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Magersucht

Herausforderung für christliche Jugendarbeit

I. „Leben hat Gewicht“ -

so lautet der schöne Titel einer aktuellen Bundesinitiative. Sie hat sich auf die Fahnen geschrieben, in der Öffentlichkeit ein größeres Problembewusstsein für Essstörungen zu erzeugen. Und damit steht sie nicht allein. Immer häufiger begegnet das Thema auch in den Medien. In Italien sorgte eine Kampagne für Aufsehen, die ein magersüchtiges Model auf großformatigen Plakaten zeigte. „Germany´s Next Topmodel“ kam in Verruf, als eine Teilnehmerin abgewiesen wurde, weil ihre Maße nicht dem Idealbild entsprachen. Auch von Todesfällen bei magersüchtigen Models war in diesem Zusammenhang die Rede.

Und tatsächlich stieg die Zahl der diagnostizierten Fälle von Magersucht in den letzten vierzig Jahren. Inzwischen sprechen Statistiken davon, dass mindestens eine von 200 Frauen an Essstörungen leidet – wobei die Dunkelziffer wohl höher ist. Viele äußere Symptome der Krankheit, wie zum Beispiel das Abnehmen, bleiben lange Zeit im Bereich des gesellschaftlich Akzeptierten oder Unauffälligen. Und doch hat Magersucht drastische Folgen: Sie zieht erhebliche körperliche Folgeschäden nach sich und in der Statistik endet jede zwanzigste Erkrankung tödlich. 

Das lässt immer mehr Menschen fragen: Warum leidet jemand an Magersucht? Was sind die Hintergründe? Wie erkennt man die Erkrankung? Was unterscheidet sie von einer normalen Diät? Was kann man tun? 

II. Formen von Essstörungen 

Grundsätzlich kann man drei Formen von Essstörungen unterscheiden. Die wahrscheinlich bekannteste Form ist die so genannte Magersucht(auch Anorexia nervosa oder Anorexie). Zentrales Merkmal ist hierbei das Abnehmen durch starkes Einschränken der Nahrungsaufnahme. Hinzu treten meistens noch andere Symptome: selbst herbeigeführtes Erbrechen, das Einnehmen von Abführmitteln oder Appetitzüglern oder auch übertriebene körperliche Aktivitäten. Davon kann man die Bulimie (auch Ess-Brech-Sucht genannt) unterscheiden. Hier treten regelmäßige Essattacken auf, in denen man das Gefühl hat, die Kontrolle über die eigene Nahrungsaufnahme zu verlieren. Die dabei auftretende Scham löst den dann Impuls aus, das Essen möglichst schnell wieder loswerden zu müssen. Die dritte Form von Essstörungen, das so genannte Binge-Eating, kennt ebenfalls die unkontrollierten Essattacken, allerdings werden hier die Kalorien behalten und der Patient nimmt überdurchschnittlich zu.

Neben diesen drei Hauptformen gibt es natürlich auch viele Mischformen oder Menschen, die sich auf einem Schlingerkurs zwischen einzelnen Essstörungen bewegen. In diesem Aufsatz wird es hauptsächlich um die Magersucht gehen, da sie in der öffentlichen Diskussion zur Zeit am häufigsten auftaucht. 

2.1. Ist die Gesellschaft schuld?

Magersucht ist eine Erkrankung, die fast ausschließlich in den westlichen Industrieländern auftritt, und zwar verstärkt in mittleren und oberen Gesellschaftsschichten. Hinzu kommt, dass fast nur junge Frauen von Magersucht und Bulimie betroffen sind: Schätzungen sprechen von bis zu 95% weiblichen Patienten, von denen die Mehrheit als überdurchschnittlich begabt gilt. Von diesen Zahlen her liegt die Frage nahe: Ist die Gesellschaft schuld oder wie sonst kommt es zu dieser Verteilung? 

2.2. Schönheitsideal

Als gravierender gesellschaftlicher Faktor wird von vielen Experten das weibliche Schönheitsideal gesehen, das durch die Massenmedien in alle Bereiche der Bevölkerung transportiert wird. Wie tief dieses Idealbild reicht, zeigt eine amerikanische Studie aus dem Jahr 1986. Sie fand heraus, dass ein hoher Anteil der Bevölkerung üppige weibliche Formen unbewusst mit mangelnder Intelligenz und beruflicher Inkompetenz assoziiert. Dagegen steht Schlanksein bei Frauen assoziativ für Attraktivität, Dynamik und Erfolg. 

2.3. Veränderung der Jugendphase

Ein weiterer Grund für den Anstieg von Essstörungen ist die verlängerte Jugendphase. Biologisch bedingt fängt sie immer früher an, endet aber durch verlängerte Ausbildungszeiten auch immer später. Dadurch schweben Jugendliche heute viel länger zwischen Eigenverantwortung und Abhängigkeit. Einerseits gestalten sie ihr Leben selbstständig, haben z.B. eine eigene Wohnung oder eine feste Beziehung. Andererseits sind viele Jugendliche, gerade aus höheren Gesellschaftsschichten bis mindestens Mitte 20 noch (finanziell) von den Eltern abhängig. Dieser lange Zwischenzustand kann verunsichern und die Frage aufwerfen, wie viel Verantwortung man denn wirklich zu tragen im Stande ist. Daraus können Essstörungen entstehen.

2.4. Wandel der Familienformen

Eine dritte gesellschaftliche Entwicklung wird ebenfalls oft im Zusammenhang mit Essstörungen gebracht, nämlich die gewachsene Isolation der Familie. Während früher ein Haushalt noch aus mehreren Generationen bestand, ist die moderne bürgerliche Kleinfamilie weitestgehend auf sich alleine gestellt. Dadurch konzentrieren sich die Erwartungen der Eltern jetzt stärker auf die Entwicklung der Kinder und das Aufrechterhalten eines harmonischen Familienlebens. Das klingt zunächst positiv, führt aber dazu, dass Kinder oftmals zum „Projekt“ der Eltern werden. Sie sollen wohl geraten. Eltern und Kinder sind einander stärker als früher emotional ausgesetzt, die Spannungen untereinander nehmen zu.

2.5. Ursachenkomplex

In den letzten Jahren hat die psychologische Forschung viel über Menschen mit Essstörungen herausgefunden. Dabei stellte sich heraus, dass die genannten gesellschaftlichen Faktoren in der Regel nur eine auslösende oder bestärkende Funktion im Krankheitsverlauf haben. Viele Betroffene schildern ihre Magersucht vielmehr als einen Komplex von Ursachen: „Es gibt nicht nur einen Grund oder Auslöser. Da ist so viel zusammengekommen.“, schildert eine Betroffene. Gerade deswegen prägt sich Magersucht auch immer wieder individuell aus, jeder Fall ist anders gelagert. Dennoch lassen sich einige Hauptursachen zusammenfassen, die bei vielen Patienten eine Rolle gespielt haben. 

2.6. Wunsch nach Selbstbestimmung

Viele junge Frauen mit Magersucht beschreiben ihre Krankheit als Versuch, sich von einengenden und beklemmenden Anforderungen, oft aus der eigenen Familie, zu befreien. Ein Beispiel: „Ich glaube, dass ich vor allem sehr unter dem starken Ehrgeiz meiner Mutter gelitten habe: trotz guter schulischer Leistungen und eigentlich durchweg ‚guten Geratens’ war sie eigentlich nie zufrieden mit mir – es hätte eben alles noch eine Spur besser sein können. Ich fühlte mich eingepfercht in die Rolle als vorzeigbare Tochter aus gutem Hause – vermutlich war die Anorexie einer von vielen Versuchen, auszubrechen.“ 

Solchen Ansprüchen sehen sich viele Betroffene hilflos gegenüber und erblicken in der Magersucht die letzte Möglichkeit der Selbstbestimmung: Wenigstens hier kann einen niemand zwingen! Das Essen und der eigene Körper werden so zum Symbol eines familiären Konflikts: „Es war der adäquateste Ausdruck, die angemessene Form für den tatsächlichen familiären Zustand, den ich noch Jahre zu ertragen hatte, ohne, dass ich mich je für ihn entschieden hätte. Wenigstens angesichts der eigenen Gestalt muss der Mensch doch Wahlfreiheit haben!“

2.7. Selbstbewusstsein

Ein weiteres Puzzlestück stellt für viele Betroffene ein geringes Selbstwertgefühl dar. „Eine genaue Erklärung habe ich auch nicht, aber es kam vieles zusammen: Ich fand mich furchtbar hässlich, hatte Liebeskummer, hatte das Gefühl nicht genug zu erzählen (mir fiel nie etwas ‚Gescheites’ ein). Ich steigerte mich immer mehr hinein, wie unmöglich und nicht liebenswert ich sei. Selbstbewusstsein war gleich null. Deshalb vielleicht die Hungerei?!“ Eine andere Betroffene schildert: „Zwar gab es im zeitlichen Zusammenhang mit der Magersucht einen eindrucksvollen Familienkonflikt: (meine Eltern ließen sich scheiden, benutzten mich als Bindeglied und erpressten mich, als ich von zu Hause ausziehen wollte) aber ich hätte mit dem Konflikt ganz anders umgehen können, wenn ich so eine Art Urvertrauen gehabt hätte.“ 

2.8. Hungern als Hilferuf

Manche Frauen deuten ihre Magersucht im Rückblick auch als einen Hilferuf in einer schwierigen Situation: „Mit sechzehn Jahren bin ich für ein Jahr als Austauschschülerin nach Amerika gegangen, fühlte mich da todunglücklich, unverstanden und fehl am Platz, wodurch die wohl mehr oder weniger normalen Diätgedanken einer Sechzehnjährigen in die Anorexia umschlugen, als Warnung für meine Umgebung: Hallo, Hilfe, hier stimmt was nicht. Mir fehlte damals die Möglichkeit, das anders zu äußern.“ 

2.9. Weitere Funktionen von Magersucht

Die Magersucht kann natürlich auch noch ganz andere Funktionen erfüllen. Sie kann die Möglichkeit bieten, Kind zu bleiben in einer Familie, die ein Nesthäkchen braucht, oder wo die Mutter die Konkurrenz der Tochter fürchtet. Sie kann Ausdruck von dem Problem sein, dass die beginnende Pubertät eine Auseinandersetzung mit einer ansonsten tabuisierten Sexualität bedeutet hätte. Sie kann scheinbare Ordnung schaffen, Selbstkontrolle in einem chaotischen Umfeld mit rasanten Veränderungen. 

2.10. Funktionalisierung des Körpers

Bei allem bleibt aber die Frage offen, warum sich die Betroffenen so stark auf ihren eigenen Körper konzentrieren. Auffällig ist, dass viele Betroffene diese Frage selbst nur schwer beantworten können. Durch verschiedene Untersuchungen sieht man heute immer deutlicher, dass im Fall der Magersucht der eigene Körper funktionalisiert wird. D.h. er wird als Mittel verwendet, um ein anderes, z.B. zwischenmenschliches Problem zu „behandeln“. Menschen mit Anorexie verhalten sich oft so, als ob alle ihre Probleme letzten Endes durch den eigenen Körper verursacht würden. So schildert ein Mädchen, dass sich ihre Clique plötzlich von ihr abwandte, als ihr Freund mit ihr Schluss machte. Dazu hatte sie Probleme mit ihren Eltern. Sie fühlte sich „schrecklich allein und grübelte“. Ihr Fazit: „Ich kam zu dem Entschluss, dass ich einfach zu dick sei.“ Auch wenn das kaum der objektive Grund gewesen sein wird, nehmen Menschen mit Magersucht ihren Körper häufig als das eigentliche Problem wahr. 

2.11. Magersucht als Problemlösung?

Die Magersucht – wie der Name ja eigentlich nahe legen könnte – stellt keine klassische Suchtkrankheit dar, die an einen Stoff gebunden ist, der die Abhängigkeit bewirkt. Daher konzentriert sich die psychologische Sichtweise heute stärker auf die die psychische Funktion, die die Magersucht für die Betroffenen übernimmt. Man kommt immer mehr ab vom klassischen Defizitmodell, das den Blick auf das richtet, wozu die erkrankte Person nicht in der Lage ist: z.B. ein gesundes Selbstwertgefühl aufzubauen, den eigenen Körper angemessen wahrzunehmen, Nähe und Distanz nicht in das richtige Verhältnis zu bringen etc. Stattdessen sieht man in der Magersucht vermehrt eine Form der Auseinandersetzung mit einem für die Patientin nicht lösbaren Problem: Anstatt das eigentliche Problem anzugehen, wird ein neues kreiert und damit gleichzeitig ein Lösung. Denn nun, da sie sich so sehr um ihren Körper kümmert und ihn zum Zentrum ihrer Welt macht, verliert das ursprüngliche Problem erheblich an Bedeutung. Das ist natürlich keine Lösung in einem konstruktiven Sinne, ist aber insofern erfolgreich, als dass man sich dem eigentlichen Problem so nicht stellen muss. 

Von daher berichten auch viele Therapeuten davon, dass die Magersucht so lange beibehalten wird, bis diese tiefer liegenden Probleme angstfrei angegangen werden können. So schreibt Alexa Franke aus ihrer langjährigen Begleitung von Menschen mit Magersucht: „Sie [d.h. die Magersucht] ist, davon war und bin ich fest überzeugt, nicht Ausdruck von Selbstzerstörung, sondern Ausdruck eines verzweifelten Kampfes um das Recht und die Möglichkeit, das eigene Leben nach den eigenen Vorstellungen und Wünschen zu gestalten. Wenn anorektische Menschen lernen, die Energie, die sie in die Krankheit investieren, in die Realisierung eines eigenen Lebensentwurfs umzulenken, können sie den Weg aus ihrem goldenen Käfig finden.“ (Franke 2003, 11)

2.12. Verzerrte Selbstwahrnehmung

Wie sehr dieser falsche Lösungsversuch verinnerlicht wurde, zeigt immer wieder die verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers. Sie gilt neben dem Abnehmen als ein weiteres zentrales Merkmal der Anorexie. In manchen Übungen zur Selbstwahrnehmung sollen die Patientinnen ihren eigenen Taillenumfang schätzen und ihn auf einem Seil zeigen. Regelmäßig schätzen sie sich dabei um zwanzig bis dreißig Zentimeter zu dick ein – das entspricht einem Unterschied von ca. zwanzig bis dreißig Kilogramm! 

Diese verzerrte Selbstwahrnehmung ist ein Grund dafür, warum Magersüchtige sich selten anderen Menschen offenbaren. Dafür sind der eigene Körper und das Essverhalten viel zu sehr mit Schamgefühlen besetzt. Hinzu kommt, dass Menschen mit Magersucht häufig eher angepasste Persönlichkeiten sind, die nicht auffallen und es möglichst allen recht machen wollen. Dadurch bleibt die Anorexie oftmals lange unentdeckt. Menschen mit Magersucht entwickeln dazu auch oft ausgeklügelte Strategien, um ihre Umwelt im Glauben zu halten, dass alles in Ordnung sei.

Wie kann man dennoch erkennen, ob jemand von Magersucht betroffen ist? 

2.13. Erkennungszeichen 

Auffälligstes Erkennungszeichen der Magersucht ist natürlich das Abnehmen an Körpergewicht. In den international anerkannten Diagnosekriterien ICD-10 und DSM-IV gelten 15% unter Normalgewicht als Grenzwert. Dabei ist es unerheblich, ob jemand entsprechendes Gewicht verliert oder in seiner körperlichen Entwicklung erst gar nicht erreicht. Wie bereits erwähnt treten entweder selbst herbeigeführtes Erbrechen, das Verwenden von Appetitzüglern, Abführmitteln und eine verzerrte Selbstwahrnehmung hinzu. In fast allen Fällen tritt ein Ausbleiben der Menstruation (Amenorrhöe) auf – oft noch vor der akuten Gewichtsabnahme. 

Neben diesen medizinischen Kriterien gibt es aber auch Kennzeichen, die für Angehörige und Freunde leichter zugänglich sind. So sollte man zum Beispiel aufmerksam werden, wenn jemand das Essen in Gemeinschaft wiederholt meidet oder vor Anderen auffällig wenig isst. Wenn Diät zum Dauerzustand wird oder der Beobachtung des eigenen Körpergewichts ein ungewöhnlich großer Raum zukommt, können darin erste Anzeichen liegen. 

2.14. Den Verdacht ansprechen 

Grundsätzlich ist es ratsam, den Verdacht auf Magersucht anzusprechen. Gerade das stellt sich allerdings häufig als schwierig dar. Nicht hilfreich ist es, das Thema während des Essens und vor Anderen aufzubringen, da das für die Betroffenen oft Momente großer Anspannung sind. Besonders das Machtwort der Eltern wirkt kontraproduktiv. Es bestätigt nur das Krankheitsschema. Es empfiehlt sich stattdessen, einmal zu einem gesonderten Zeitpunkt das Gespräch zu suchen. Dabei sollte man mit Urteilen ausgesprochen vorsichtig sein und der Person die Möglichkeit lassen, sich zu erklären. Wenn die betroffene Person übermäßig heftig reagiert oder offensichtliche Tatsachen abstreitet, könnte Vorsicht geboten sein. Auch dann ist es nicht ratsam, Einsicht erzwingen zu wollen. Denn auch das würde nur das Denkmuster bestätigen, dass Andere einen nur akzeptieren, wenn man in ihr Schema passt. „Jetzt muss ich schon wieder so sein, wie Du mich haben willst.“ Vielmehr geht es um eine Atmosphäre, in der sich der sich der Andere angstfrei äußern kann. Dazu gehört auch, mögliche Ausflüchte oder sogar offensichtliche Lügen auf keinen Fall als persönliche Beleidigung auffassen und sich gekränkt abzuwenden. 

2.15. Einen Arzt hinzuziehen

Bei all den erwähnten Anzeichen besteht das Problem darin, dass sie graduell sind. Wann wird aus Diät Magersucht? Wann werden Schamgefühle gegenüber dem eigenen Körper zum medizinischen Problem? Damit wird deutlich, dass schon zur Diagnose von Magersucht dringend ein Arzt hinzugezogen werden sollte. Erst recht gilt das natürlich für eine mögliche Behandlung: Bei Menschen mit Magersucht kommt die Seelsorge schnell an Ihre Grenzen. Und angesichts des hohen gesundheitlichen Risikos für die Betroffenen sollte man auf keinen Fall meinen, hier eigenmächtig behandeln zu können. 

Ohnehin ist klar, dass eine Veränderung nur geschieht, wenn die Betroffene selbst ihre Erkrankung einsieht und etwas ändern will – und gerade das kann man nicht erzwingen. Erfahrungen zeigen aber, dass Menschen mit Magersucht häufig durch einen Gespräch mit einem Arzt einsehen, dass sie wirklich Hilfe brauchen. Daher kann es z.B. in der Jugendarbeit ein hilfreiches „Verhandlungsziel“ sein, mit der Betroffenen einmal zum Arzt zu gehen. Denn das gibt  ihr die Freiheit und Selbstbestimmung und lässt auch die Möglichkeit offen, dass es sich gar nicht um Anorexie handelt. Andererseits bedeutet der Arztbesuch aber auch ein gewisses Ernstnehmen und eine Konfrontation mit der möglichen Erkrankung. 

2.16. Begleitung während einer Therapie

Sollte durch den Arzt dann eine Anorexie diagnostiziert werden und eine Behandlung eingeleitet werden, ist die weitere Begleitung absolut notwendig. In einer Umfrage unter Personen, die ihre Magersucht überwunden haben, gaben über 75% an, dass eine unterstützende Bezugsperson während der Erkrankung sehr wichtig war. Als besonders hilfreich gaben die meisten an: dass Sie ernst genommen und als Person nicht auf die Krankheit reduziert wurden, dass die begleitende Person an die Heilung glaubte, ihr Selbstvertrauen gestärkt wurde, man ihnen zuhörte und Aufmerksamkeit schenkte. Aber auch ein offenes Sprechen über die Krankheit bewerteten viele im Nachhinein als positiv. 

Die meiste Kraft zogen die Betroffenen aber aus der Treue der Bezugsperson, die sich in den Höhen und Tiefen der Behandlung zeigt. So erzählt eine junge Frau rückblickend, wie wichtig es war, dass zwei Freunde „mir immer gezeigt haben, wie sehr sie mich mögen, auch wenn ich über lange Zeit nichts für die Freundschaft getan habe, mich isoliert habe etc. Sie haben nie mein Essverhalten kommentiert oder ihr eigenes Essverhalten daran angepasst. Und sie haben mich nie auf den Charaktertypus einer Magersüchtigen festgelegt.“

III. Der Magersucht vorbeugen

Ganz im Sinne der anfangs erwähnten Bundesinitiative hat die christliche Jugendarbeit große Chancen, nicht nur Menschen mit Magersucht zu begleiten, sondern der Erkrankung auch effektiv vorzubeugen. An drei zentralen Punkten kann das gelingen: 

3.1. Aufklärungsarbeit leisten.

Magersucht könnte zum Thema in der Jugendstunde werden. Hintergründe und Ursachen der Erkrankung könnten dargestellt werden – sowohl auf der gesellschaftlichen als auch auf der persönlichen Ebene. Auch auf mögliche Folgeschäden sollte aufmerksam gemacht werden. Vor allem aber kann die Krankheit auch vom biblischen Menschenbild her beleuchtet werden: Welche Rolle spielt z.B. die Schönheit? Worin liegen Wert und Würde des einzelnen Menschen? Wie geht man sinnvoll mit Konflikten und Emotionen um? Usw. 

3.2. Vertrauen schaffen.

Gerade eine christliche Jugendgruppe hat das Potential zu einem Raum des Vertrauens zu werden, in dem z.B. auch familiäre Probleme angesprochen werden können. Dazu trägt bei, dass man neben allem Programmatischen auch Wert auf zweckfreie Gemeinschaft legt. Besonders Zeiten, in denen man als Gruppe einfach so zusammen ist, spielt, redet oder Sachen unternimmt, lassen Vertrauen entstehen und eröffnen oft Möglichkeiten zum Gespräch. 

3.3. Persönlichkeitsentwicklung fördern.

Schließlich kann die christliche Jugendarbeit auch dadurch Vorbeugung leisten, dass sie neben der notwendigen geistlichen Entwicklung sich das Ziel einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung immer wieder bewusst macht. Natürlich kann man diese beiden Ziele nicht grundsätzlich von einander trennen. Jedoch ist es wichtig, hier keine „Kategorienfehler“ zu begehen. So bedeutet z.B. ein gesundes Selbstvertrauen nicht zwingend mangelndes Gottvertrauen. Selbstständig Strategien zu entwickeln, um Konflikte zu lösen, bedeutet nicht, dass man deswegen weniger auf Gottes Eingreifen hofft. In Zukunftsfragen nach den eigenen Stärken und Wünschen zu fragen, schließt nicht aus, Jesus Herr über das eigene Leben sein zu lassen. 

IV. „Es gibt kein Stehen, nur ein Getragenwerden“ 

Abschließend scheint mir noch eine andere Perspektive wichtig. Von Franz Rosenzweig stammt der Satz: „Es gibt kein Stehen, nur ein Getragenwerden.“ Gerade als Christen wissen wir, dass unser ganzes Bemühen, unsere Kenntnis, unsere Methoden am Ende bruchstückhaft bleiben. Wir wissen darum, dass Gesundheit keine Überlegenheit ist und dass auch der Stärkste letztlich auf einem Drahtseil durch das Leben balanciert. Christliche Gemeinschaft ist eine Gemeinschaft von Getragenen. Grade in dieser scheinbaren Schwäche liegt ihre Stärke – und auch ein möglicher Ausweg aus dem „goldenen Käfig“ der Magersucht.

Tobias Braune-Krickau

Bibliografie

Literaturhinweise

Bruch, Hilde, Der goldene Käfig: Das Rätsel der Magersucht, Frankfurt: Fischer, 1980.

Fichtner, Manfred, Magersucht und Bulimie: Mut für Betroffene, Angehörige und Freunde, Karger, 2008.

Franke, Alexa, Wege aus dem goldenen Käfig: Anorexie verstehen und behandeln, Weinheim/Basel: Beltz, 2003.

Gerlinghoff, Monika/Herbert Backmund/Norbert Mai, Magersucht und Bulimie: verstehen und bewältigen, Weinheim/Basel: Beltz, 1999.

Herold, Sabine, Leicht wie ein Schmetterling: Evas Weg aus der Magersucht, Marburg: Franke, 2007.

Internetseiten

www.bzga-essstoerungen.de Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung

www.anad.de Anad e.V. bietet Hilfe für Betroffene und Angehörige

www.ab-server.de Beratung, Onlineforen und Informationen zu Bulimie und Magersucht