auf. Es nimmt seinen Ausgang auf den ersten Seiten der Bibel in der Geschichte von Schöpfung und Fall. An deren Ende stehen die bekannten Worte: „Und Gott trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten

Am Anfang steht der Brudermord – und neben ihm das erste Gebot Gottes auf Erden: ›Du sollst nicht töten.‹

Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zurück zu dem Baum des Lebens.“ (Gen 3,24) Die Folgen dieser Vertreibung sind drastisch: Eva gebiert zwei Söhne, Kain und Abel; Zwischen ihnen entbrennt ein Streit. „Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.“ (Gen 4,8) Am Anfang der Menschheitsgeschichte steht der Brudermord. Und neben ihm das erste Gebot Gottes auf Erden: „Du sollst nicht töten“ (Gen 4,15). 

Wenn die Theologie in der Folgezeit viel über die Ursünde oder Erbsünde im Menschen nachdenkt, dann ging es ihr nicht nur – wie heute schnell angenommen – um prüde Leibfeindlichkeit. Es ging mindestens ebenso um die Auseinandersetzung mit der zerstörerischen, ins Chaos drängenden Macht, die nicht zuerst in den widrigen Umständen, sondern im Wesenskern des Menschen selbst liegt. Und so ist auch die alte Glaubensregel, das bekannte ora et labora, ein Versuch, mit den gewaltförmigen Antrieben im Angesicht Gottes umzugehen. 

In dieser Tradition steht auch die Idee des neuzeitlichen Staates, den der Philosoph Thomas Hobbes in seinem berühmten Leviathan von 1651 als einen „sterblichen Gott“ bezeichnet. Unter dem Eindruck des englischen Bürgerkrieges, dessen Wüten von 1642 bis 1649 unzählige Opfer auf beiden Seiten fordert, sieht er einzig einen gottähnlichen, starken Staat dazu in der Lage, die Gewalt zwischen den Menschen einzudämmen. Hobbes unterlegt seine These dabei mit einem Mythos von großer Suggestivkraft:1Einen guten Zugang zum Original bietet die von J. Schlösser und H. Klenner besorgte Ausgabe Thomas Hobbes (1651), Leviathan oder: Die Materie, Form und Macht eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens, Hamburg: Meiner, 2005. Eine schöne Nacherzählung frindet man bei Sofsky, Wolfgang (2005), Traktat über die Gewalt, Neuausg., Frankfurt a.M.: Fischer, S. 7-26.  Als alle Menschen noch frei und gleich waren, war niemand vor dem anderen sicher. Die Menschen lebten in ständiger Angst vor brutalen Übergriffen. Im ursprünglichen Naturzustand herrschte der grausame Krieg aller gegen alle. Eines Tages schlossen sich die Menschen zu einem Bund zusammen und hielten vertraglich fest, welche moralischen Regeln unter ihnen gelten sollten. Doch auch das schuf keine Abhilfe, denn die eigentliche Gefahr war dadurch noch nicht wirklich gebannt: die Gewalt des jeweils Anderen. So gewann die Angst wieder Überhand und mit ihr das Morden. Daraufhin entschlossen sich die Menschen zu einem folgenschweren Schritt. Sie legten ihre Waffen nieder und übergaben sie einigen wenigen Anführern, die sie zuvor aus ihrer Mitte gewählt hatten. Sie allein sollten von nun an alle Macht und Gewalt innehaben und mit ihr all jene bestrafen, die sich der neuen Ordnung des Gemeinwesens nicht fügen. So schafft paradoxerweise erst die größtmögliche Gewaltkonzentration das Vertrauen in die Gewaltlosigkeit des Alltags.

Man könnte die Geschichte weiterschreiben: Seitdem treiben die neuen Herrscher die Sache des Friedens mit aller Gründlichkeit voran. Gesetze und Verordnungen werden erlassen und Verbrecher und Abweichler öffentlich unter furchtbarer Marter hingerichtet. Die durch die Tabuisierung der Gewalt feinfühliger werdenden Menschen stößt dieser offensichtliche Widerspruch bald mehr und mehr ab. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert verschwindet die körperliche Züchtigung aus der Öffentlichkeit. Disziplinierung ist das neue Stichwort. Sie wird durch rigide Erziehungsmaßnahmen und v.a. durch die ›Geburt des Gefängnisses‹ gleichsam ins Innere des Menschen verlegt, der nun aus sich heraus der neuen Ordnung Folge leisten soll.2Siehe dazu jene beinahe schon klassische Schilderung, die bis heute nichts von ihrer Eindringlichkeit verloren hat: Foucault, Michel (1977), Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses, Neuausg., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1994.  Zum völligen Verschwinden der Gewalt – sowohl der des Staates als auch seiner Bürger – hat bekanntlich auch das nicht geführt. 

„Unser Ideal von Zivilisation bringt eine dünne Haut mit sich.“ 
(Jan Philipp Reemtsma)

Wohl aber zu einer neuen Konstellation von ›Vertrauen und Gewalt‹, wie Jan Philipp Reemtsma – im Jahr 1996 selbst Opfer einer gewaltsamen Entführung geworden – ausführt.3Reemtsma, Jan Philipp (2008), Vertrauen und Gewalt: Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Neuausg., München: Pantheon, 2009.  Die Geschichte der Moderne beschreibt er als eine Geschichte der Delegitimation und Relegitimation von Gewalt: Gewalt wird aufs Schärfste geächtet und zurückgedrängt. Dies gelingt jedoch nur zu dem Preis, dass eine andere (staatliche) Gewalt, nämlich diejenige, die ihrerseits Gewalt verhindern oder beenden soll, als legitim erklärt wird. In diesem geschichtlichen Prozess wird die „reinste“ Form der Gewalt zum größten Tabu der Moderne: Reemtsma nennt sie die ›autotelische‹ Gewalt, die Gewalt als Selbstzweck, als reiner Rausch an der absoluten Macht, den Körper des Anderen zerstören zu können. Zwar habe das zwanzigste Jahrhundert, wohin man auch schaut, unfassliche Gewaltexzesse hervorgebracht. Dennoch sei, so Reemtsma, unsere Gegenwart geprägt von einem schier grenzenlosen Vertrauen in die legitime Gewalt des Staates und die dadurch garantierte Gewaltabstinenz der Gesellschaft. In diesem Vertrauen seien die Menschen geradezu blind dafür, dass diese selbstzweckhafte Form der Gewalt noch immer „eine Lustquelle ersten Ranges darstellt, ja vielleicht modern darum darstellt, weil sie verboten ist, weil sie die Ausnahme ist. Sie auszuüben bedeutet, alle Kulturforderungen der Moderne schlechthin über den Haufen zu werfen."4Ebd., S. 325.

So führt die Moderne je länger je mehr zu einer Sensibilität – und damit auch zu einer Verletzlichkeit – gegenüber allen Formen von Gewalt, die es in dieser Intensität wohl in früheren Zeiten nicht gegeben hat. Um es noch einmal mit den Worten Jan Philipp Reemtsmas zu sagen: „Unser Ideal von Zivilisation bringt eine dünnere Haut mit sich, anders gesagt: Es gehört zu den Zivilisationsleistungen, die Traumadisposition des Menschen zu erhöhen."5Ebd., S. 98. Man braucht gar nicht erst in alttestamentliche Zeit zurückgehen, um etwas davon zu erahnen. Es genügt wohl, sich zu vergegenwärtigen, dass in der Bundesrepublik die Prügelstrafe für ungehörige Schüler erst 1973 gesetzlich abgeschafft wurde – heute, keine vierzig Jahre später, ist sie bereits vollkommen unvorstellbar. 

Dass solche historische Relativierung nicht zu einer moralischen Relativierung führen darf, liegt auf der Hand. Dies gilt insbesondere auch für uns Christen, die wir in gewisser Hinsicht an der gewalttätigen Geschichte unserer Religion teilhaben. Dabei stellt sich nicht zuletzt die äußerst schwierige Frage, wie wir uns zu der – in unseren Predigten gerne (und vielleicht auch zu Recht) ausgeklammerten – Gewalt in der Bibel stellen. Schließlich lässt etwa die Gründungsgeschichte des Volkes Israels hunderte Ägypter erst an den göttlichen Plagen sterben und dann eine ganze Armee in den Fluten des Meeres ertrinken. Und die öffentliche Initiation von David, dem größten König Israels, besteht darin, einem Riesen den Kopf abzuschlagen und diesen – nachdem das Volk alle panisch flüchtenden Philister erschlagen hat – als Trophäe mit nach Jerusalem zu bringen. 

Warum wirkt die Bibel streckenweise so illusionslos gegenüber der Gewalt?

Solche Texte stellen uns vor große Herausforderungen. Sie stellen jene Frage, die derzeit auch wieder von einer größeren Öffentlichkeit gestellt wird: Wie verhält sich Gott zur Gewalt? Allzu einfache Antworten sind hier fehl am Platz, will man das Problem nicht verharmlosen. Vielleicht kann man aber dennoch zumindest als einen Minimalkonsens der Bibel festhalten, dass Gott seine Menschen nie verlassen hat, trotz und inmitten der Gewalt. Dieser Satz lässt immer noch viele Fragen offen. Warum wirkt die Bibel streckenweise so illusionslos gegenüber der Gewalt? Gehört sie tatsächlich so elementar zum Leben in dieser Welt dazu? Und inwiefern ist Gott in diese blutige Geschichte verstrickt? Sicher wird die Gewalt in der Bibel nicht einfach gutgeheißen, aber es gehört wohl doch zur Unerforschlichkeit Gottes, warum er diesem grausamen Treiben noch immer kein Ende gesetzt hat. 

Diese „Paradoxie der Gewalt“, dass sie nicht gut geheißen wird, aber Gott ganz offenbar trotz und inmitten der Gewalt bei seinen Menschen ist und bleibt, findet ihren anschaulichen Höhepunkt im Leben und Sterben Jesu. Er selber predigt einen kompromisslosen Gewaltverzicht und nimmt diesen in der Bergpredigt als den ersten und letzten Willen Gottes in Anspruch: „Wenn dich jemand auf deine rechte Wange schlägt, dem biete auch die andere dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen will, dem lass auch den Mantel.“ (Mat 5,39-40) 

Zugleich provoziert dieser Gewaltlose die Welt mit ihren eingespielten Wegen von Gewalt und Vergeltung so sehr, dass er den blanken Hass auf sich zieht. Dieser Hass wird dazu führen, dass er den grausamsten und entwürdigendsten Tod stirbt, den die damalige Gesellschaft sich auszudenken im Stande war. – Der Gewaltlose kommt um in einer geradezu rauschhaften Gewalteskalation: „Kreuzige Ihn! Kreuzige Ihn!“ (Lk 23,21)

Diesen von Jesus widerstandslos ertragenen Tod nimmt Gott nach neutestamentlichem Zeugnis an, um in ihm die ganze Menschheit zu erlösen. So wird Jesu Auferstehung das Zeichen für die christliche „Paradoxie der Gewalt“: Gott verlässt seine Menschen nicht, trotz und inmitten von Tod und Gewalt. Im Gegenteil lässt er gerade dort die neue Schöpfung anbrechen, eine andere Welt, in der kein Leid, keine Angst und keine Gewalt mehr sein werden. 

Wer will behaupten, diese Geschichte bis ins Letzte verstehen zu können? Der gewaltsame Tod des Gewaltlosen wird zum Durchgang zur Erlösung von aller Gewalt. Eine Erlösung, die allerdings auf ihre volle Verwirklichung noch wartet. Und so sterben auch an diesem Tag wieder tausende Menschen durch die Hand ihrer Mitmenschen. Auch in meinem eigenen Umfeld bricht sich irgendwo in diesem Moment die Gewalt Bahn. Sie ist ein Rätsel, weil sie an die dunkle Seite des Menschen rührt, in der er sich selbst ein Rätsel ist. Der eine Mensch, der das Rätsel löste, starb an einem Kreuz im Nahen Osten. Was machen wir daraus? 

II. Gewaltphänomene verstehen

Auf einer sehr grundsätzlichen Ebene kann man also sagen: Die Gewalt bleibt in mancher Hinsicht ein Rätsel und das christliche Verhältnis zu ihr hat etwas Paradoxes. Und doch finden wir uns immer wieder in Situationen, in denen wir ganz konkret mit Gewalt umgehen müssen. Die kürzlich aufgedeckten Fälle von sexuellem Missbrauch in christlichen Einrichtungen zeigen auf erschütternde Weise, dass man sich auch im Alltag der Jugendarbeit der Möglichkeit von Gewalt stellen muss – durch andere und durch einen selbst. 

Wird das Gefühl der eigenen 
›Selbstwirksamkeit‹ über Gebühr 
frustriert, gerät der Mensch aus dem 
Gleichgewicht.

Dazu ist es zunächst einmal wichtig, Gewalt in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen zu verstehen. Denn wer etwas von ihren Motiven und ihrer Entstehung begreift, der hat meist auch schon den Schlüssel zum Umgang mit ihr in der Hand. Wie aber will man Gewalt verstehen, wenn sie in der Realität in so unterschiedlichen Erscheinungsformen auftritt? Oder gibt es so etwas eine Gemeinsamkeit zwischen dem rechtsextremen Schlägertrupp, der einen Dunkelhäutigen durchs ostdeutsche Dorf hetzt und dem überforderten jungen Mann, der seine Freundin schlägt; zwischen rivalisierenden Mädchengangs und dem pädophilen Onkel; zwischen dem Amokläufer an der Schule und der Rangelei beim Fußballspiel; zwischen den ›U-Bahn-Schlägern‹, die auf den schon am Boden liegenden Passanten eintreten und der Mutter, der im Stress hin und wieder ›die Hand ausrutscht‹…? 

Gewalt gibt es ganz offenbar nicht nur in einer einzigen „Reinform“. Und doch kann man einige Idealtypen von Gewaltphänomenen unterscheiden, und zwar dann, wenn man besonders auf die zugrundeliegenden Handlungsmotive schaut. Sicherlich mag es im realen Einzelfall zu Überschneidungen kommen oder dazu, dass sich verschiedene Motive wechselseitig verstärken. Man kann aber davon ausgehen, dass jeweils ein Motiv als das dominierende hervortritt. Durch das Verständnis dieser idealtypischen Motivlagen lassen sich dann in Anschluss auch bestimmte Wege des Umgangs mit Gewalt erschließen. 

2.1. Drei Typen von Gewalt

1. Gewalt als scheinbares Herrwerden über eine frustierende Situation. 

Die Grundform dieses Gewalttyps kennt vermutlich jeder: In seinem Ärger beschädigt man irgendeinen Gegenstand, der einen frustriert. Weil heute zum fünften Mal die Kette abgesprungen ist, schleudert man das Fahrrad wütend auf den Gehweg. Weil der MP3-Player ständig spinnt und nicht macht, was er soll, knallt man ihn mit Schwung in die Ecke. 

Was passiert eigentlich in solchen Momenten? Klar ist: Ihnen geht eine frustrierende Situation voraus. Einfach gesagt entsteht Frustration immer dann, wenn man über längere Zeit ein Ziel verfolgt, aber immer wieder an seiner Verwirklichung gehindert wird. Natürlich führt dann noch nicht jede Frustration zwangsläufig zu Gewalt. Die Frustrationstoleranz ist je nach Mensch und Situation durchaus unterschiedlich stark ausgeprägt. Auch die Umgangsweisen und –strategien mit Frustration unterscheiden sich individuell erheblich. Dennoch sind Aggression und Gewalt bei näherer Betrachtung gar keine so unverständlichen Reaktionen: Die frustrierende Situation ist nämlich im Kern deswegen so schwer zu ertragen, weil sie das Gefühl der eigenen ›Selbstwirksamkeit‹, wie die Psychologie sagt, der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten beeinträchtigt: Man braucht für ein gesundes Selbstverhältnis das Gefühl, sinnvoll auf die Welt einwirken zu können, mit seinen Fähigkeiten etwas verändern zu können. Wird dieses Gefühl über Gebühr frustriert, gerät der Mensch aus dem Gleichgewicht und diese Frustration bricht sich unter Umständen Bahn in Form von Gewalt. Sie gibt dann wenigstens für den kurzen Moment das (illusionäre) Gefühl zurück, doch noch Herr über die Situation zu sein: ›Wenn ich den Laptop schon nicht zum Laufen kriege, ich kann ihn wenigstens kaputt machen!‹ Insofern kann man bestimmte Formen von Gewalt als eine Art illusionäre Wiederherstellung von Selbstwirksamkeit verstehen. Und das dürfte einer der Gründe dafür sein, warum manche Ausraster einen durchaus beruhigenden Effekt haben. Das Problem bei diesem Verhalten ist nur: Man übersieht durch den starken Affekt zumeist die Folgeprobleme des eigenen Handelns; der Laptop ist wohlmöglich für immer hinüber. 

Die bedeutendste Quelle der 
Frustration im zwischenmenschlichen Bereich ist die Missachtung.

Diesen Zusammenhang kann man recht einfach auf das Zwischenmenschliche übertragen. Man denke besonders an die vielfältigen Gewaltphänomene im zwischenmenschlichen Nahraum: in Familie, Freundschaft, Partnerschaft. Besonders hier können sich Konfliktlagen anstauen, die die eigenen Lösungsmöglichkeiten dauerhaft überfordern, die Selbstwirksamkeit frustrieren und sich dann in der berühmten Ohrfeige entladen. Wie so häufig lässt die Umgangssprache tief blicken: Man wusste sich ›halt einfach nicht mehr zu helfen‹. Auch hier übersieht man im Zorn natürlich die Folgeprobleme: Wer seine Freundin einmal geschlagen hat, hat unter Umständen ihr Vertrauen für immer verloren. 

Zu diesem Gewalttyp kann man ferner auch die Gewalttaten von Jugendlichen gegen Lehrer zählen oder gegen andere Verantwortungspersonen, denen sie dauerhaft ausgesetzt sind. Wenn sich Jugendliche beispielsweise permanent gedemütigt fühlen und keine Möglichkeit haben, dem Paroli zu bieten, kann das irgendwann gewaltsam eskalieren. Dieser Zusammenhang funktioniert natürlich auch bei bestimmten Konstellationen unter Jugendlichen selbst: Man denke etwa an den Außenseiter, der immer gehänselt wurde, der sich nie gewehrt hat, auf den man darum nur umso mehr ›herumgetrampelt‹ ist und der irgendwann (›aus dem Nichts‹) ausrastet. 

Dabei ist zu bedenken, dass die wohl bedeutsamste Quelle der Frustration im zwischenmenschlichen Bereich die Missachtung ist. Hier wird sozusagen das eigene Selbstbild permanent frustriert, indem die anderen einen nicht in der Weise achten, wie man das natürlicherweise erwartet. Tatsächlich deutet vieles von dem, was wir etwa über jugendliche Amokläufer wissen, darauf hin, dass sie sich von ihrer Umgebung in hohem Maße abgelehnt fühlten. Dies kann im schlimmsten Falle in eine immer düsterere Spirale aus tatsächlicher Ausgrenzung, Selbsthass, freiwilligem Rückzug und neuer Ausgrenzung führen, die schließlich völlig aus dem Ruder läuft. 

Das Frustrationsmotiv ist aber auch bei vielen Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten im Spiel, die für das ›normale Mittelschichtsempfinden‹ übermäßig schnell aggressiv werden oder randalieren. Auch hier muss man sich klarmachen, dass hinter diesen Taten unter Umständen lebenslange Erfahrungen von Missachtung und Ausgrenzung stehen: Eltern, die ihre Kinder schlagen und nur instabile Bindungen pflegen. Eine Gesellschaft, die ihnen argwöhnisch gegenübersteht, schon allein deswegen, weil sie aus einer bestimmten Gegend kommen. Ein Schulsystem, das einerseits überfordert und andererseits das, was die Jugendlichen tatsächlich können, nicht zu schätzen weiß. Dazu der tägliche Konkurrenzkampf mit den anderen Jugendlichen im Viertel. Armut in Deutschland ist nicht primär eine Zahl auf dem Konto, sondern zu allererst die permanente Erfahrung von Ausgrenzung und Missachtung. Das frustriert verständlicherweise berechtigte Ansprüche auf Achtung und Anerkennung. Stehen dann nur wenig alternative Handlungsmuster zur Verfügung, liegt die Anwendung von Gewalt nicht mehr fern. 

Wichtig ist zu beachten, dass die Art Frustration, um die es hier geht, erst über einen langen Zeitraum gewachsen sein muss, um das entsprechende Gewaltpotential freizusetzen. So mag am Ende dann auch eine kleinere Situation als Auslöser dienen. Dies funktioniert aber nur deshalb, weil sich der Frust schon länger angestaut hat. 

Diesen Typ von Gewalt gibt es natürlich auch als ›Übertragungsphänomen‹: Frust, der sich angestaut hat, mit dem man nicht fertig wird, erzeugt Wut und Aggressivität, die sich manchmal gegen Unbeteiligte (oder als Vandalismus) entladen. Das Opfer ›war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort‹. Auch hier ist Frustration der ›Selbstwirksamkeit‹ häufig der tiefere Grund und die Gewalt die kurzzeitige, wohltuende Illusion, doch etwas bewirken zu können. Wenn einem die Anderen schon mit Missachtung begegnen und man mit seinen Mitteln nichts daran ändern kann, dann zeigt man nur zu gerne seine tatsächliche Macht am wundesten Punkt unserer Mehrheitsgesellschaft: der Anfälligkeit für die scheinbar unbegründete, ›autotelische‹ Gewalt. Dies gilt wohl nicht weniger für viele Formen von autoaggressivem Verhalten, wie z.B. Magersucht.6Vgl. zum Thema den Newsletter Nr. 1/März 2008 von Monika Jotter und Tobias Braune-Krickau: Online unter www.wert-voll.info Als Übertragungsphänomen kann man sie in gewisser Weise auch zu diesem Typ zählen. Denn auch hier hilft die Gewalt – in diesem Falle gegen sich selbst – zumindest noch ein kleines Stückchen ›Selbstwirksamkeit‹ in einer überfordernden Welt zu spüren. 

2. Gewalt als Massen- und Gruppenphänomen 

Noch einmal anders liegt die Sache bei Gewalt in und durch eine Gruppe. Auch bei diesem Typ reicht der zugrunde liegende Impuls in unsere alltägliche Lebenswelt hinein. Denn wer kennt nicht das erhebende Gefühl, Teil einer eingeschworenen Gemeinschaft zu sein? Man denke nur an Jugendfreizeiten oder die festen Cliquen der Teenagerjahre. Noch einmal verstärkt wird der Sog, den Gruppen im Guten wie im Schlechten ausüben können, wenn die Gruppe zur Masse wird. Recht harmlos mag man etwas von ihrer Dynamik spüren, wenn man im Fußballstadion ist und der Schiedsrichter einen fragwürdigen Elfmeter gegen die eigene Mannschaft pfeift. Ganz Ähnliches passiert auf Rockkonzerten, die ja im Allgemeinen dann als gelungen gelten, wenn die Fans ›voll mit

Für den, der voll in der Gruppe 
aufgeht, gibt es kein ›Ich‹ mehr,
 sondern nur noch ein ›Wir‹.

gehen‹. In solchen Momenten erahnt man etwas davon, wie schwer es sein kann, sich der Macht der Masse oder Gruppe zu widersetzen. Wer mit ihr verschmilzt, erfährt eine ungeheure Entlastung von dem stetigen Druck unserer modernen Lebenswelt, ›Ich‹ sagen zu müssen. Für den, der in der Gruppe aufgeht, gibt es kein ›Ich‹ mehr, sondern nur noch ein ›Wir‹; keine selbst verantworteten Entscheidungen, sondern nur noch das Heil des Kollektivs.7Wie sehr totalitäre Systeme wie die Nazidiktatur oder auch die ehemalige DDR auf diesem Zusammenhang von ›Masse und Macht‹ gründen, liegt auf der Hand. Die Vielschichtigkeit dieses Phänomens scheint mir immer noch unübertroffen geschildet von Canetti, Elias (1960), Masse und Macht, Neuausg., 30. Aufl., Frankfurt a.M.: Fischer. 

Von da aus ist der Schritt zur Gewalt nicht mehr weit. Man kennt die Bilder von rechtsextremer Gewalt, von Hooligans beim Fußball oder von Gewalt bei Demonstrationen.8Zum Thema Hooligans ist der gleichnamige Film von Lexi Alexander aus dem Jahr 2005 mit Eliah Wood und Charlie Hunnam in den Hauptrollen, ausgesprochen sehenswert. Es ist nicht einfach zu sagen, was genau bei solchen Gruppen die Gewalt letztendlich auslöst. Auch hier mögen individuelle oder gemeinsame Erfahrungen von Missachtung und Frustration durchaus den Hintergrund abgeben. Genauso kann es sein, dass aus diesen Erfahrungen heraus das gemeinsame Feindbild – der Sündenbock – schon lange feststeht. Die Dynamik der Gruppe verleiht der Gewalt allerdings noch einmal eine eigene Qualität. 

Vielleicht kann man sich dem Phänomen der v.a. spontanen, gruppenmäßig begangenen Gewalt auf diesem Wege nähern: Gruppen funktionieren durch unterschwellige Hierarchien. Diese Hierarchien stehen aber nicht ein für allemal fest. Im Gegenteil müssen Sie immer neu bewährt und verteidigt werden. Das gilt umso mehr für eine führende Position in einer Gruppe. Wie geschieht das? Seine führende Position in einer Gruppe kann man besonders dadurch beweisen und festigen, dass man die Gruppe ›zu etwas bewegen‹ kann, dass man sie formen, ihr ein Ziel geben kann. Man muss seine Macht über die Gruppe ausüben und damit unter Beweis stellen, um seine Macht über die Gruppe zu festigen. Das gilt auch für die harmlose christliche Jugendgruppe und darum zeigen sich auch hier Machtkonflikte zumeist in kleinen und großen Richtungskämpfen. Wer es schafft, die Gruppe zu bewegen und hinter sich zu vereinen, der hat gewonnen und seine Macht gesichert. 

Nun gibt es natürlich verschiedene Dinge, zu denen man die Gruppe bewegen kann, um damit seine Machtposition zu festigen. Eine stark zugespitzte Form ist diejenige, eine Situation zu schaffen, in der jeder einzelne vor die Frage gestellt ist, ob er noch dazu gehört oder nicht (sozusagen die ›Vertrauensfrage‹). Dafür muss der Anführer selbst mit dem Gestus unbedingter Entschlossenheit auftreten und von den anderen etwas Außergewöhnliches fordern. Und hier kommt der gemeinsame Feind ins Spiel: An ihm beweist sich nämlich par excellence, wer dazu gehört und wer nicht. Der Anführer ist derjenige, der den Feind identifiziert und am Entschlossensten gegen ihn vorzugehen vermag. Über die Frage, wer wie schnell und wie entschlossen dem Ruf zur Entscheidung folgt, werden dann die weiteren Plätze in der Gruppenhierarchie verteilt. Ist diese Situation der Entscheidung einmal hergestellt – und die Gewalt ist auf Grund ihres Risikos und ihrer hohem Hemmschwelle eine durchaus naheliegende Form dafür – ist derjenige, der nicht entschlossen mitzieht, aus dem Gruppengefüge herausgefallen. Das dürfte der tiefere Grund dafür sein, dass man sich der Gewalteskalation in der Gruppe so schwer entziehen kann. Man weiß intuitiv: Wer jetzt nicht mitmacht, ist unten durch. Man ist gefordert, hier und jetzt seinen Mut zu beweisen, zu zeigen, dass man ein würdiger Teil der Gruppe ist.9Diesen ganzen Zusammenhang kann man sich sehr schön an dem Buch Die Welle von Morton Rhue (1981; dt: 1984) oder ihrer Verfilmung (2008; von Dennis Gansel, mit Jürgen Vogel in der Hauptrolle) klarmachen. 

Dieses Hineingeben der eigenen Identität in den größeren Zusammenhang der Gruppe kann wiederum das entlastende ›Wir-Gefühl‹ freisetzen, von dem oben schon die Rede war. Das mag in der Gruppe noch jene Eigendynamik der Gewalt verstärken, die als Tendenz Bestandteil jeder Form von Gewalt ist: Jede Gewalttat hat ihre eigene Vorgeschichte und ihre eigene Motivlage. Aber aus Interviews mit Intensivtätern wissen wir, dass in extremeren Fällen der eigentlichen Moment des Gewaltausbruchs fast durchgängig als eine Art von Rausch, als totale Entgrenzung erlebt wird. Dieser Rausch scheint besonders von dem Gefühl grenzenloser Macht auszugehen. Es entsteht an dem Bewusstsein, den wehrlosen Körper des Anderen vollständig zerstören zu können.10Ferdinand Sutterlüty hat in seinem überaus bemerkenswerten Buch (2002), Gewaltkarrieren: Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung, 2. Aufl., Frankfurt a.M.: Campus, 2003 lange Interviews mit jugendlichen Intensivtätern geführt. Besonders erschüttern die Schilderungen über die Entgrenzung der Gewalt aus der Innenperspektive der Täter.  Anders scheint auch nicht mehr erklärbar, was etwa an jenem 12. September 2009 in der Münchner S-Bahn-Station Donnersbergerbrücke geschah. Drei Jugendliche hatten von einigen Jüngeren Geld gefordert und mit Gewalt gedroht. Der fünfzigjährige Dominik Brunner ging dazwischen und bot den Opfern seinen Schutz an. Auf dem Bahnsteig kommt es zum Handgemenge, bei dem Brunner zu Boden geht. Zeugen berichten, dass daraufhin der eine der Täter „völlig ausgetickt“ sei und „wie von Sinnen“ minutenlang brutal auf sein längst wehrloses Opfer eingeschlagen habe. Dominik Brunner erliegt weniger später im Krankenhaus seinen zahlreichen Verletzungen. Dieser Fall ist selbst in seiner Brutalität kein Einzelfall und zeugt auf erschreckende Weise davon, dass Gewalt – egal ob durch Gruppen oder Einzeltäter – im Moment ihrer totalen Entgrenzung keinen weiteren Zweck mehr braucht als die perverse Lust an der Gewalt selbst.

3. Gewalt als Mittel zur Stabilisierung einer Ordnung. 

Der wichtigste Unterschied dieses Typs von Gewalt zu den beiden vorherigen besteht darin, dass der Grundsatz, dass die Täter die Folgen ihrer Taten nicht hinreichend abschätzen können, hier gerade nicht gilt. Im Gegenteil haben wir es dabei mit einer äußerst kalkulierten Form von Gewalt zu tun. Zumeist wird dabei sogar die Gewalt auf irgendeine Art gerechtfertigt. Im Einzelfall kann sie sich mit Aspekten der beiden anderen Formen vermischen, bleibt aber durch ihren berechnenden und teilweise geradezu moralischen Grundzug von ihnen unterscheidbar. 

Ein in den Medien breit aufgegriffenes Phänomen dieser Art von Gewalt ist der so genannte ›Ehrenmord‹: Die Tochter, die aus der moralisch-kulturellen Ordnung der Familie ausbricht, die durch alle Überzeugungsversuche nicht gehalten werden kann, selbst nicht durch das zeitweise Verstoßen und die dann schließlich durch Gewalt daran gehindert wird, die gemeinsame Ordnung weiter ins Wanken oder gar zum Einsturz zu bringen. Solche Gewalt gegen junge Frauen ist keinesfalls spontan, sondern von langer Hand geplant. Zumeist fehlt den männlichen Vollstreckern der moralischen Ordnung selbst im Nachhinein die Einsicht in die Grausamkeit und das Unrecht ihrer Tat. 

Wer eine bestimmte Ordnung 
etablieren will, tut gut daran, 
die Dramaturgie der Abschreckung 
zu beherrschen.

In ihrem Bewusstsein setzen sie nur die rechtmäßige Ordnung wieder in Kraft, erfüllen ihre heilige Pflicht. 

Diese so genannten Ehrenmorde sind aber letztlich nur der überaus drastische Extremfall für das, was in zahlreichen – und bei weitem nicht nur muslimischen! – Familien tagtäglich vor sich geht: Eine Schreckensordnung, die nur noch in Kategorien von stärker und schwächer rechnet. Der Vater terrorisiert die Mutter und die Kinder. Die älteren Kinder geben das in gleicher Münze an die jüngeren weiter. Das geht bis zu dem Tag, an dem die Söhne dem Vater körperlich Paroli bieten können, dies schließlich auch tun und anschließen für immer über alle Berge sind. 

In diesem Zusammenhang kommt der Abschreckung große Bedeutung zu. Wer eine bestimmte Ordnung etablieren will – sei dies nun in der Familie, der kulturellen Minderheit, dem Stadtteil etc. – der tut gut daran, die Dramaturgie der Abschreckung zu beherrschen. Es geht darum, ›Zeichen zu setzen‹ und dadurch ›erst gar nichts aufkommen zu lassen‹. Sozialarbeiter werden das Phänomen kennen: Wer als ›Neuer‹ in so eine Ordnung eindringt, muss sich auf einiges gefasst machen. Dem Eindringling muss nämlich als erstes einmal deutlich gezeigt werden, wer hier ›der Chef im Ring‹ ist. 

Wenn man den Begriff der Ordnung etwas weiter versteht, dann kann man hierher auch all jene Fälle von Gewalt rechnen, in denen sie als Mittel zum Zweck schlichtweg in Kauf genommen wird. Der Raubüberfall wäre dafür ein Beispiel: Der eigentliche Zweck ist die Beute, die man sich – nach dem eigenen Verständnis von ›Ordnung‹ – unter den Nagel reißen darf. Dafür wird der Einsatz von Gewalt mehr oder weniger achselzuckend in Kauf genommen, aber eben nur als Mittel zu dem Zweck, die eigenwillige Eigentumsordnung zu exekutieren. 

Selbst Schüler, die sonst freundlich 
und sozialkompetent sind, 
können gegenüber Lehrern 
ausgesprochen feindselig werden.

Mit solchen Beispielen – sowie mit den vielfältigen Fällen von kalkulierter Rache – gerät dieser dritte Typ von Gewalt in der Realität häufig in die Nähe des ersten Typs. Der entscheidende Unterschied liegt wiederum darin, dass Typ 1 sich eher spontan und im Affekt entlädt und Typ 3 eher von langer Hand geplant wird und dabei geradezu unterkühlt und berechnend sein kann. Das schließt wiederum nicht aus, dass in der konkreten Situation auch hier der rauschhafte Gewaltexzess eintreten kann, von dem oben schon die Rede war. 

Zieht man diese Linie nun weiter aus, dann muss man konsequenterweise auch solche Gewalt, die normalerweise als legitim angesehen wird, unter diesem Typ fassen. Schließlich basiert, wie schon im ersten Abschnitt geschildert, die staatliche Ordnung notwendigerweise auf der Macht, diese im Notfall auch mit Gewalt durchsetzen zu können. Ein weiteres plastisches Beispiel für diesen dritten Typ ist der Tyrannenmord, also der Mord an einem Diktator, in dem die Gewalt in höchstem Maße einen Vorausgriff auf eine zukünftige Ordnung darstellt. 

2.2. Die notwendige Bedingung von Gewalt: Entmenschlichung des Opfers

Gewalt, das wird bei näherer Betrachtung schnell deutlich, tritt in vielfältigen Erscheinungsformen auf. Diese Erscheinungsformen kann man in das grobe Raster der drei Typen einteilen, die eben beschrieben wurden. Damit fehlt aber noch ein entscheidendes Element, das zum Verständnis von Gewalt unerlässlich ist. Es ist – besonders je schwerer die Gewalttat ist – ihre notwendige Voraussetzung: Die Entmenschlichung des Opfers. 

Ein recht harmloses Beispiel mag man aus dem Straßenverkehr kennen. Wer hat nicht schon einmal im Auto lauthals über einen anderen Verkehrsteilnehmer geschimpft. Dabei legt man häufig einen Tonfall an den Tag, den man im sonstigen Alltag tunlichst vermeiden würde. Diese Entgleisung der Sprache funktioniert im Auto einerseits deshalb so gut, weil der andere einen nicht hört. Andererseits – und dies ist wohl der entscheidendere Grund – weil man den anderen weniger als Menschen, denn abstrakt als Autofahrer wahrnimmt. Würde man dem, den man da gerade wüst beschimpft, von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen, hätte man vermutlich sofort Verständnis dafür, wenn er hier und da mal ein bisschen langsamer ist. 

Eine ganz ähnliche Dynamik kann man tagtäglich in Schulen beobachten. Selbst Schüler, die ansonsten freundlich und sozialkompetent sind, können gegenüber Lehrern ohne jedes Mitgefühl ausgesprochen feindselig sein – bis hin zu offenem Hass. Dies hängt eben u.a. damit zusammen, dass sie den Lehrer nicht in erster Linie als Menschen wahrnehmen, sondern stärker in seiner Rolle als Lehrer. 

Diese noch recht harmlosen Beispiele zeigen bereits, um wie viel leichter es ist, jemanden feindselig zu begegnen, sobald man ihn weniger als Mensch und mehr in einer bestimmten abgewerteten Rolle wahrnimmt. In deutlich anderer Dimension liegt dieses Prinzip selbst den nationalsozialistischen Gräueltaten zu Grunde. Die Vernichtung der europäischen Juden wurde systematisch dadurch flankiert, sie in jeder Hinsicht zu entmenschlichen. So ist es auch kein Zufall, dass die Menschen in den Konzentrationslagern noch ihrer letzten sichtbaren Zeichen von individueller Identität beraubt wurden, solange, bis sie in den Augen ihrer Peiniger nur noch anonyme Rädchen in der monotonen Maschinerie der Vernichtung waren. Aus den Namen, die für das ganze einer individuellen Lebensgeschichte stehen, wurden Nummern, die es effektiv zu verwalten galt. Ohne diese unfassbaren Schrecknisse hier als Beispiel banalisieren zu wollen, zeigen sie doch in ihrer Drastik die Entmenschlichung des Opfers als notwendige Bedingung von Gewalt. 

In diese Richtung weisen auch klinische Studien an Intensivtätern. Sie fanden heraus, dass bei ihnen die Fähigkeit zur Empathie, das heißt zur Einfühlung in einen anderen Menschen, in der Regel kaum vorhanden ist. Selbst in gewöhnlichen Gesprächen können sie sich zumeist nur schwer in die Perspektive ihres Gegenübers versetzen oder anteilnehmend zuhören. Sie können kaum intuitiv erspüren, wie es einem anderen Menschen gerade geht. Diese Fähigkeit zur Empathie, die bei Intensivtätern deutlich unterentwickelt ist, bildet im Alltag die Grundlage alles dessen, was wir als ›soziale Kompetenz‹ bezeichnen und für gewöhnlich an anderen Menschen sehr schätzen. Empathie ist dabei im Kern nichts anderes als jener grundlegende Akt der Perspektivübernahme, in dem ich den Anderen als einen Menschen erkenne, der wie ich in der Lage ist zu denken, zu hoffen, zu fühlen, zu wollen, zu leiden. 

Man sagt für gewöhnlich: ›Die Gewalt spricht nicht‹ oder ›Mit wem ich rede, mit dem kann ich mich nicht mehr schlagen.‹ Da ist etwas dran. Denn tatsächlich benötigen wir schon für das Gelingen von ganz grundlegenden Kommunikationsvorgängen eine ungeheure Menge an Empathievermögen. Wer also mit dem Anderen redet, der fühlt sich immer schon ein und hat damit tatsächlich mit einen ersten Schritt weg von der Gewalt gemacht. 

Außerdem ist aus der Entwicklungspsychologie bekannt, dass diese grundlegende Empathiefähigkeit bereits früh im Leben – vermutlich noch vorsprachlich durch Gesten, Berührungen usw. – ausgebildet wird. Allerdings kann ihre Entwicklung eben auch behindert werden durch die Erfahrung von nicht verlässlichen Gegenübern in der Erziehung. Die Erfahrung, mit seinen Empfindungen und Bedürfnissen dauerhaft auf taube Ohren zu stoßen, kann dazu führen, dass in der Entwicklung auch die Gefühle und Bedürfnisse der Mitmenschen dauerhaft unterbelichtet bleiben. Besonders heftig wird die Empathiefähigkeit in ihrer Entwicklung durch frühe Erfahrungen von Gewalt gestört. Hier hat die Alltagsweisheit, dass die Erfahrung von Gewalt nur wieder neue Gewalt hervorbringt, ihre empirische Grundlage. 

Das Evangelium zielt darauf, den Menschen menschlich zu machen.

Es ist sowohl für das Verständnis von Gewalt als auch für den Umgang mit ihr von großer Bedeutung, diesen Zusammenhang von Gewalt und Entmenschlichung zu verstehen. So kommt es schließlich nicht von ungefähr, dass in der konkreten Situation der Gewalt oftmals ein verbaler Schlagabtausch mit gegenseitiger Erniedrigung vorangeht. Es wundert so gesehen auch nicht, dass das Opfer häufig schon im Vorfeld als Feind oder Sündenbock (vgl. Typ 2), oder auch als außerhalb der moralischen oder kulturellen Ordnung stehend (Typ 3) diffamiert wird. Die Entmenschlichung des Opfers kann schließlich auch relativ unbewusst geschehen in der sich steigernden Ich-Zentrierung des ersten Typs von Gewalt. Bei ihm gewinnt die eigene Frustration oder Kränkung mehr und mehr Überhand über den seelischen Haushalt und verdrängt schließlich die Fähigkeit zur Empathie. 

III. Mit Gewalt umgehen

Diese kleine Analyse von Gewaltphänomenen legt zugleich den Blick frei auf die grundlegende Stoßrichtung, in der Gewalt sinnvoll begegnet werden kann. Diese Stoßrichtung kann man sich z.B. dadurch klarmachen, dass man einmal überlegt, warum Gewalt eigentlich dem Evangelium fundamental widerspricht. 

3.1. Warum steht Gewalt dem Evangelium entgegen?  

In gewisser Weise könnte man sagen, die Sache mit der Gewalt sei in der Bibel recht einfach: Das Tötungsverbot im Alten Testament ist ebenso eindeutig wie der Aufruf zum Gewaltverzicht durch Jesus in der Bergpredigt. Aber was ist eigentlich der tiefere Grund dieser Gebote? 

Man könnte es so sagen: Die „Bewegung“ des Evangeliums verläuft genau entgegengesetzt zu der der Gewalt. Im Falle der Gewalt ist der Mensch in seiner Aggression verschlossen für den Anderen, erkennt in ihm nicht mehr das Mitgeschöpf und geht, in sich selbst verkrümmt, wortwörtlich über Leichen. Das Evangelium dagegen reißt den Menschen aus seiner Verkrümmung in sich selbst, bricht seine Selbstbezogenheit auf und öffnet ihn für Gott und darüber auch für seinen Nächsten. Während die Gewalt die Entmenschlichung des Anderen vollzieht, zielt das Evangelium darauf, den Menschen erst wirklich menschlich – und das heißt nicht zuletzt: mitmenschlich – zu machen. 

Für den christlichen Glauben ist Jesus wahrer Gott und wahrer Mensch. „Wahrer“ Mensch ist er auch in dem Sinne, dass er so lebte, wie Gott es sich ursprünglich gedacht hat. So wie Adam und Eva vor dem Fall im Bilde Gottes geschaffen wurden, so ist Christus nun das neue Bild Gottes, dem die Menschheit immer ähnlicher werden soll. Paulus schreibt, Gott habe die Menschen vorherbestimmt, „dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes“ (Röm 8,29). Jenes „Bild Christi“ besteht maßgeblich – wie Paulus etwa im zweiten Kapitel des Philipperbriefs deutlich macht – in der sich öffnenden Zuwendung und Hingabe an den Nächsten. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Gewalt und das Evangelium sich in ihrer grundsätzlichen Bewegung diametral widersprechen. Aus dieser der Gewalt entgegen gesetzten Dynamik des christlichen Glaubens kann zuletzt auch die konkrete Gewaltprävention und –intervention in der Jugendarbeit ihre Zielvorstellung ableiten. 

3.2. Konkrete Gewaltprävention und -intervention  

Wenn nun die grundsätzliche Bewegung des Evangeliums darauf zielt, den Menschen menschlich zu machen und ihn zu öffnen für Gott und seinen Nächsten, dann gibt dies auch die grundsätzliche Richtung vor, in der in der christlichen Jugendarbeit mit dem Phänomen Gewalt umgegangen werden sollte. Zugleich ist klar, dass aller Gewaltprävention und –intervention bestimmte Grenzen gesetzt sind. Denn in gewisser Weise gehört es zum Wesen der Gewalt, dass man gegen sie nur bedingt etwas ausrichten kann. Schließlich hat Gewalt immer etwas damit zu tun, sich gegen den Willen eines anderen durchzusetzen. Insofern kann man Gewalt nicht restlos verhindern oder abwehren. Gewalt ist, wie der Soziologe Heinrich Popitz einmal formulierte, eine „Jedermannsqualifikation“, die schon deshalb nie vollständig eliminiert werden kann.11Popitz, Heinrich (1992), Phänomene der Macht, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 44. Dennoch gibt es bestimmte Grundsätze, die helfen können.

1. Für mögliche Täter

  • Für Jugendliche, die zu Gewalt neigen, ist es zunächst einmal von grundlegender Bedeutung, einen Zugang zu den Perspektiven anderer Menschen zu gewinnen, sprich: ihre Empathiefähigkeit auszubauen. Dazu bieten verschiedene Organisationen bestimmte professionelle Programme und Hilfestellungen an. Auf der Ebene christlicher Jugendarbeit wird die größte Chance dazu darin bestehen, sich selbst empathisch zu den entsprechenden Jugendlichen zu verhalten. Häufig wird unterschätzt, was es gerade für Jugendliche aus entsprechenden Lebenslagen bedeuten kann, ihnen mit echter Wertschätzung und Anerkennung zu begegnen. Wer spürt, dass andere ehrliches Interesse an einem haben, wird sich auch eher für die Befindlichkeiten anderer Menschen öffnen können. 
  • Hinzu kommt bei sich öfter aggressiv verhaltenden Jugendlichen, dass bestimmte gewalttätige Reaktionen sich zu festen Handlungsmustern ausgeprägt haben. In bestimmten Situationen stehen dann schlicht subjektiv keine besseren Handlungsalternativen zur Verfügung und die Dinge nehmen ihren gewohnten Lauf. Darum helfen bloße moralische Appelle zumeist nicht weiter. In solchen Fällen gibt es erneut professionelle Anti-Gewalt-Programme, die mit den Jugendlichen neue Lösungen für die alten, eingefahrenen Situationen erarbeiten und einüben. Dabei können schon simple Ausweichmöglichkeiten wie der Sport zu großen Veränderungen führen. Bei allem Training wird es aber von entscheidender Bedeutung sein, dass es durch eine gewisse Einsicht in die Problematik der Gewalt begleitet ist. D.h. einerseits die schon angedeutete Perspektivübernahme und andererseits ein Verständnis für die negativen Folgen des eigenen Handelns zu gewinnen. 
  • Wenn Gewalt bei Jugendlichen eher von einer bestimmten Gruppe herrührt (Typ 2 oder 3), kann auch hier angesetzt werden. Dies wird allerdings zumeist nur durch professionelle Sozialarbeit effektiv gelingen. Natürlich kann es im Extremfall auch geboten sein, Jugendliche gegen ihren Willen aus einer für sie gefährlichen Peergroup herauszuholen. Das kann aber für Eltern nur die letzte Lösung sein. Wenn ehrenamtliche Mitarbeiter in der Jugendarbeit solchen Fällen von gruppenmäßiger Jugendgewalt begegnen, dürfte der beste Weg in der Regel über die zuständigen Jugendämter oder Sozialeinrichtungen führen. 

2. Für mögliche Opfer

  • Klarerweise kann Gewalt ab einem gewissen Punkt nur noch durch Flucht oder größere Gewalt (z.B. in Form von Polizei oder mehreren Passanten, die Zivilcourage zeigen) verhindert werden. Als grundsätzliche Tendenz ist es immer als hilfreich, die Gewalt öffentlich zu machen. Auf der Straße kann das zum Beispiel bedeuten, Passanten anzusprechen und in die Situation mit einzubeziehen. Der Gewalt wohnt meist die Tendenz inne, den Grad an Öffentlichkeit und Sichtbarkeit zu begrenzen. Offenbar gibt es eine Art „Kalkulation der Gewalt“: Sieht sich der Täter einer zu großen Gegenmacht gegenüber, lässt er in vielen Fällen von seinem Opfer ab. 
  • Das gilt in abgewandelter Form auch für die „intimen“ Formen von Gewalt, wie sie in familiären oder pädagogischen Beziehungen vorkommen, insbesondere für sexuelle Gewalt. Sie ist häufig auch für das Opfer mit Tabus belegt. Darum trauen sich viele Opfer Jahre lang aus Gefühlen wie Scham oder gar Schuld nicht an die Öffentlichkeit. Dieses Tabu bildet für die allermeisten Täter aber die Grundlage ihrer Taten. Müssten sie damit rechnen, enttarnt zu werden, könnte mancher Übergriff verhindert werden. Gerade bei Fällen von sexuellem Missbrauch ist es darum entscheidend, dass das Schweigen gebrochen wird, um den Unheil ein Ende zu bereiten. Dazu können auch offene Augen seitens der Mitarbeiter in der Jugendarbeit ihren Beitrag leisten.
Eine häufig vergessene Dimension 
des christlichen Glaubens: 
Die Diakonie.
  • Zumindest in bestimmten Gegenden können auch Mitarbeiter in der Jugendarbeit Opfer von Gewalt werden. Wer dem häufiger ausgesetzt ist, tut möglicherweise gut daran, einmal an speziellen Kursen, etwa zur Mediation, teilzunehmen. Grundsätzlich dürfte die entscheidende Strategie im Umgang mit Gewalt hier darin bestehen, den entsprechenden Jugendlichen keine Gründe zur Gewalt zu bieten. Damit ist gemeint, dass die Gewaltbereiten sich ihr Opfer meistens erst subtil in Stellung bringen. Sie braucht in der Regel einen Anlass zur „Entmenschlichung“. So laufen etwa die Provokationen gegen Sozialarbeiter zumeist darauf hinaus, dass er den Jugendlichen einen 
  • Grund liefern soll, zuschlagen zu können. Das mögliche Opfer soll durch die Provokation selbst in die Rolle des Provokateurs gebracht werden, um der Gewalt einen Grund zu liefern. Wenn man es schafft, diese Versuche zu unterlaufen und die Jugendlichen konsequent auf einer menschlichen Ebene anzusprechen und sich nicht auf die Ebene des aggressiven Wortgefechte einzulassen, kann Gewalt zumindest eingedämmt werden. Dies zeigt sich schon daran, dass Sozialarbeiter im Durchschnitt wesentlich seltener Opfer von Gewalt werden als Polizisten. Diese begegnen den Jugendlichen nur in ihrer „entmenschlichten“ Rolle und geben darum ein leichteres Opfer ab.
  • Darüber hinaus ist natürlich ein gesundes Selbstbewusstsein der beste Schutz gegen Gewalt. In manchen Gegenden Deutschlands ist der Ruf „Du Opfer!“ ein beliebtes Schimpfwort. Es zeigt an, dass manche Jugendliche schon herumlaufen wie ein Opfer, ängstlich, mit hängenden Schultern, unsicher. Dieser Ausruf „Du Opfer!“ enthüllt damit zugleich auch die subtile Rechtfertigungsstrategie der Gewalttäter: Wer sich wie ein Opfer verhält, ist auch „zu Recht“ zum Opfer geworden. Schon von daher darf die pädagogische Bedeutung von gesundem Selbstbewusstsein in der Jugendarbeit nicht unterschätzt werden.

3. Auf gesellschaftlicher Ebene 

  • Gewalt von Jugendlichen hat in vielen Fällen auch gesellschaftliche Ursachen. Bestimmte Lebenslagen, die in hohem Maße mit Perspektivlosigkeit einhergehen, sind eine fruchtbarer Nährboden für Gewalt aller Art. Die Rechnung ist relativ einfach: Wer viel zu verlieren hat, wird auch seltener riskieren, durch Gewalt alles aufs Spiel zu setzen. Wer aber mit 18 schon nichts mehr vom Leben erwartet, für den ist unter Umständen der Weg zur Gewaltkarriere nicht mehr weit. Hier haben Christen auch politische Verantwortung. Sie können und sollten der Politik beharrlich die Frage stellen, was sie für all jene jungen Menschen tut, die ausgegrenzt und missachtet an den Rändern unserer Gesellschaft leben. 
  • Aber auch das weit verbreitete Wegsehen bei Gewalt ein gesellschaftliches Problem. Christliche Jugendarbeit hat die Chance, Jugendliche zu Zivilcourage und zu Verantwortung zu erziehen. Dabei geht es nicht darum, sich zu den moralischen Wächtern der Gesellschaft aufzuspielen, aber darum, hinzusehen und zu helfen, wenn Menschen unter Gewalt und gewalttätigen Verhältnissen leiden. 
  • Das wiederum berührt eine in unseren durchschnittlichen Gemeindejugendgruppen häufig vergessene Dimension des christlichen Glaubens: die Diakonie. Die Empathie und die Öffnung für den Nächsten, von der vorher die Rede war, sollte sich nach neutestamentlichem Verständnis nicht nur auf all die Menschen beschränken, mit denen wir in unseren angenehmen christlichen Gruppen und Kreisen sowieso gerne zu tun haben. Oder wie Jesus in der schon zitierten Bergpredigt sagte: „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Mat 5,44-45)

Buchtipps zum Weiterlesen

Thomas Hax-Schoppenhorst

Rempler, Mobber, Steinewerfer: 

Gewalt an Schulen und Möglichkeiten der Überwindung

Neukirchner Verlag 2008, 143 Seiten

12,90€

Eine schöne Einführung ins Thema Gewalt an der Schule stammt von Thomas Hax-Schoppenhorst. Er schildert wesentliche Erklärungsansätze aus Soziologie, Psychologie und Pädagogik. Das gelingt ihm auf eine leicht zugängliche und durch Beispiele aufgelockerte Weise. Die Stärken dieses Buches liegen vor allem darin, plastisch vor Augen zu führen, wie Gewalt an Schulen entsteht und verläuft. Das Ziel des Buches ist es dabei nicht, ganz konkrete Handlungskonzepte im Detail zu entfalten. Das wäre aber auch mehr als man von einem kleinen Büchlein wie diesem erwarten kann. Und meistens ist ein tieferes Verständnis des Problems ohnehin die beste Lösung dafür. 

Jan Philipp Reemtsma

Vertrauen und Gewalt: 

Versuch über eine Konstellation der Moderne

Neuausgabe Pantheon Verlag 2009, 575 Seiten

14,95€

Jan Philipp Reemtsma, Professor für Literaturwissenschaft in Hamburg und Gründer des Instituts für Sozialforschung ebendort, legt mit diesem Buch so etwas wie die Summe seiner jahrelangen Beschäftigung mit dem Thema Gewalt vor. 1996 selbst Opfer einer Entführung, ist er seitdem mit zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema  in Erscheinung getreten. So wird auch denen, die Teile seiner älteren Werke kennen, manches bekannt vorkommen. Neu ist aber allemal die Gesamtschau, in der Reemtsma das besondere Verhältnis von Vertrauen und Gewalt in der Moderne durchdringt. Damit füllt er tatsächlich eine Lücke, die lange in der Fachwelt klaffte. Auch wenn die Struktur des Buches an manchen Stellen etwas eklektisch wirkt, wird wohl niemand dieses Buch ohne Gewinn lesen können. 

Ferdinand Sutterlüty

Gewaltkarrieren: 

Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung

Campus Verlag, 2. Aufl. 2003, 381 Seiten

24,90€

Das Buch Gewaltkarrieren von F. Sutterlüty geht zurück auf seine Berlinder soziologische Dissertation aus dem Jahr 2000. Doktorarbeiten büßen manchmal die Gewinne, die sie durch Gründlichkeit erzielen, in Sachen Lesbarkeit wieder ein. Das bei diesem Buch keineswegs der Fall. Sutterlüty geht nämlich der Frage nach, wie Gewalt bei Jugendlichen abläuft. Dazu führt er Interviews, die – zusammen mit Sutterlütys feinfühligen Interpretationen – an Eindrücklichkeit Ihresgleichen suchen. Dieses Buch ist eine wahre Fundgrube für alle die sich mit dem Thema Gewalt bei Jugendlichen befassen wollen – und die dabei vor allem nach authentischen Schilderungen der Innenperspektive suchen. Ein Vorgeschmack: Der Jugendliche Kai berichtet: „Und da kam auch der Piepel, der hat mich, hat mich blöde angemacht, hab ick ihn einfach nur verdroschen. War bloß noch det eene Auge intakt, det hier. Jo-jo. Det Auge halt war intakt gewesen, der Rest war allet dick und blau und völlig verhunzt war det. Pech gehabt, der war zur falschen Zeit, zum falschen Moment am falschen Ort also. Dann bin ick richtig ausgeklinkt, hab ick ne halbe Stunde auf ihn eingedroschen, eingetreten, eingedroschen. War einfahch bloß n schönet Gefühl gewesen, irgendwo. Sich mal sein Frust abzubauen, na ja, weeß ick nicht, Schmerzen zu verteilen. Irgendwo, wat weeß ick, n perverse Ader von mir, oder so, hhf. Fand’s halt irgendwie geil, da zu sehen, wat man mit so m Menschen allet machen kann so. Genau.“ (72f.)

René Girard

Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz: Eine kritische Apologie des Christentums

Neuausgabe Verlag d. Weltreligionen 2008, 254 S. 12,00€

René Girard, geboren 1923 in Avignon, emeritierter Professor für Literatur und Kultur in Stanford, ist mit sicherheit einer der faszinierendsten ›Apologeten‹ des Christentums. Auch wenn man ihm nicht immer zustimmen mag, sind seine Reflexionen über das Christemtum und die Gewalt doch stets überaus anregend zu lesen. Er entwickelt eine anthropologische Theorie der Gewalt: Durch Nachahmung (Mimesis) kommt es ständig zu Gewalteskalationen, die in der Geschichte der Menschheit fast durchgängig gelöst werden, indem ein Sündenbock auserkoren wird, an dem sich die aggresiven Energien entladen können. Allein das Christen-tum habe nach Girard diesen Mechanismus der Gewalt durch-schaut und an sein Ende gebracht, indem das Opfer, Christus, hier ganz unschuldig ist. In diesem Zusammenhang insistiert Girard da-rauf, dass der Satan, als Verkörperung der Gewalt, kein verzichtbarer mythologischer Rest, sondern Kernbestandteil desjenigen Christentums ist, das die Gewalt überwindet. 

Tobias Braune-Krickau

Endnoten

  • 1
    Einen guten Zugang zum Original bietet die von J. Schlösser und H. Klenner besorgte Ausgabe Thomas Hobbes (1651), Leviathan oder: Die Materie, Form und Macht eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens, Hamburg: Meiner, 2005. Eine schöne Nacherzählung frindet man bei Sofsky, Wolfgang (2005), Traktat über die Gewalt, Neuausg., Frankfurt a.M.: Fischer, S. 7-26. 
  • 2
    Siehe dazu jene beinahe schon klassische Schilderung, die bis heute nichts von ihrer Eindringlichkeit verloren hat: Foucault, Michel (1977), Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses, Neuausg., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1994. 
  • 3
    Reemtsma, Jan Philipp (2008), Vertrauen und Gewalt: Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Neuausg., München: Pantheon, 2009. 
  • 4
    Ebd., S. 325.
  • 5
    Ebd., S. 98.
  • 6
    Vgl. zum Thema den Newsletter Nr. 1/März 2008 von Monika Jotter und Tobias Braune-Krickau: Online unter www.wert-voll.info
  • 7
    Wie sehr totalitäre Systeme wie die Nazidiktatur oder auch die ehemalige DDR auf diesem Zusammenhang von ›Masse und Macht‹ gründen, liegt auf der Hand. Die Vielschichtigkeit dieses Phänomens scheint mir immer noch unübertroffen geschildet von Canetti, Elias (1960), Masse und Macht, Neuausg., 30. Aufl., Frankfurt a.M.: Fischer. 
  • 8
    Zum Thema Hooligans ist der gleichnamige Film von Lexi Alexander aus dem Jahr 2005 mit Eliah Wood und Charlie Hunnam in den Hauptrollen, ausgesprochen sehenswert.
  • 9
    Diesen ganzen Zusammenhang kann man sich sehr schön an dem Buch Die Welle von Morton Rhue (1981; dt: 1984) oder ihrer Verfilmung (2008; von Dennis Gansel, mit Jürgen Vogel in der Hauptrolle) klarmachen. 
  • 10
    Ferdinand Sutterlüty hat in seinem überaus bemerkenswerten Buch (2002), Gewaltkarrieren: Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung, 2. Aufl., Frankfurt a.M.: Campus, 2003 lange Interviews mit jugendlichen Intensivtätern geführt. Besonders erschüttern die Schilderungen über die Entgrenzung der Gewalt aus der Innenperspektive der Täter. 
  • 11
    Popitz, Heinrich (1992), Phänomene der Macht, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 44.