Christsein und Freizeitkultur
Freizeit - "Supersymbol der Moderne"
Einleitung
Das Phänomen Freizeit hat in den letzten Jahrzehnten enorm an Bedeutung gewonnen. Soziologen sprechen von dem „zentrale[n] Thema der Gegenwart“ oder dem „Supersymbol der Moderne“. Der Freizeitmarkt boomt: 2013 gaben die Deutschen im Bereich „Freizeit, Unterhaltung und Kultur“ 143,5 Mrd. Euro aus. 1995 waren es noch 94 Mrd.1https://de.statista.com/statistik/faktenbuch/306/a/branche-industrie-markt/sonstige/freizeitwirtschaft/ (leider nicht mehr online verfügbar). Damit zählt der Freizeitbereich ökonomisch gesehen zu den dynamischsten und größten Bereichen des deutschen Wirtschaftssystems. Eine andere wichtige Beobachtung gibt es auf dem Arbeitsmarkt: Für die neue Jungen-Erwachsenen-Generation, auch „Generation Y“ genannt, zählt Freizeit als Statussymbol: Während ihre Eltern (die sog. Babyboomer) ihr Augenmerk auf Arbeit und Leistung gelegt haben, setzen sich die heutigen jungen Berufseinsteiger vor ihrem Chef für eine freizeitfreundliche Work-Life-Balance ein. Hobbies, Freunde, Familie und Reisen dürfen nicht zu kurz kommen.2https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/buero-co/2.3113/generationy-freizeit-als-statussymbol-12212620.html
Im Folgenden möchte ich mich vor diesem Hintergrund folgenden Fragen zuwenden:
- Was sind die Merkmale der heutigen Freizeitkultur in Deutschland?
- Welche allgemeinen und praktischen Prinzipien lassen sich von der Bibel herleiten, um im deutschen Kontext Freizeit so zu leben, wie Gott sie sich für uns gedacht hat?
I. Freizeitkultur: Wie sie entstand und was sie umfasst
1.1 Begriffliche Klärungen
Der Begriff „Kultur“ lässt sich am einfachsten fassen, wenn wir ihn der Natur gegenüberstellen: Steht die Natur für die unbearbeitete, nicht vom Menschen geschaffene Welt, so verwenden wir Kultur für die vom Menschen selbst geschaffene und bearbeitete Welt. Im weitesten Sinne beinhaltet Kultur also alles, was der Mensch mit seinen geistigen und physischen Mitteln kreiert.3Vgl. Crouch, Culture Making, S.22ff. Dabei ist auch an Vorstellungen, Eigenschaften und Gewohnheiten gedacht, die sich der Mensch als Mitglied der Gesellschaft angeeignet hat.4Vgl. Vanhoozer, “What is Everyday Theology?”, S. 24. In dieses komplexe Ganze lassen sich auch Freizeitgewohnheiten und –verhalten einordnen.
Der Begriff „Freizeit“ ist eingehend erforscht.5Vgl. Prahl, Soziologie der Freizeit, S. 28. Zum Konzept Freizeit gehören auf jeden Fall diese drei Aspekte:
- Frei verfügbare Zeit, die nicht unter dem Zwang einer Verpflichtung oder Notwendigkeit steht (z.B. Erwerbsarbeit)
- Bestimmte Aktivitäten wie z.B. kulturelle Beschäftigungen (Lesen eines Buches, Konzertbesuch, Museumsbesuch), Erholung (Sport, Urlaub, Gesellschaftsspiele), Unterhaltung (Fernsehen, Radio, Zeitschriften) sowie Hobbies (etwas sammeln, am Auto herumbasteln, Gartenarbeit, Fotografie) und soziale Aktivitäten (Freunde oder Verwandte treffen, Ausgehen, Familienpicknick).
- Ein Gemüts- oder Seelenzustand der Zufriedenheit, des Genusses, des Feierns. Hier wird Freizeit nicht zeitlich oder als Aktivität verstanden, sondern als Qualität, die durch eine bewusste positive Weltwahrnehmung erreicht wird.6Vgl. Ryken, Work and Leisure, S. 28ff.
Eine trennscharfe Abgrenzung der Freizeit von anderen Lebensbereichen ist nicht möglich. Immer wieder gibt es Überlappungen, weshalb es Aktivitäten gibt, die sich der „Semi-Freizeit“ zuordnen lassen. Dabei handelt es sich um solche Aktivitäten, die wir mit Dingen verbringen, „die wir sowohl tun wollen als auch sollen, z.B. Gottesdienstbesuche oder ehrenamtliche Mitarbeit in der Kirche oder in einem Tierverein sowie das Lesen, um informiert zu sein.“7Packer, „Leisure and Life-Style”, S.362f. Diese Aktivitäten gehören einerseits zu unserer Freizeit, andererseits wählen wir sie aber nicht um unser selbst willen, sondern sehen in ihnen einen Sinn, der über den Augenblick der Aktivität selbst hinausreicht, z.B. darin, Gott zu ehren.
1.2 Geschichtliche Perspektiven
In der Geschichte lassen sich Perioden der „Aufwertung“ von solchen der „Abwertung“ von Freizeit unterscheiden. Eine starke Aufwertung von Freizeit ist für die Epoche von der Antike bis zum Ende des Mittelalters charakteristisch. Eine Abwertung mit Beginn der Neuzeit (ab dem 15./16.Jh.). Im antiken Griechenland war die Muße das Gegenstück von Arbeit und eine Vorform unseres heutigen Konzeptes von Freizeit. Das griechische Freizeitkonzept der Muße betont vor allem eine geistig-innerliche Tätigkeit, für Aristoteles besteht sie in „Musik“ und „Kontemplation“. Unter Kon-templation (die gleichbedeutend mit dem Leben in Muße ist) verstand Aristoteles die ruhige, absichtslose Betrachtung der Welt, durch die der Mensch zur Erkenntis des ‚Wahren‘, ‚Guten‘ und ‚Schöne‘ gelangte.8Vgl. Lippl, Bedeutung der Freizeit, S. 35. Die Muße war in der antiken Kultur das höchste Gut und der körperlichen Arbeit an Wichtigkeit und Qualität überlegen. Arbeit war eines „freien Bürgers“, der an der Spitze der Gesellschaftshierarchie stand, unwürdig und ein lästiges Übel.
Das griechische Ideal von Freizeit in Form der Muße für die herrschende Klasse lebte in der römischen Kultur unter der Bezeichnung „Otium“ weiter. In gleicher Weise wurde aus römischer Perspektive Muße bzw. Otium der Arbeit als überlegen angesehen. Im Mittelalter setzte sich diese Priorisierung fort. Thomas von Aquin (1225-1274) unterschied zwischen einem kontemplativen („vita contemplativa“) und einem aktiven Leben („vita activa“). Ersteres sei mit dem Göttlichen und Ewigen verbunden und deswegen höher zu achten. Letzteres habe mit der Arbeit für die Notwendigkeiten des irdischen Lebens zu tun und sei deswegen unbedeutender.9Vgl. Heintzmann, Leisure and Spirituality, S. 66.
Mit dem Beginn der Neuzeit wandelt sich das Verhältnis von Freizeit und Arbeit grundsätzlich. Die Muße „wird immer mehr als Müßiggang angesehen und geradezu verurteilt. Hingegen wird die Arbeit als das in sich Wertvolle betrachtet.“10Lippl, Bedeutung der Freizeit, S. 41. Hier zeigt sich der Einfluss der Renaissance, die von einer neuen Hinwendung zu den menschlich-gestalterischen Fähigkeiten geprägt war. Nicht nur die Kunst, sondern auch die Naturwissenschaften und handwerklichen Fähigkeiten wurden neu in den Blick genommen. Die Kontemplation über Gott und die Welt rückte in den Hintergrund und Freizeit diente als Mittel zum Zweck: man erholte sich, um wieder arbeiten zu können.11Ebd., S.44. Reformatoren wie Luther und Calvin verstärkten diese Sichtweise zusätzlich. Luther förderte sie, indem er den weltlichen Beruf („vita activa“) in seiner Bedeutung vor Gott mit den geistlichen, klerikalen Tätigkeiten gleichsetzte und somit aufwertete. Der Calvinismus betonte zusätzlich die Notwendigkeit, die Erwählung Gottes in äußerer Frömmigkeit zu beweisen sowie darin Gott zu verherrlichen. Diese sichtbare Frömmigkeit müsse sich auch im alltäglichen Arbeitsleben zeigen.12Vgl. Heintzmann, Leisure and Spirituality, S.71ff. „Zugleich wurde Muße als ‚Müßiggang‘ oder ‚Trägheit‘ diffamiert.“13Prahl, Soziologie der Freizeit, S. 94.
Die in der Geschichte stärkste Gewichtung erhielt Arbeit mit Beginn der Moderne. Mit dem Aufkommen der kapitalistischen Produktionsweise und der industriellen Revolution erhielt die Arbeit einen neuen, höheren Stellenwert: Sie wurde „zur Sucht, zumindest aber zur Ersatzreligion“.14Ebd., S.99. Mitte des 19. Jhs. lag die wöchentliche Arbeitszeit eines Fabrikarbeiters bei 80-90 Stunden. Zwischen 1860 und 1930 reduzierte sie sich deutlich auf ca. 40-45 Stunden.15Vgl. ebd., 100f. Diese Entwicklung setzte sich mit leichten Schwankungen fort, sodass die Erwerbsarbeit in Deutschland heute im Durchschnitt bei 35 Stunden pro Woche liegt.16https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/QualitaetArbeit/Dimension3/3_1_WoechentlicheArbeitszeit.html Die Reduzierung der Arbeitszeit sowie die Steigerung des allgemeinen Lebensniveaus durch das „deutsche Wirtschaftswunder“ der 50er und 60er Jahre sind die entscheidende Voraussetzung dafür, dass sich eine ausgeprägte Freizeitkultur und ein kommerzieller Freizeitmarkt herausbilden konnten. Damit einhergehend wächst das Bewusstsein für den Eigenwert von Freizeit. Sie wird von vielen mit individueller Selbstfindung und Selbstverwirklichung verbunden.17Vgl. Heintzmann, Leisure and Spirituality, S. 78. Weil jedoch auch die Arbeit der Selbstverwirklichung dient, werden Freizeit und Arbeit nicht mehr so sehr als Kontraste gesehen. Beide gelten als Gestaltungs- und Entfaltungsmöglichkeit für ein erfülltes Leben.18Vgl. Lippl, Bedeutung der Freizeit, S. 84ff.
Ein weiteres in der Gegenwart zu beobachtendes Phänomen ist „Freizeitstress“. Dieser Stress entsteht an der Vielzahl von Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten, die unsere globalisierte, technisierte und kommerzialisierte westliche Gesellschaft der Gegenwart bietet („Multioptionalität“). Außerdem ist zu beobachten, dass Freizeit „zunehmend unter den Kriterien von Leistung und Pflicht“ bzw. „zunehmend unter kollektivem Leistungsdruck“ steht.19Ebd., S.92. Das Freizeitverhalten „spaltet die Menschen in Statusgruppen“ und bestimmt daher über Ansehen und Prestige.20Ebd. Dadurch ist Freizeit zu einem entscheidenden Identitätsfaktor geworden. Der dritte Stressor in Bezug auf Freizeit ist der gesellschaftliche Trend zum „ständigen Erlebnis“.21Ebd., S. 109. Unter anderem durch die fortschreitende Säkularisierung hat die religiöse und jenseitige Glückserfüllung an Bedeutung verloren, wohingegen das materielle Diesseits immer mehr als alleiniger Garant für Hoffnung und Glück gilt.22Vgl. Schulze, Erlebnisgesellschaft, S. 14. Hartmut Rosa spricht beim Erlebnisdruck von „säkularem Ewigkeitsersatz“ (http://www.zeit.de/2006/05/ST-Beschleunigung/seite-2). Nicht sinnvoll genutzte Freizeit oder Langeweile sind mit der Angst verbunden, etwas Wichtiges zu verpassen.23Dieses Lebensgefühl wird in den Medien auch „FOMO“ genannt („Fear of Missing Out“). Gemeint ist die Angst, ein bestimmtes Event, eine bestimmte Party, ein bestimmtes Erlebnis oder eine bestimmte Information zu verpassen, sodass man nicht mehr Teil des wichtigen sozialen Geschehens zu sein scheint. Diese Sorge wird aufgrund der modernen Technologien wie Mobiltelefonen und sozialen Netzwerken verschärft.
1.3 Freizeitbereiche
Laut dem Freizeitmonitor 2016 lassen sich die in Deutschland gängigen Freizeitaktivitäten in drei Bereiche aufteilen:24https://www.stiftungfuerzukunftsfragen.de/forschung-aktuell-269-37-jg-25-08-2016/
- Mediennutzung: Dazu gehören einmal die klassischen Medienformate wie Fernsehen, Radio hören, Telefonieren oder Zeitung lesen sowie die neueren Formate wie Internet und Smartphone.
- Erholung: Dazu gehören passive Beschäftigungen wie Ausschlafen, Faulenzen oder den eigenen Gedanken nachhängen, zumeist als Ausgleich zur Arbeit.
- Kontaktpflege: Man sucht die gemeinsame Zeit mit dem Partner, der Familie und Freunden.
Aus einer anderen Perspektive lässt sich Freizeitverhalten in drei Schemata gliedern:25Vgl. Schulze, Erlebnisgesellschaft, S. 142ff.
- Das Hochkulturschema zeichnet sich durch Aktivitäten aus wie z.B. „gute“ Bücher lesen, Museumsbesuche, Nachdenken, Diskutieren, klassische Musik hören. Das Genussschema lautet „Kontemplation“, eine Zurücknahme des Körpers und der Zustand der Ruhe.
- Das Trivialschema bedient sich typischer Zeichen wie dem Arztroman, dem Kitsch, der Schnulze, Rührseligkeit und Spießigkeit, Royalty-Klatsch, Blasmusik und Bierseligkeit. Das Genussschema lautet „Gemütlichkeit“.
- Das dritte und jüngste Paradigma lautet Spannungsschema, welches vorwiegend in der Massenkultur vorherrscht. Kennzeichnende Elemente sind Rockmusik, Popmusik, Diskotheken, Spielhallen, Kinos, Fernsehen, Telefon, Musikhören. Dabei wird in der Regel individuelle Freiheit, Aggressivität, Tempo, Action und Lautstärke gesucht werden. Das Genussschema kann als "Action" bezeichnet werden. Das Individuum sucht Action bzw. immer wieder neue Erlebnisse.26Man könnte ersteres und letzteres Schema mit der geläufigen Abgrenzung von Hochkultur und Popkultur in Zusammenhang bringen.
II. Christen und die Kultur
Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, dass Freizeitvorstellungen und -aktivitäten zu unserer deutschen Kultur gehören. Wie stellen wir uns als Christen dazu? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns allgemein mit dem Verhältnis Christ und Kultur beschäftigen. Vier theologische Konzepte können uns dabei helfen.
2.1 (Gefallene) Schöpfung
Im Schöpfungsbericht (1. Mose 1,28) erhalten die Menschen den Auftrag, sich die Erde „untertan“ zu machen und zu „beherrschet“. Man spricht heute vom „Kulturmandat“. Der Mensch soll die eigenen geschenkten Fähigkeiten und die natürlichen Ressourcen der sie umgebenden Welt dazu nutzen, um „Kultur“ zu schaffen.
Durch den Sündenfall (1.Mose 3,1ff) änderte sich nicht dieser Auftrag, wohl aber der Mensch als Auftragsempfänger. Auf die bewusste Übertretung von Gottes Gebot folgt eine Verblendung: Der Mensch, der sich an die Stelle Gottes setzt, verliert Maß und Ziel, was sich in destruktiven Einstellungen und Handlungsweisen zeigt. Darunter fällt z.B. die Neigung, das Kulturmandat zu missbrauchen, indem er in Gier, Stolz, Hybris und Machtversessenheit Gottes Welt ausbeutet und seine Mitmenschen unterdrückt. Das bedeutet, dass es vom Schöpfungsbericht her ein ambivalentes Verhältnis zu Kultur gibt: Sie gehört zu den Schöpfergaben, die zu gestalten dem Menschen aufgetragen ist und ist insofern positiv zu sehen. Zugleich ist die Kultur immer von der menschlichen Sünde imprägniert und bedarf der Reinigung und Erneuerung durch Gott.27Vgl. Waltke, An Old Testament Theology, S. 220f.
2.2 Allgemeine Gnade
Der Mensch bleibt auch als Sünder Gottes Ebenbild. Ihm verbleibt die Berufung und Befähigung, das Kulturmandat als Repräsentant Gottes auf Erden auszuüben, wenn dem Menschen das aufgrund der Sünde auch nur noch in eingeschränkter Weise möglich ist. Theologen bezeichnen dies als die „allgemeine Gnade“. Sie zeigt sich darin, dass Gott gütig und großzügig gegenüber allen Menschen ist (Ps 145,9; Mt 5,44-45; Apg 14,16-17), was sich in den geistigen, moralischen und kreativen Fähigkeiten aller Menschen manifestiert. Ein Beispiel dafür sind wissenschaftliche und künstlerisch-kreative Errungenschaften und Leistungen von Menschen, die den Gott Israels und Vater Jesu Christi nicht kennen.
2.3 Kultur als Brücke zu den Mitmenschen
Einen wichtigen positiven Zugang zu menschlicher Kultur finden wir bei Paulus. Er berichtet in 1.Kor 9,20ff davon, dass er sich aus missionarischen Gründen kulturflexibel verhalten hat. Er kann sich in nicht heilsrelevanten und moralisch neutralen Fragen an die Sitten und Gebräuche der Juden oder der Heiden anpassen, um Kontaktflächen mit den Menschen zugunsten seiner Evangeliumsverkündigung zu bilden, also je nach Kontext z.B. die jüdischen Speisegebote einhalten oder nicht. Paulus „stimmt sein Leben auf das ab, was der Förderung des Evangeliums dient, was die Akzeptanz der Botschaft von Jesus Christus erhöhen kann und was Menschen zum rettenden Glauben an Jesus Christus verhelfen könnte“.28Schnabel, Korinther, S. 510. An Paulus sehen wir: Wir sollten uns an kulturelle Strukturen unserer Mitmenschen anpassen, um Beziehungen zu bauen und sie mit dem Evangelium zu erreichen, sofern diese Strukturen nicht dem biblischen Maßstab widersprechen.
2.4 Die Menschwerdung Gottes
Das paulinische Prinzip der Kulturanpassung zeigt sich par excellence in der Menschwerdung des Gottessohnes, der die himmlische Sphäre verlässt, um in einer konkreten Kultur Mensch zu werden, und zwar mit dem Ziel, seinen Geschöpfen Vergebung der Sünden und Erlösung anzubieten (Joh 1,14; vgl. Hebr 2,14). Die Kultur, in die Jesus hineingeboren wurde, ist die jüdische Kultur im Palästina des 1.Jahrhunderts. Er sprach die dortige Sprache, nahm die typischen Gebräuche an, lebte in den gewöhnlichen sozialen Strukturen und lernte den Beruf eines Zimmermanns (Mk 6,3). Man kann zudem beobachten, dass Jesus sich an auch heute typischen „Freizeitaktivitäten“ beteiligt hat, man denke an soziale Zusammenkünfte wie Hochzeiten (Joh 2,1ff), gemeinsame Mahlzeiten (Mt 9,10) sowie an religiöse Traditionen wie Feste und Wallfahrten (Lk 2,21ff). Die Menschwerdung Jesu legt ein bejahendes Verhältnis zu menschlicher Kultur nahe, das sich nicht auf die jüdische Kultur beschränkt (vgl. Joh 10,16).
Das christliche Verhältnis zu Kultur fällt also differenziert aus: Kultur kann, positiv gestaltet, Menschen verbinden und das Evangelium kommunizieren, ist insofern etwas Gutes und Gottgewolltes. Gleichzeitig ist sie von der menschlichen Sünde durchzogen und zeigt zerstörerische, von Gott wegführende Facetten.
III. Christen und die Freizeitkultur
3.1 Anthropologische Bestimmung des Menschen
Der Mensch ist dasjenige Geschöpf, das spielen und sich am Spiel freuen kann. Das „Spiel“ ist eine wichtige Grundlage der menschlichen Existenz und Kultur.29Vgl. Huizinga, Homo Ludens. Mit „Spiel“ ist dabei vor allem eine Beschäftigung der Unterhaltung und des Vergnügens gemeint, die das gewöhnliche (Arbeits) Leben unterbricht und dem Menschen dadurch Entspannung und Erholung verschafft. Der Mensch ist von Natur aus ein „spielendes Wesen“ (homo ludens). Dieses Wesensmerkmal ist zeit- und kulturübergreifend zu beobachten: „In der gesamten Menschheitsgeschichte wurden Spiel und Spaß, Unterhaltung und Amüsement in allen Gesellschaftsschichten gepflegt.“30Prahl, Soziologie der Freizeit, S. 95 Das spielerische Element ist heutzutage durch die Ausrichtung unserer Gesellschaft auf den ökonomischen Nutzen der menschlichen Lebenszeit gefährdet (homo oeconomicus).31Vgl. Hüter/Quarch, Rettet das Spiel, S. 7ff.
Um dem menschlichen Grundbedürfnis des Spiels gerecht zu werden, ist Freizeit wichtig. Sie entlastet und ist der Ort, „an dem der Mensch spielerisch seinen Neigungen, Hobbies und sonstigen kreativen Potentialen nachgehen kann und sich tatkräftig verwirklicht.“32Lippl, Bedeutung der Freizeit, S. 120. Das Bedürfnis nach Spiel, Spaß und Unterhaltung lässt sich im Anschluss an Hausmanninger in vier verschiedene Kategorien aufteilen, die an das Konzept delectatio („Vergnügen“) von Thomas von Aquin angelehnt sind:33Vgl. ebd, S. 121f.
- Die erste Form des Vergnügens ist die delectatio sensibilis. Danach empfindet der Mensch grundsätzlich und bereits zu Beginn seiner Entwicklung Vergnügen an der Funktion seines eigenen Körpers. Motorische Aktivitäten oder die körperlich-sinnliche Wahrnehmung können Lust erzeugen, man denke an Reisen oder sportliche Aktivitäten.
- Die delectatio emotionalis meint das lustvolle Erleben durch Gefühle. Es ist charakteristisch für den Menschen, dass er aktiv auf seine Umgebung einwirkt und sich gezielt Situationen aussetzt, um bestimmte Gefühle hervorzurufen. Solche Gefühle sind Horror und Nervenkitzel oder Liebe und Romantik.
- Der Mensch als rationales Wesen empfindet drittens Lust „an der Kognition, am Erwerben und Haben von Wissen sowie der dabei geschehenen Betätigung und Differenzierung des logischen, begriffsbildenden Vermögens.“34Zitiert nach ebd., S. 121. Diese Form von Vergnügen nennt Hausmanninger delectatio cognitionis.
- Die vierte Form ist die delectatio reflexiva. Diese beschreibt die Lust, die mit der menschlichen Fähigkeit der Selbstreflexion verbunden ist. Der Mensch hat also zusätzliche Lust daran, wenn er „seine eigene Aktivität und Lust beobachtet und darüber reflektiert.“35Ebd.
3.2 Theologische Orientierung
Die oben angeführten Aspekte weisen auf die Wichtigkeit hin, dass herkömmliche Alltagsstrukturen unterbrochen werden und Entlastung vom regelmäßigen, durchaus mühevollen Arbeitsleben erfolgt. In der Bibel finden sich Motive, Konzepte und Prinzipien, die diesen anthropologischen Befund bestätigen.
„Ruhe“ als Schöpfungsordnung und letztes Ziel
Im Schöpfungsbericht finden wir das wichtigste und grundlegendste Motiv für eine christliche Sicht von Freizeit: Gott „arbeitet“ an sechs Tagen, indem er das Universum und unsere Welt schafft, woraufhin er am siebten Tag „ruht“ (Gen 2,2-3). Diese Ordnung entspricht nicht nur der Natur Gottes, sondern wird als kosmische Ordnung etabliert,36Vgl. Ex 23,12; 31,17; Deut 5,14. die dem gebotenen Lebensrhythmus des Menschen entspricht und im Sabbatgebot an das Volk Israel unter dem mosaischen Bund Ausdruck findet (Ex 20,8-11). Sechs Tage Arbeit sollen immer unterbrochen werden mit einem abgesonderten Tag der Ruhe. Da die Israeliten vorwiegend bäuerliche Arbeitsstrukturen hatten, war diese Ordnung von existentieller Bedeutung, insofern ein Teil dessen, was über die elementare Lebenssicherung hinaus erzeugt wurde, dazu verwendet wurde, Ruhe und Erholung zu finden.37Vgl. Crüsemann, „Sabbat“, S. 491. Menschsein erschöpft sich also nicht in Arbeit oder – noch enger – dem Streben nach maximalem Gewinn, sondern schließt auch die Berufung ein, sich in seinem geschäftigen Treiben unterbrechen zu lassen. Im Neuen Testament bestätigt Jesus die Notwendigkeit der Unterbrechung einer alltäglichen Geschäftigkeit und bekräftigt damit den Erholungsaspekt der alttestamentlichen Schöpfungsordnung (Mk 6,30-32), wogegen die Not des Nächsten wiederum eine Unterbrechung der Ruhe rechtfertigt (Mk 2,23-28).
Die rhythmische Unterbrechung des Lebens ist von Gott geschenkte und gefüllte Zeit. Körperliche und geistige Erholung ist nur ein „vorletztes“ (wenn auch wichtiges) Ziel. Ihre tiefste Bedeutung finden der Sabbat bzw. die Freizeit jedoch „im Kontext der Beziehung zu Gott.“38Ebd., S. 97. Nach Ex 20,8 soll Israel den siebten Tag „heiligen“, also ihn für Gott aussondern.39Vgl. Waltke, Old Testament Theology, S. 420. Anders gesagt: Das Volk soll Gott als den Schöpfer durch Anbetung ehren,40Vgl. Packer, „Leisure and Life-Style“, S. 363. die eigene Erlösung durch Gottes Eingreifen feiern (vgl. Deut 5,12-15; Jes 58,13-14) oder sich an Gottes Schöpfungsgaben erfreuen.41Vgl. Heintzmann, Leisure and Spirituality, S. 93.
Im Neuen Testament wird diese geistliche Dimension des Sabbats weitergeführt. Dort führt eine Linie über die von Gott gefüllte zur von Gott erfüllten Zeit. Sie wird als ultimative Sabbatruhe in der Beziehung zu Gott durch Jesus Christus beschrieben (Hebr 4,9; Mt 11,28), die Frieden (Joh 16,33; 14,27), erfülltes Leben (Joh 10,10) und Freiheit bringt (Joh 8,32). Das von Gott bestimmte Ziel des Menschen ist also letztendlich nicht Arbeit, sondern die Ruhe in Gott durch Jesus Christus (Offb 14,13).
So setzt die Sabbattheologie der Bibel wichtige Impulse für das Verstehen des modernen Konzepts Freizeit. Zu der von Gott gefüllten Unterbrechung des Alltags gehören einerseits Aktivitäten, die einen erholsamen Ausgleich schaffen, oder aber auch zweckfreies Nichtstun vor dem Hintergrund eines belastenden Arbeitslebens. Andererseits ermöglicht die Unterbrechung, sich auf Gott auszurichten. So gesehen bedeutet Ruhe nicht Untätigkeit, sondern ein bewusstes sich Einstimmen auf Gottes dem Menschen zugedachten Lebensrhythmus, was ein Tun implizieren kann (z.B. die Teilnahme an Gemeinde- oder Kirchenveranstaltungen oder Hilfeleistungen für einen Menschen in Not), oder auch das Suchen von Stille und Hören auf Gott.
Legitimität von Freude und Vergnügen
Die christliche Theologie hat die Freizeit nicht immer positiv bewertet. Gründe dafür sind das Ideal des Asketismus oder die Betonung der Selbstverleugnung.42Vgl. Ryken, Work and Leisure, S.191. Dies führte dazu, dass Freude und Vergnügen skeptisch beäugt oder gar abgelehnt wurden.
Die Bibel spricht jedoch positiv von Freude und Vergnügen, da Gott ein positives Verhältnis zu dem hat, was er geschaffen hat. Er freut sich z.B. an seiner „sehr guten“ Schöpfung (Gen 1,31) oder an Menschen, die zu ihm umkehren (Lk 15,11-32) und ihn ehren (Ps 149,4). Genuss, Freude und Vergnügen gehören dann auch „zu Gottes Plan für die Menschheit.“43Packer, „Leisure and Life-Style“, S. 364. Nach dem Sündenfall ist es Gottes Ziel für den Menschen, den Menschen durch die Erlösung in Jesus Christus zum göttlichen „Schalom“ zu führen, wo alle menschlichen Bedürfnisse ihre Erfüllung finden (Offb 7,16-17; 21,1ff).
Doch auch zwischen Sündenfall und vollendeter Erlösung und Wiederherstellung finden wir das Motiv, dass Gott dem Menschen Vergnügen und Freude schenken möchte, und zwar durch die Verbindung zu ihm (Ps 36,8; Phil 4,4) sowie durch seine Schöpfungsgaben. Das Buch Prediger nennt z.B. Essen und Trinken (Pred 2,24; 3,11-13; 9,7), Erotik und Liebe (Pred 9,9) sowie Geld und Besitz (Pred 5,18-19). Dieses positive Verhältnis in Bezug auf Gottes Schöpfungsgaben setzt sich im Neuen Testament fort. In 1.Tim 6,17 ist Gott der Geber aller guten Schöpfungsgaben, die uns Menschen zum Genuss gegeben sind. Der Mensch soll sie dankbar annehmen und weder sich noch anderen damit schaden.44Vgl. Packer, „Leisure and Life-Style“, S. 365. Zugleich verweist der Vers auf die Gefahren im Umgang mit Gottes Schöpfungsgaben hin. Sie können missbraucht werden: Die gleiche Genusserfahrung kann also gut oder schlecht sein, je nachdem, in welcher Haltung man diese Dinge genießt.45Vgl. Keller, Counterfeit Gods, xix.
Das Leben feiern: Grundlinien einer christlichen Freizeitkultur
Ein wiederkehrendes biblisches Freizeitmotiv ist das des fröhlichen Feierns. Im Alten Testament begegnet uns dieses vor allem in den von Gott gebotenen religiösen Festen, die neben dem Sabbat eine zusätzliche Pause vom Arbeiten nicht nur ermöglichen, sondern vorschreiben. Die Feste sind zu sehen und bieten der breiten Bevölkerungsschicht oftmals die einzige Möglichkeit zu ausgeprägter Gemeinschaft mit den Volksgenossen, zu zweckfreier Unterhaltung wie Tanz oder zu Genüssen wie Fleischkonsum.46Vgl. Sals/Avemarie, „Fest“, S.137. Dementsprechend sind diese Feste geprägt von Dankbarkeit, Freude, (gutem) Essen und Trinken sowie Gemeinschaft (Ex 23; Lev 23) und Tanz (vgl. Ps 149,3; 150,4). Diese Lebensart spiegelt sich auch in nicht spezifisch religiösen Festivitäten: Abraham veranstaltete ein großes Fest nach der Geburt von Isaak (2.Mose 21,8) oder bereitete zwei Besuchern in außerordentlich gastfreundlicher Manier ein Mahl zu (2.Mose 18,1-8). Auch Jesus nahm an privaten Feierlichkeiten teil, weshalb ihn seine Gegner einen „Fresser und Weinsäufer“ nannten (Lk 7,34). Auffällig ist auch, dass Jesus das Motiv des Feierns in seinen Gleichnissen mit der Lebensart von Gott verbindet, z.B. im Gleichnis des verlorenen Sohnes (Lk 15,11) oder den Gleichnissen vom zukünftigen Reich Gottes (Mt 8,11-12; 22,1-14; vgl. Lk 6,21). Im Kontext der feierlichen Lebensart sind auch die Bezüge zum Motiv des „Spiels“ zu nennen. Es zeigt sich erstens in solchen Texten, die auf das zukünftige Friedensreich Gottes blicken (Sach 8,5; Jer 30,18-19; 31,4.13-14).47Vgl. Ryken, Work and Leisure, S. 200f. Zweitens wird die Weisheit im Buch der Sprüche als „spielend“ (Spr 8,30f), ja sogar als „die Weisheit als Personifizierung göttlicher Wesenszüge“ dargestellt.48Richert, Geistesgeschichte des Lachens, S. 53. Das Spielerische ist – drittens – auch bei Jesus zu finden. Die Aussprüche und Gleichnisse von Jesus zeigten durch witzige Phantasie und Übertreibung, dass Gott ein humorvolles Herz haben muss.49Vgl. Ryken, Work and Leisure, S. 200.
IV. Ethische Prinzipien im Kontext der deutschen Freizeitkultur
Im Folgenden sollen die bisherigen Ausführungen zur christlichen Sicht auf Kultur und Freizeit gebündelt sowie ethische Prinzipien formuliert und erläutert werden.
Freizeit ist eine gut gemeinte Schöpfungsgabe
Das heutige Konzept von Freizeit als Gegenstück zur Arbeit gründet sich in Gottes guter Schöpfungsabsicht für uns Menschen. Dies bestätigen indirekt die anthropologischen Beobachtungen, dass der Mensch durch die Zeitalter und Kulturen hinweg stets das Bedürfnis zeigt, das Arbeitsleben zugunsten von Entspannung und Erholung mit Spiel, Spaß und Unterhaltung zu unterbrechen.
Dieses Grundbedürfnis wird vor allem durch das alttestamentliche Konzept des Sabbats deutlich: Genauso wie Gott bei seinem Schöpfungswerk sechs Tage arbeitete und dann ruhte, sollten auch sie dieser Struktur als wöchentlichen Lebensrhythmus folgen, um sich körperlich und geistig zu erholen und Zeit für die Anbetung Gottes zu haben. Das bedeutet, Freizeit ist biblisch gesehen nicht nur eine mögliche Option und vielen, sondern Gottes Einladung zu einem ausgeglichenen, erfüllten und guten Leben (vgl. Mk 2,27).
Das biblische Gebot einer Unterbrechung des geschäftigen Alltags kann heute verschiedene Gestalt haben. Wichtig ist, dass diese Unterbrechung erholsam ist. Das kann in unserer hektischen, mit hohem Lebenstempo versehenen Zeit Nichtstun bedeuten oder passiven Konsum. Gleichzeitig können bestimmte Aktivitäten im Sinne eines Ausgleichs erholsam sein, z.B. Sport, Wandern in der Natur, kreative Betätigungen oder Dinge, die man mit dem „Spiel“ oder dem Feiern in Verbindung bringen würde. Doch tiefe Erholung und Entspannung sind auch in der Begegnung mit Gott zu finden. Auch dafür sollte genügend Zeit eingeräumt werden.
Freizeit und Arbeit brauchen die richtige Balance
Wie wir gesehen haben, setzte ab dem 15./16. Jahrhundert eine Entwicklung ein, die ihren Höhepunkt in der Moderne erreichte: Die Arbeit wurde der Freizeit übergeordnet. Die Freizeit wurde vornehmlich unter dem Nutzenaspekt betrachtet, dass sie Arbeitskraft wieder herstellt.
Aus christlich-ethischer Sicht wird es, erstens, der Freizeit nicht gerecht, sie der Arbeit unterzuordnen oder sie nur unter dem Nützlichkeitsaspekt für die Arbeit zu sehen. Freizeit und Arbeit sind beide Schöpfergaben, folglich sind sie beide wichtig für ein Leben nach Gottes Willen. Deswegen sollte man Freizeit ihren Eigenwert nicht nehmen oder diesen mindern. Sie kann „unproduktiv“ sein und für sich selbst genossen werden.
Das zweite Problem im Verhältnis von Arbeit und Freizeit ist die Gefahr des „Götzendienstes“. Eine Unterbetonung von Freizeit kann dazu führen, dass Arbeit zu einer Art „Ersatzreligion“ wird. Dass Arbeit das Leben nicht zu sehr bestimmen soll, ist heute als ethisches Prinzip nach wie vor relevant. Das Phänomen eines „workaholic“ findet sich auch heute noch zur Genüge, was sich unter anderem an häufigen Überlastungssymptomen wie die eines „Burn-Outs“ zeigt. Maßlosigkeit als Ausdruck der Sünde zeigt sich aber auch in der Überbetonung der Freizeit. Unsere Gesellschaft fördert, angeheizt durch die mächtige Freizeitindustrie und die Medien, zunehmend einen hedonistischen Lebensstil, der als Lebensziel vor allem Spaß und Vergnügen anstrebt. Hier besteht die Gefahr, dass man selbstzentriert das Vergnügen (in der Freizeit) über Gott und seinen Willen setzt (vgl. Phil 3,19).
Freizeit muss bewusst gewählt und gestaltet werden
Freizeit ist in Deutschland hochkommerzialisiert und wirtschaftlich überaus bedeutsam. Der Freizeitmarkt ist geprägt von unzähligen Möglichkeiten. Statistisch gesehen stehen dem Deutschen täglich im Durchschnitt ca. vier Stunden Freizeit zur Verfügung. Das ist zu wenig Zeit, um alle Freizeitmöglichkeiten zu nutzen, die sich ihm bieten. Deswegen ist es notwendig, sich zu entscheiden sowie ein verantwortliches Zeitmanagement zu betreiben. Dies muss man allerdings nicht als „Stress“ betrachten, sondern kann diese Situation als sehr positiv verstehen: Gott gibt uns Freiheit für individuellen Geschmack und individuelles Interesse. Zudem entlastet er uns von Leistungsdruck, unter dem viele Menschen hierzulande leiden. Wir müssen unseren Status nicht an unserer Freizeitaktivität festmachen, weil unser Wert in der Liebe Gottes und in unserer Ebenbildlichkeit begründet ist. Und wir müssen nicht versuchen, möglichst „alles zu erleben“, da unser Glück letztendlich nicht von unserer Freizeitgestaltung abhängt, sondern von der Beziehung zu Gott. Zudem ist das irdische Leben vergänglich und das „eigentliche“ Leben in Gottes himmlischer Welt liegt noch vor uns.
Dennoch liegt in dieser Entscheidungssituation auch ein Moment der Herausforderung und Belastung. Kulturelle Strukturen können aufgrund der Sündhaftigkeit des Menschen nicht in jeder Hinsicht gut oder neutral sein, sie haben immer auch etwas Destruktives und von göttlicher Norm Abweichendes. Deswegen stehen Christen vor der Herausforderung, die gesellschaftlichen Freizeitmöglichkeiten und –aktivitäten anhand der biblischen Offenbarung in moralischer Hinsicht zu beurteilen. Das kann dazu führen, dass man sich von einem bestimmten Freizeitverhalten distanzieren muss, wie z.B. von einem exzessiven Alkoholkonsum oder von sündigem Sexualverhalten wie Pornographie oder außerehelichem Geschlechtsverkehr. Eine bewusste Abgrenzung von Freizeittrends in unserer Gesellschaft kann sehr herausfordernd sein, da diese bei unseren Mitmenschen auf Widerstand stoßen und dort Ablehnung hervorrufen kann. Dies kann jedoch nicht nur bei einer bewussten Abgrenzung passieren, sondern auch bei einer bestimmten Wahl nach Prioritäten.
Freizeit sollte ganzheitlich sein
2016 verbrachten die Deutschen durchschnittlich vier Stunden mit Fernsehen und 1 Stunde und 19 Minuten mit Internetnutzung täglich.50http://www.vprt.de/verband/presse/pressemitteilungen/content/mediennutzung-2016-deutsche-nutzen-%C3%BCber-10-stunden-t%C3%A4glich (leider nicht mehr online verfügbar) Wer bei oder über diesem Wert liegt, dürfte kaum mehr Zeit für andere Beschäftigungen haben. Dies wäre dem Menschen in seiner Beschaffenheit als Leib, Seele und Geist nicht gemäß, weil nicht ganzheitlich. Gottes irdische Schöpfungsgaben und unser menschliches Sein bieten mehr Potential für ein erfülltes, ganzheitliches Freizeitleben als es Mediennutzung ermöglicht. Wichtige qualitative Potentiale sind z.B. Tätigkeiten zur Förderung unserer Kreativität, soziale Situationen wie eine Feier mit Essen, Spiel und/oder Tanz, Genusserlebnisse in Gottes schöner Natur51Vgl. Heintzmann, Leisure and Spirituality, S. 241f. oder auch stille Reflexionsphasen, die in unserem schnellen, oft gehetzten Alltag immer seltener einen Raum bekommen.52„Der Mensch hat trotz allen Sozialbezugs auch das Bedürfnis nach entlastendem Alleinsein und reflektierendem Nachdenken über sich und die Welt“ (Lippl, Bedeutung der Freizeit, S.170; vgl. ebd., S. 175).
Eine ganzheitliche Sicht auf Freizeit erhalten wir jedoch erst dann, wenn wir auch Dinge, die unter 1.1 als „Semi-Freizeit“ definiert wurden, im Blick haben. Es ist bereits gezeigt worden (3.2), dass Freizeit ihr höchstes Potential dann entfaltet, wenn sie genügend „Zeit für Gott“ beinhaltet. Erholung, Entlastung und Lebenserfüllung gründen sich insbesondere darin, dass der Mensch Gott begegnet und ihn anbetet. Das persönliche Bibellesen, Gebet und Gottesdienstbesuch sollten demnach feste Größen einer christlichen Freizeitgestaltung sein.53„Während Nichtchristen Sonntagmorgen schnarchen, dürfen Christen Gott anbeten, um sich zu erholen“ (Ryken,Work and Leisure in Christian Perspective, S. 204). Genauso sollte auch eine dienende Lebensausrichtung dazugehören, die sich z.B. in einem kirchlichen oder gesellschaftlichen Ehrenamt zeigen kann, was umso mehr hervorzuheben ist, als das Ehrenamt in Deutschland zugunsten der individuellen Selbstentfaltung immer mehr an Bedeutung verliert.54Vgl. Prahl, Soziologie der Freizeit, S. 171.
Freizeit ist eine wichtige Brücke zu unseren Mitmenschen
Im Abschnitt 2 wurde festgehalten, dass menschliche Kultur trotz des Sündenfalles immer noch die Spuren der allgemeinen Gnade Gottes erkennen lässt. Zudem sollten wir uns für unsere Mitmenschen interessieren und auf der Grundlage der landesüblichen Kultur Kontaktflächen suchen, damit Freundschaften und Beziehungen entstehen. Diese können im Sinne einer von Gott geschenkten Möglichkeit dazu führen, dass unsere Mitmenschen durch uns Jesus kennenlernen. Jesus Christus selbst dient in seiner Menschwerdung und seinem irdischen Leben als das Beispiel par excellence. Deswegen ist es also notwendig, die Freizeit nicht nur aus individueller Vorliebe heraus zu gestalten, sondern auch im Hinblick auf das verbindende soziale Potential.
Ein Großteil der heutigen Freizeitbeschäftigung gehört zur sog. Popkultur bzw. „Massenkultur“. Wer Menschen nicht nur eines elitären Milieus erreichen, sondern mit Menschen aus breiten Bevölkerungsschichten in Kontakt kommen möchte, wird an der Popkultur nicht vorbeikommen, sondern das Gute und Wahre in diesem Feld entdecken und als Gottes Schöpfungsgaben wertschätzen (lernen). Dazu gehören z.B. Sport, Massenmedien, Unterhaltungsliteratur, Film und Popmusik. Eine pauschale Geringschätzung von Popkultur ist nicht biblisch, weil der Mensch das Bedürfnis nach Spiel und Unterhaltung besitzt sowie Genuss, göttliche Wahrheit und Schönheit auch in Popkultur zu finden ist.
Einen differenzierten Zugang zur Welt der Popkultur findet sich bei Brett McCracken. Er wirbt damit, die vielen „Schätze“ in der Popkultur zu heben55McCracken, Grey Matters, S. 11. und Gott mit einer Wertschätzung dieser entdeckten Schöpfungsgaben zu ehren.56Vgl. McCracken, Grey Matters, S. 20. Dabei lässt er sich von zwei übergreifenden Fragen leiten: Wie geht es mir damit, insbesondere in meiner Beziehung zu Gott? Und wie geht es meinem sozialen Umfeld damit?
Diese Leitfragen lassen sich auf mehrere Fragen zur Selbstprüfung herunterbrechen. Angewandt auf den Musik- und Filmkonsum fragt McCracken z.B.:57Vgl. ebd., S. 250f.
- Gibt es darin irgendwas Gutes, Wahres oder Schönes?
- Ist das, was ich mir anschaue oder anhöre, in irgendeiner Weise erbaulich oder nützlich für mich?
- Hat die Produktion oder Entstehung anderen Menschen geschadet oder macht sie die Welt zu einem schlechteren Ort?
- Werde ich durch den Konsum zur Sünde verführt?
- Werden andere durch meinen Konsum zur Sünde verführt?
- Wenn ein Nichtchrist mitbekommt, was ich mir anhöre oder anschaue, wie würde das sein Bild vom Christentum beeinflussen?
- Konsumiere ich in erster Linie, weil ich traurig, wütend, gestresst, alleine etc. bin (Flucht aus der Realität)?
- Würde Jesus mit mir diese Musik hören oder diesen Film ansehen?
- Habe ich mich darüber informiert, ob diese Musik oder dieser Film einen negativen Einfluss auf mich oder andere haben könnte?
- Habe ich Gott dafür gedankt? Oder wäre es mir peinlich, Gott dafür zu danken?
- Konsumiere ich die Musik oder den Film alleine? Wäre es vielleicht besser, es mit jemandem zusammen zu tun?
- Nehme ich mir genug Zeit, um das Künstlerische wahrzunehmen und zu genießen?
- Würde ich mich wohl fühlen, diesen Film oder diese Musik in der Kirche/Gemeinde zu konsumieren?
Christliche Gemeinden haben eine Verantwortung
Christliche Gemeinden können nicht nur theoretisch durch biblische Lehre die beste ethische Orientierung in punkto Freizeitgestaltung geben, sie können dies auch ganz praktisch erreichen. Zum Beispiel durch Angebote, die Ganzheitlichkeit fördern. Gottesdienst und Bibelstunde o.ä. sollten eine wichtige Größe in der Freizeit sein, allerdings wäre eine Beschränkung allein auf diese Angebote recht einseitig. Je nach Möglichkeit könnte in Erwägung gezogen werden, ob man nicht auch sportliche Angebote macht (körperliche Dimension), geistig herausfordernde Abende mit beispielsweise Argumente für den Glauben veranstaltet (geistige Dimension) oder Wochenendfreizeiten organisiert (soziale Dimension). Insbesondere in den (regelmäßigen) Kinder- und Jugendangeboten sollte darauf geachtet werden, dass die Heranwachsenden vor dem Hintergrund einer Jugendkultur, die Freizeit vor allem mit Medienkonsum in Verbindung bringt, eine ganzheitliche Sicht auf Freizeit gewinnen (wie das z.B. weithin bei den christlichen Pfadfindern gelingt).58Vgl. Vanhoozer, „What is Everyday Theology?“, S. 26f.
Neben der Verantwortung, Ganzheitlichkeit zu fördern, sollten christliche Gemeinden auch darüber nachdenken, wie sie durch die eigenen Angebote Brücken schlagen können zu den Menschen um sie herum. Eine „christliche Kultur“ kann für jemanden, der nichtreligiös geprägt ist, eine Überforderung sein. Deswegen wäre zu überlegen, wie christliche Freizeitangebote so gestaltet und auf das konkrete Umfeld der Gemeinde abgestimmt werden können, dass kirchenferne Menschen erreicht werden. Denn das Ziel bleibt, Menschen erfahren zu lassen, was es heißt, als ein von Gott geliebtes Geschöpf in Gemeinschaft mit Jesus Christus zu leben.
© 2017 Institut für Ethik & Werte
Endnoten
- 1https://de.statista.com/statistik/faktenbuch/306/a/branche-industrie-markt/sonstige/freizeitwirtschaft/ (leider nicht mehr online verfügbar).
- 2
- 3Vgl. Crouch, Culture Making, S.22ff.
- 4Vgl. Vanhoozer, “What is Everyday Theology?”, S. 24.
- 5Vgl. Prahl, Soziologie der Freizeit, S. 28.
- 6Vgl. Ryken, Work and Leisure, S. 28ff.
- 7Packer, „Leisure and Life-Style”, S.362f.
- 8Vgl. Lippl, Bedeutung der Freizeit, S. 35.
- 9Vgl. Heintzmann, Leisure and Spirituality, S. 66.
- 10Lippl, Bedeutung der Freizeit, S. 41.
- 11Ebd., S.44.
- 12Vgl. Heintzmann, Leisure and Spirituality, S.71ff.
- 13Prahl, Soziologie der Freizeit, S. 94.
- 14Ebd., S.99.
- 15Vgl. ebd., 100f.
- 16
- 17Vgl. Heintzmann, Leisure and Spirituality, S. 78.
- 18Vgl. Lippl, Bedeutung der Freizeit, S. 84ff.
- 19Ebd., S.92.
- 20Ebd.
- 21Ebd., S. 109.
- 22Vgl. Schulze, Erlebnisgesellschaft, S. 14. Hartmut Rosa spricht beim Erlebnisdruck von „säkularem Ewigkeitsersatz“ (http://www.zeit.de/2006/05/ST-Beschleunigung/seite-2).
- 23Dieses Lebensgefühl wird in den Medien auch „FOMO“ genannt („Fear of Missing Out“). Gemeint ist die Angst, ein bestimmtes Event, eine bestimmte Party, ein bestimmtes Erlebnis oder eine bestimmte Information zu verpassen, sodass man nicht mehr Teil des wichtigen sozialen Geschehens zu sein scheint. Diese Sorge wird aufgrund der modernen Technologien wie Mobiltelefonen und sozialen Netzwerken verschärft.
- 24
- 25Vgl. Schulze, Erlebnisgesellschaft, S. 142ff.
- 26Man könnte ersteres und letzteres Schema mit der geläufigen Abgrenzung von Hochkultur und Popkultur in Zusammenhang bringen.
- 27Vgl. Waltke, An Old Testament Theology, S. 220f.
- 28Schnabel, Korinther, S. 510.
- 29Vgl. Huizinga, Homo Ludens.
- 30Prahl, Soziologie der Freizeit, S. 95
- 31Vgl. Hüter/Quarch, Rettet das Spiel, S. 7ff.
- 32Lippl, Bedeutung der Freizeit, S. 120.
- 33Vgl. ebd, S. 121f.
- 34Zitiert nach ebd., S. 121.
- 35Ebd.
- 36Vgl. Ex 23,12; 31,17; Deut 5,14.
- 37Vgl. Crüsemann, „Sabbat“, S. 491.
- 38Ebd., S. 97.
- 39Vgl. Waltke, Old Testament Theology, S. 420.
- 40Vgl. Packer, „Leisure and Life-Style“, S. 363.
- 41Vgl. Heintzmann, Leisure and Spirituality, S. 93.
- 42Vgl. Ryken, Work and Leisure, S.191.
- 43Packer, „Leisure and Life-Style“, S. 364.
- 44Vgl. Packer, „Leisure and Life-Style“, S. 365.
- 45Vgl. Keller, Counterfeit Gods, xix.
- 46Vgl. Sals/Avemarie, „Fest“, S.137.
- 47Vgl. Ryken, Work and Leisure, S. 200f.
- 48Richert, Geistesgeschichte des Lachens, S. 53.
- 49Vgl. Ryken, Work and Leisure, S. 200.
- 50http://www.vprt.de/verband/presse/pressemitteilungen/content/mediennutzung-2016-deutsche-nutzen-%C3%BCber-10-stunden-t%C3%A4glich (leider nicht mehr online verfügbar)
- 51Vgl. Heintzmann, Leisure and Spirituality, S. 241f.
- 52„Der Mensch hat trotz allen Sozialbezugs auch das Bedürfnis nach entlastendem Alleinsein und reflektierendem Nachdenken über sich und die Welt“ (Lippl, Bedeutung der Freizeit, S.170; vgl. ebd., S. 175).
- 53„Während Nichtchristen Sonntagmorgen schnarchen, dürfen Christen Gott anbeten, um sich zu erholen“ (Ryken,Work and Leisure in Christian Perspective, S. 204).
- 54Vgl. Prahl, Soziologie der Freizeit, S. 171.
- 55McCracken, Grey Matters, S. 11.
- 56Vgl. McCracken, Grey Matters, S. 20.
- 57Vgl. ebd., S. 250f.
- 58Vgl. Vanhoozer, „What is Everyday Theology?“, S. 26f.
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