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KulturethikAllgemein

Gott trifft Party

Religion und Kirche in der Erlebnisgesellschaft

Unsere Gesellschaft verändert sich ständig. Alte Formen des Zusammenlebens verschwinden, neue Formen entstehen. Lebenseinstellungen und -ziele werden neu definiert. In den letzten zwanzig Jahren wurde die Erlebnisgesellschaft zu einem Leitbegriff in der akademischen Diskussion, der unser heutiges gesellschaftliches Zusammenleben beschreibt. Dieser Newsletter versucht, die großen Linien der Entwicklung zur Erlebnisgesellschaft nachzuzeichnen. Was bedeutet Erlebnisorientierung? Wie passen Erlebnisgesellschaft und christlicher Glaube zusammen? Wie kann christliche Jugendarbeit in der heutigen Gesellschaft gelingen?

I. Einleitung

Im Juli 2013 ist es wieder soweit: der 28. Weltjugendtag der katholischen Kirche findet in Rio de Janeiro statt. Wie schon 2011 in Madrid oder 2005 in Köln feiern hunderttausende Jugendliche die Kirche, den katholischen Glauben und sich selbst. Die Euphorie, ja Ekstase, mit der die jugendlichen Massen in Köln den damals frisch gewählten Papst Benedikt empfangen hatten, war zuvor nur vom Auftritt diverser Popstars bekannt. Sakral meets Dauerparty. Dieser für manche befremdliche, für andere zukunftsweisende Mix aus Religion und Popkultur spiegelt auf faszinierende Art eine wichtige Facette der heutigen Gesellschaft wieder – einer Gesellschaft, in der das Erlebniseine zentrale Rolle spielt. Die Entwicklung zur Erlebnisgesellschaft, so wie unser Zusammenleben wirkungsmächtig von Gerhard Schulze bezeichnet wurde, beschreibt das Ergebnis einer fundamentalen Veränderung, die unser Zusammenleben in den letzten Jahrzehnten durchgemacht hat und die wichtige Auswirkungen für Religion und Kirche hat.

II. Die Entwicklung zur Erlebnisgesellschaft

Entstehung und Merkmale der Erlebnisgesellschaft sind am besten zu verstehen, wenn wir einen Blick auf die letzten 200 Jahre der Entwicklung unserer Gesellschaft werfen. Denn was die Erlebnisgesellschaft kennzeichnet, erklärt sich, wenn wir sie etwa mit dem 19. Jahrhundert oder der Nachkriegsgesellschaft der späten 40er und 50er Jahre vergleichen. Für Jahrhunderte war das Leben einer Mehrzahl von Menschen in der Gesellschaft durch den Überlebenskampf geprägt. Für die meisten Menschen zählten äußere Sicherheit sowie existentielle Versorgung mit Nahrung, Kleidung und Obdach. Situationen, Gegenstände, quasi alles, was den Menschen in ihrem Leben begegnete, wurde ausschließlich daraufhin geprüft, ob und wie dies praktischen Nutzen bringen konnte. Schulze beschreibt dieses Bewusstsein als Außenorientierung, welche besonders auf die Erlangung und Sicherung von Ressourcen, Sicherheit, Vermeiden negativer und Erlangen positiver sozialer Sanktionen sowie Abwehr von Gesundheitsrisiken fokussierte (Schulze 1992, 67). Lebensaufgabe war das physische Überleben und eine Versorgung mit allem für das Überleben Notwendige. Knappheit und Bedrohung des physischen Lebens bestimmte das Leben der Menschen und fand nicht zuletzt Ausdruck in den sozialen und politischen Großbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts: Arbeiterbewegung, Sozialgesetzgebung, Kolonialismus (ebd., 68).

Parallel zu dieser Überlebensorientierung der Menschen war das Leben durch die jeweilige soziale und ökonomische Situation begrenzt, in der man durch seine Geburt verortet war. Soziale Milieus waren insbesondere im 19. Jahrhundert und bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts ökonomisch hierarchisiert, d.h. Armut und Wohlstand bestimmten, in welchen Kreisen der Gesellschaft man zuhause war (ebd., 536). Ob jemand ein Auto fuhr, und wenn ja, welches, war fast immer ein eindeutiges Zeichen, welcher sozialen Schicht ein Mensch angehörte. Der Lebensstandard bestimmte klar das Milieu dem man angehörte bzw. welchen gesellschaftlichen Gruppen man zugeordnet werden konnte. Lebensziel war ein langsames aber stetiges Aufsteigen auf der Wohlstandsleiter und eine stetige Verbesserung des Lebensstandards (vgl. Hitzler 2010, 249f).

Diese Lebensauffassung, die bis in die 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts das Denken und Handeln eines Großteils der Gesellschaft bestimmte, bekam nachhaltige Risse durch eine Reihe gesellschaftlicher Veränderungen. Mit einem mehr und mehr verwirklichten „Wohlstand für alle“ brachen die althergebrachten sozialen Milieus auf. Plötzlich war nicht mehr der Geldbeutel und die Größe des Autos der entscheidende Maßstab, sondern Lebensalter und Stil gewannen rapide an Bedeutung. Jugendkulturen wurden Ausdruck einer Ablehnung der Lebensformen älterer Generationen. Entscheidender Unterschied zur vorherigen Form der Gesellschaft war insbesondere, dass die neu entstehenden Milieus vom Einzelnen recht frei gewählt werden konnten. Statt Geburt und finanziellen Ressourcen zählte der Einzelne sich auf Grund völlig anderer Werte und Maßstäbe zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe. Schulze fasst diese Entwicklung wie folgt zusammen: „Stilfragen, Ansichtssachen, Lebensphilosophien wurden subjektiv wichtiger als soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Steigerung des Lebensstandards.“ (Schulze 1992, 537) Dieser Paradigmenwechsel in der Gesellschaft vom Überleben zur Lebensgestaltung führt seit einigen Jahrzehnten dazu, dass die Menschen sich mehr mit sich selbst beschäftigen bzw. über sich nachdenken: Das Subjekt stellt sich selbst ins Zentrum des Denkens und Handelns (ebd., 35).

Um zu verstehen, was das bedeutet, hilft wieder der Vergleich mit der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und der Nachkriegszeit: Der Mensch der alten gesellschaftlichen Wirklichkeit sah den Sinn seines Lebens außerhalb seiner selbst. Das Leben wurde als Überlebenskampf, Dienst, Selbstaufopferung oder Pflichterfüllung verstanden (ebd., 40). Seit sein Überleben gesichert ist, hat der Mensch zunehmend mehr die Wahl, wem oder welchem Ziel er sein Leben widmen will – einen Wandel, den Schulze treffend als „von der Pauperismuskrise zur Sinnkrise“ (ebd., 55) beschreibt. Der Begriff „Sinnkrise“ bezeichnet dabei schon eine neue, bisher in der Breite der Gesellschaft nie dagewesene Bedrohung: Die Infragestellung traditioneller Sinn- und Wertemuster führt zu einer Vielfalt der Lebensentwürfe und damit nicht selten zu einer Desorientierung in Fragen von Lebenssinn und Lebensgestaltung. Die beinahe unbegrenzten Möglichkeiten bei der Wahl „seines“ Lebensentwurfs lässt alte Sinnmuster in den Hintergrund treten und führen zu einer neuen Rationalität, der Schulze den Namen „Erlebnisrationalität“ gibt. Für Schulze finden in der Erlebnisorientierung die verschiedenen Lebensentwürfe der heutigen Gesellschaft zueinander. Auf die Frage, was diese Erlebnisorientierung ist und wie sie sich auswirkt, soll der nächste Abschnitt eine detailliertere Antwort geben.  

III. Merkmale der Erlebnisgesellschaft

Laut Duden ist ein Erlebnis ein Geschehen, dass jemand als äußerst beeindruckend erfährt.1Vgl. www.duden.de/rechtschreibung/Erlebnis Es ist also eine Erfahrung, die aus dem Alltag heraus sticht und von daher etwas Besonderes ist. Warum ist nun die Orientierung hin zum Erlebnis so zentral für den heutigen Menschen?

Wir haben bereits festgestellt, dass der heutige Mensch zunehmend mehr Wahlfreiheit besitzt, wie er sein Leben gestalten möchte. Er ist geradezu gezwungen, sich zu entscheiden, da ihm diese Entscheidungen nicht mehr wie in früheren Gesellschaften abgenommen werden. Dahrendorf konstatiert deshalb in Anlehnung an das bekannte Diktum Immanuel Kants: „Der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit ist ein großer Schritt in eine Welt der Optionen. Modernität bedeutet, daß Optionen, Wahlchancen, an die Stelle überkommener Bindungen treten.“ (Dahrendorf 1983, 122/123). Der Mensch empfindet es als zentrale Lebensaufgabe, losgelöst von althergebrachten Bindungen und Pflichten seinen Lebensweg zu finden. Diese Entwicklung hin zur Wahl ist bei näherem Hinschauen allerdings nicht nur ein Segen. Schulze weist darauf hin, dass „Freiheit den Charakter einer Bedingung hat.“ (Schulze 1992, 55). Wahlfreiheit führt zu einem Druck, sich entscheiden zu müssen. Und tatsächlich sind Entscheidungen in jedem Lebensbereich gefragt: Beziehung, Familie, Körper, Konsumartikel, Essgewohnheiten, Beruf, Wohnsituation, etc. Von der Frage, mit wem man zusammen lebt, bis zur Wahl des Duschgels im Drogeriemarkt – alles steht normalerweise in der Entscheidungsfreiheit des Einzelnen: „Gewachsen sind die Optionen, zurückgegangen ist die Regulierung von Entscheidungen durch Konventionen und autoritative Instanzen. Jeder muß selbst versuchen, Einheit und Ordnung in sein Leben zu bringen.“ (ebd., 349). 

Auf der Suche nach „seiner“ ganz persönlichen Lebens-Ordnung stellt sich dabei vermehrt die Sinn-Frage. Das Problem lautet nicht mehr: „Wie erreiche ich dies oder jenes?“, sondern vielmehr: „Was will ich eigentlich?“ (Vgl. ebd., 33). Auf der Suche nach Sinn und Inhalt beginnt man, mehr über sich selbst nachzudenken. Man gewinnt eine innenorientierte Perspektive, das heißt das eigene Subjekt steht im Mittelpunkt der Reflexion. 

Was dabei die meisten heutigen Menschen trotz aller Individualität miteinander teilen, ist die Suche nach einem schönen, interessanten, angenehmen, faszinierenden Leben (ebd., 22). Jeder versucht, sein Leben so zu arrangieren, dass er es schön findet. „Schön“ ist hier ein Begriff für positiv bewertete Erlebnisse (ebd., 39). Was für den Einzelnen dabei „schön“ ist, kann ganz unterschiedlich sein. Der Mensch ist ständig auf der Suche nach positiven Erlebnissen und versucht, die äußeren Umstände für seinen Wunsch nach Erlebnissen zu funktionalisieren. Diese fundamentale Orientierung des heutigen Menschen ist nach Schulze eben die Erlebnisrationalität: „Erlebnisrationalität ist der Versuch, durch Beeinflussung äußerer Bedingungen gewünschte subjektive Prozesse [d.h., positive Erlebnisse] auszulösen“ (ebd., 40). Erlebnisse (die es ja schon immer gab) sind dabei im Vergleich zu früheren Gesellschaften nicht mehr nur eine Begleiterscheinung des Handelns, sondern entwickeln sich zum Selbstzweck. Man lebt und handelt, um zu erleben. Während früher Menschen handelten, um ihr Überleben zu sichern, um Pflichten zu erfüllen oder religiösen Gesetzen zu gehorchen, so bestimmt heutzutage eben jene innenorientierte Rationalität, jene Orientierung am Erleben, wie gehandelt und entschieden wird. Schulze bringt diese Entwicklung auf den Punkt: „Erlebnisansprüche wandern von der Peripherie ins Zentrum der persönlichen Werte; sie werden zum Maßstab über Wert und Unwert des Lebens schlechthin und definieren den Sinn des Lebens.“ (ebd., 59). 

Die Erlebnisorientierung wird also für den Menschen, der sich von seinen traditionellen Entscheidungshilfen weitgehend emanzipiert hat, zum entscheidenden Handlungsmaßstab. Vom generellen Lebensstil bis hin zum Konsumartikel wird primär das ausgewählt, was den höchsten Erlebniswert hat. Die Angebotsflut in heutigen Supermärkten oder anderen Warenhäusern spiegelt sowohl die vielen Optionen, wie auch die Erlebnisorientierung der heutigen Gesellschaft wider. Dinge wie etwa Produkte zur Körperpflege füllen heute gesamte Regalfronten und sind viel mehr als nur Mittel zum Zweck. Sie vermitteln Erlebnischarakter und ihr Gebrauch soll als solcher verstanden werden. Viele Angebote in der heutigen Gesellschaft leben sogar ausschließlich von ihrem Erlebniswert – wie etwa die gesamte Unterhaltungsindustrie oder der Tourismus. Getrieben wird diese fundamentale Erlebnisorientierung nicht zuletzt dadurch, dass der Mensch über mehr Zeit und Einkommen verfügt, als frühere Generationen. Die schon angedeutete Neufokussierung der Gesellschaft macht es dem Menschen deshalb in einer noch nie dagewesenen Intensität möglich, seine Erlebnisorientierung auszuleben.

Neben den vielen Freiheiten, die diese moderne Art des Lebens durch die Emanzipation von althergebrachten Strukturen gebracht hat, birgt diese „schöne neue Welt“ auch manche Problematiken. Zum einen besteht die Gefahr der Enttäuschung. Die ständige Verbesserung vieler Produkte – seien es PCs, Smartphones, Urlaube in immer exotischeren Ländern, etc. führt zu einer inflationären Wirkung im Blick auf den Erlebniswert. Es braucht immer neue „Kicks“, immer neue Erlebnisse, wenn der Sinn des Lebens im Suchen und Finden „schöner Erlebnisse“ besteht. Die Wirkung derselben hat eine kurze Halbwertszeit. Immer Neues muss den Erlebnis-Hunger befriedigen. Kauft man sich ein neues Handy, stellt man sich bereits während des Kaufs die Frage, was wohl das Nachfolgemodell besser kann. „Die Erhöhung der Erlebnisgeschwindigkeit geht … auf Dauer zu Lasten der Erlebnistiefe.“ (Höhn 1999, 17) Kaum ist ein Ereignis erlebt, stellt sich schon die Frage, was danach kommen soll. Erlebnisse verflüchtigen sich immer schneller und die Gefahr, dass das nächste Erlebnis nicht den gewünschten Effekt erzielt, steigt. Wird der Effekt, ein „schönes Erlebnis“ zu haben, jedoch nicht erzielt, ist man enttäuscht.

Zudem fragt man sich nicht selten ängstlich, ob das neue Produkt, der Job, die Beziehung, etc. wirklich die erhofften Erlebnisse produziert. Neben der Angst vor gähnender Langeweile tritt zudem die Angst davor, etwas zu versäumen. Entscheidet man sich für eine Sache, entscheidet man sich zwangsläufig gegen etwas anderes.

Neben der Gefahr der Enttäuschung greift zudem eine weit verbreitete Unsicherheit bezüglich der Frage um sich, was eigentlich mit dem Leben anzufangen sei. Auch die Antwort, man wolle „ein schönes Leben“, ist letztlich nicht hilfreich, denn wer definiert, was ein schönes Leben ist und wann ein Erlebnis positiv zu bewerten ist? Das Problem der modernen Lebensart liegt nicht zuletzt darin, dass man nicht recht weiß, was man will. Als Konsequenz reagieren viele Menschen auf diese tief empfundene Unsicherheit mit einem starken Orientierungsbedürfnis. Menschen, die eigentlich alle Freiheiten und Wahlmöglichkeiten hätten, zeigen Bereitschaft zur Uniformität. Die Individualisierung der Gesellschaft, die Abnahme traditioneller Sozialzusammenhänge, die grenzenlosen Wahlmöglichkeiten – all jenes führt nicht etwa zu einer Auflösung, sondern vielmehr zu neuen Formen der Gemeinschaft: „Wie erzwungene Gemeinschaft eine Individualisierungstendenz erzeugt, so die Entgrenzung des Lebens eine Bereitschaft zur Gemeinsamkeit.“ (Schulze: 1992, 78) Wichtig ist hierbei jedoch, dass sich diese neuen Gemeinschaftsformen in einem von früheren Sozialzusammenhängen unterscheiden: neue Gemeinschaftsformen beruhen auf Freiwilligkeit, häufig nur mit einem geringen Maß an Verbindlichkeit. 

Die Vermischung von verschiedenen althergebrachten Milieus führt, wie Winfried Gebhardt beobachtet, zu einer Verbindung früher klar getrennter Lebensformen innerhalb der Gesellschaft. Bürgerliche Hochkultur, populäre Massenkultur, Volkskultur und Trivialkultur lösen sich zunehmend auf und vermischen sich (Gebhardt 2010, 293). Klassische Musik in der Disco, Techno in der Kirche, Hip-Hop im Museum – gerade die Musik zeigt exemplarisch, wie sehr die klassische bürgerliche Leistungsgesellschaft mit ihren jeweiligen institutionellen Bindungen sich in eine postbürgerliche Erlebnisgesellschaft verwandelt hat. Auf normative Bindungen und klassische Rollenverständnisse wird nur noch wenig Wert gelegt. Dafür entstehen ganz neue Szenen, also freiwillige Formen der Vergesellschaftung (vgl. Gebhardt 2010, 297).

Diese Formen der freiwilligen Gemeinsamkeit sind eng mit der Grundorientierung des modernen Lebens – der Erlebnisorientierung – verknüpft. SinnkriseErlebnisorientierung und freiwillige Gemeinschaftsformen als Merkmale der heutigen Lebensart sind die Stichworte, anhand derer nun im Folgenden die Rolle der Religion in dieser Gesellschaft genauer unter die Lupe genommen werden soll. 

IV. „Pope-Parade“: Religion und Erlebnisorientierung am Beispiel des katholischen Weltjugendtages  

Im November 2011 widmeten wir uns in der Initiative dem allgemeinen Verhältnis der heutigen Jugendlichen zur Religion und Kirche (Vgl. Braune-Krickau/Karstädter 2011). Der vorliegende Newsletter wird die dort festgehaltenen Ergebnisse nicht wiederholen, sondern vielmehr einenAspekt heutiger Religiosität, nämlich das Verhältnis von Religion und Erlebnisorientierung, stärker vertiefen. Wie wird Religiosität gelebt und im Kontext einer erlebnisorientierten Gesellschaft verstanden? Finden das Heilige und das Erlebnis zusammen und wenn ja in welchen Formen? 

Hervorragenden Einblick in die „religiöse Seele“ der heutigen Gesellschaft und insbesondere der Jugend bietet die Analyse der alle zwei bis drei Jahre stattfindenden Weltjugendtage der römisch-katholischen Kirche. Dieses in den 1980er Jahren auf Initiative von Johannes Paul II. gestartete religiöse Großereignis zieht Jugendliche scheinbar magisch an – zuletzt in Madrid rund 1,7 Millionen Teilnehmer. Bereits zum Weltjugendtag in Köln im August 2005 erblickte die staunende Öffentlichkeit mehr als 1 Million zum großen Teil begeisterte Jugendliche, die im scheinbar so säkularisierten Deutschland den Papst, den katholischen Glauben und nicht zuletzt sich selbst feierten. Wie konnte es dazu kommen? Was bewog die Jugendlichen zur Teilnahme? Und was sagt uns dieses religiöse Großereignis über das Verhältnis von jugendlicher Religiosität und Erlebnisorientierung? 

Laut des Forschungskonsortiums WJT, das den Weltjugendtag in Köln soziologisch untersucht hat, finden im Weltjugendtag Sinnsuche, Erlebnisorientierung und freiwillige Gemeinschaftsformen zusammen. Also all jene Dinge, die in der Analyse der Erlebnisgesellschaft als Merkmale herausstachen. In den Worten des Papstes sollte in Köln das gemeinsame spirituelle Erlebnis der „Schönheit des katholischen Glaubens“ stehen (WJT 2007, 13). Eine Formulierung, welche die zwei zentralen Aspekte der Erlebnisgesellschaft zusammenbringt: schönes Erleben und freiwillige Gemeinsamkeit. Das ganze Ereignis war darauf ausgerichtet, den sakralen, religiösen Aspekt mit jenem der Erlebnisorientierung zusammenzubringen. 

Diese Synthese von „Party“ und „Spiritualität“ wird zu einer universalen Erfahrung der meisten Teilnehmer des Weltjugendtags (ebd., 45) Dabei muss festgehalten werden, dass „Spiritualität“ für die Jugendlichen weniger eine intellektuelle Auseinandersetzung mit ihrem Glauben ist, sondern vielmehr ein Erlebnis. Genauer: Unter Spiritualität verstehen die Jugendlichen „emotional berührende, ganzheitlich-authentische, also mit 'allen Sinnen' gemachte Erfahrungen.“ (ebd., 46) Ob Musik mit Pop-, Rock- oder Hip-Hop-Elementen, Tänze, der enthusiastisch bejubelte Auftritt des Papstes oder diverse symbolische Handlungen – diese erst einmal für die Kirche untypisch erscheinenden Elemente führten dazu, dass das Ereignis Weltjugendtag im Nachhinein als „schön“ und „spirituell“ empfunden wurde (vgl. ebd., 46). 

Doch geht bei diesem Fokus auf das spirituelle Erleben nicht der tiefere religiöse Bezug verloren? Ist der Weltjugendtag nicht einfach nur ein profanes Spaßevent mit frommem Label? Die Soziologen des Forschungskonsortium WJT weisen darauf hin, dass religiöse, spirituelle Erfahrungen und „Party-Machen“ für die jugendlichen Teilnehmer in keiner Weise „in einem Ersetzungs-, sondern in einem Ergänzungsverhältnis zueinander stehen.“ (ebd., 55). 

Textfeld:  Poster der Bravo zum Weltjugendtag 2005 (Quelle: Bravo 17.08.05)

Der Weltjugendtag ist mehr als ein Spassevent – wenn auch „Spaß“ eine durchaus zentrale Rolle spielt. „Spaß“ ist ein Aspekt des schönen, spirituellen Erlebens, welches für die meisten Teilnehmer im Mittelpunkt steht. Gerade durch das „Party-Machen“, durch den Enthusiasmus bis hin zum Ekstatischen, werden religiöse Empfindungen und religiöse Bedürfnisse zum Ausdruck gebracht. Durch den Eventcharakter der Veranstaltung wird es den Jugendlichen ermöglicht, Gemeinschaft und Glauben sinnlich zu erleben (vgl. ebd., 60). In diesem Sinne werden der Gottesdienst zur Party und die Party zum religiösen Erlebnis. 

Neben der Tatsache, dass die Jugendlichen während des Weltjugendtags ihre Erlebnisorientierung ausleben können, ist insbesondere die Möglichkeit zur intensiven Gemeinschaftserfahrung Grund für die ungewöhnliche Popularität des katholischen Megaevents. Wir sahen bereits, dass in der heutigen Gesellschaft herkömmliche Gemeinschaftsformen, die auf althergebrachten sozialen Strukturen basierten, zum großen Teil von freiwilligen Gemeinschaftsformen abgelöst werden. Das religiöse Subjekt wählt selbst, an welcher Gemeinschaft er oder sie teilhat. Individualisierung und Orientierungsbedürfnis führen zu einer Sehnsucht nach gemeinschaftlichem Erleben. Dieses fundamentale Bedürfnis greift der Weltjugendtag auf und lässt die Teilnahme an diesem Event zu einem gemeinschaftlichen Erlebnis werden. Die Gemeinschaft des Weltjugendtags bietet den Jugendlichen die Botschaft „Du bist nicht allein!“ als Antwort auf die Sinn-Frage und den Orientierungsdruck des modernen Lebens. Diese starken Zugehörigkeitserfahrungen machen nicht selten einen Großteil des spirituellen Erlebnisses der Teilnehmer aus. Die Jugendlichen fühlen sich „als Teil einer 'temporären Gegenwelt', die sich gegen das sonst im jugendlichen Alltag dominierende Gefühlt eines 'für alles verantwortlich Seins' stellt.“ (ebd., 87). Der Weltjugendtag bietet so „erlebte Gemeinschaft“, die ganz zentral die Bedürfnisse und Sehnsüchte des modernen Lebens anspricht. 

Diese Gründe, am Weltjugendtag teilzunehmen, machen gleichzeitig deutlich, welche Elemente den Jugendlichen im Vergleich etwa zu den 70er und 80er Jahren nicht mehr in gleichem Maße wichtig sind. Zu nennen ist hier etwa die radikale sozialkritische und politische Perspektive vergangener Tage. Der Ansporn, gemeinsam die Welt zu verändern bzw. zu verbessern und Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu verwirklichen, ist – um nochmal Schulzes Begrifflichkeiten zu bemühen – einer innenorientierten Frömmigkeit gewichen. Diese sucht mehr als alles andere das individuelle, spirituelle Erleben. Zudem wird die Tendenz sichtbar, dass das Interesse an der kritischen Diskussion und Reflexion des Glaubens nachgelassen hat. Die Jugendlichen auf dem Weltjugendtag sind durchaus kritisch gegenüber der Institution Kirche und ihren ethischen Vorgaben. Doch dies führt nur selten dazu, dass die problematischen Themen offensiv diskutiert werden. Vielmehr nehmen sich die Jugendlichen das Recht, selbst zu entscheiden, was aus dem Angebot der katholischen Frömmigkeit für sie brauchbar und lebenswert ist (ebd, 212). Die oft so beschriebene „Selbstermächtigung des religiösen Subjekts“, welches ohne große institutionelle Vorgaben Religiosität lebt, kommt hier deutlich zum Vorschein.

Im Blick auf das Phänomen „Weltjugendtag“ lassen sich zusammenfassend fünf Strukturmerkmale nennen, die gemeinsam für die Attraktivität dieses Mega-Events stehen und gleichzeitig Aufschluss über das Verhältnis von Religion und Erlebnis geben: 

Erstens das totale Gemeinschaftserlebnis. Die jugendlichen Teilnehmer finden hier den „Thrill des Kollektivs“, das „belebende, weil die Langeweile eines durchrationalisierten Alltags sprengende Gefühl 'individueller Entgrenzung', 'körperlicher Flow-Erlebnisse' und 'ekstatischer Ganzheitserfahrungen'“. (ebd., 109). Der Weltjugendtag hat in diesem Sinne Ähnlichkeiten mit einem Rock- oder Popkonzert, ist jedoch gleichzeitig auch anders, da er daneben das spezielle „katholische“ Moment hat – die Erfahrung, Teil einer universalen community zu sein. 

Zweites signifikantes Merkmal des Phänomens Weltjugendtag ist die Symbiose aus religiösen und jugendkulturellen Elementen. Für die Jugendlichen war der Weltjugendtag eine „Religionsparty im Megaformat“ (ebd., 110). Religiöses im Gewand der Popkultur und Popkultur als Teil der religiösen Inszenierung – diese Symbiose verweist darauf, wie Jugendliche religiöse und säkulare Sinnwelten und Ritualformen miteinander vereinen. Diese werden als Einheit verstanden und gelebt. 

Ein drittes Merkmal schließt daran an und verweist auf die religiöse Selbstermächtigung Jugendlicher. Wie bereits erwähnt ist der jugendliche Teilnehmer des Weltjugendtags nur noch selten geneigt, sich den traditionellen ethisch-moralischen Vorgaben der institutionellen Kirche unterzuordnen. Die Wahlfreiheit als charakteristisches Element der Erlebnisgesellschaft macht sich auch in der Beziehung von Individuum und kirchlicher Institution bemerkbar. Der Jugendliche fühlt sich traditioneller Lebensform und Frömmigkeit nicht mehr verbindlich verpflichtet und wählt bzw. entwirft stattdessen seine „eigene“ Glaubenspraxis. Ziel ist es weniger, sein Leben nach normativen Richtlinien zu gestalten. Vielmehr wird die Lebenspraxis als Experiment gesehen, welches es pragmatisch zu bewältigen gilt (ebd., 111f). 

Viertens ist der Weltjugendtag attraktiv, weil er die Bühne bietet, sich mit Gleichgesinnten öffentlich zum Glauben zu bekennen. Dieser Aspekt erhält eine immense Wichtigkeit, da viele katholische Jugendliche im Alltag massiven Marginalisierungserfahrungen ausgesetzt sind (ebd., 112). Die pluralistische Gesellschaft der Gegenwart und der Rückgang der institutionell organisierten Frömmigkeit lässt junge Katholiken nicht selten zu Einzelkämpfern werden, die ihre religiösen Überzeugungen im Alltag privatisieren, um nicht als „uncool“ zu erscheinen. Auf dem Weltjugendtag haben diese Jugendlichen nun die Möglichkeit, „ihren“ Glauben öffentlich zu bekennen und zu feiern. Das sich hier trotz aller Individualisierung und religiösen Selbstermächtigung ein tiefes Bedürfnis der Jugend zeigt, ist bemerkenswert und weist darauf hin, dass institutionelle Religionsformen in der Glaubenspraxis der Jugendlichen durchaus noch eine Rolle spielen können. 

Fünftens weisen die Soziologen des Forschungskonsortium WJT darauf hin, dass der interkulturelle Erfahrungsaustausch zwischen den Teilnehmern eine nicht zu unterschätzende Komponente darstellt. Während des Weltjugendtags suchen die Jugendlichen den „Schulterschluss“ mit Katholiken verschiedener Kulturen und verstehen ihre Religion dabei als eine Art „universales Verständigungsschema“ (ebd., 114), welches interkulturelle Erfahrungen über die Grenzen von Kultur, Sprache und Frömmigkeitsverständnis ermöglicht. 

V. Religiöse Erlebnisorientierung – eine evangelische Perspektive   

Der katholische Weltjugendtag ist mit seiner Betonung des schönen Erlebens und der freiwilligen Gemeinsamkeit ein praktisches Beispiel für den Versuch einer Kontextualisierung des Religiösen in der Erlebnisgesellschaft. Auch von evangelischer Seite wird darüber nachgedacht, in welchem Verhältnis christliche Kirche und Erlebnisgesellschaft stehen. Der Theologe Albrecht Grözinger weist darauf hin, dass Gefühle und Erlebnisse schon immer wichtige Bestandteile von Religion und auch des christlichen Glaubens waren und immer noch sind (Grözinger 1996, 21). In diesem Sinne knüpft die heutige religiöse Erlebnisorientierung Jugendlicher an eine lange und lebendige Tradition an. Erlebnisse werden heutzutage allerdings nur noch selten bei institutionell organisierter Religion  gesucht. Vielmehr wird von den Jugendlichen auf religiöse Angebote zurückgegriffen, „die beim Individuum ansetzen [und] ihm den Weg zu einer authentischen Lebensform in Aussicht stellen“ (ebd., 21). Religion wird also stärker partiell in Anspruch genommen – die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts spielt auch in der Analyse Grözingers eine zentrale Rolle. Der moderne Mensch sucht sich aus den religiösen Angeboten jene aus, welche ihm „ganzheitliche Erfahrungen“ versprechen. Diese sollen die individuelle Erfahrungswelt des einzelnen Menschen ernst nehmen. Kurz: „Von der Religion werden vor allem 'starke Erlebnisse' erwartet.“ (ebd., 21). Die Analyse deckt sich damit in vielerlei Hinsicht mit den Eindrücken und Erkenntnissen des Weltjugendtags. 

Doch Grözinger mahnt im Folgenden, dass die Erlebnisgesellschaft und das Heilige nur einen „sehr brüchigen Bund eingehen“ könnten (ebd., 22). Denn die Wahlfreiheit des Menschen in der heutigen Gesellschaft stößt bei der Religion an bestimmten Punkten an ihre Grenzen. Der nach religiösen Erfahrungen suchende Mensch wählt eine Form der Religion, doch geht er dabei das Risiko ein, dass ihm „dort nicht das Vertraute, sondern das Heilige in seiner Fremdheit und Andersheit begegnet.“ (ebd., 22) Anders ausgedrückt: Gott ist immer schon da, vor jeder Wahl. Gott zu erleben hat das Potential, den menschlichen Erfahrungshorizont zu sprengen. 

Grözinger plädiert für ein qualifiziertes Einlassen auf die Erlebnisgesellschaft. Dieses Einlassen bedeutet allerdings nicht, sich kritiklos deren Bewegungsgesetzen anzupassen. Vielmehr kann der christliche Glaube helfen, sich richtig auf die Herausforderungen und Chancen der Erlebnisgesellschaft einzulassen. Der Kirche fällt die Aufgabe zu, dem religiösen Erlebnis, nach dem der religiöse Mensch sucht, ein bestimmtes Profil zu geben (ebd., 24). Was dies heißt, wird im Folgenden an zwei Punkten verdeutlicht. 

Menschen in der Erlebnisgesellschaft beiseite zu stehen bedeutet, Individualisierung zu ermöglichen. Viele Menschen sind von dem Druck, alles selbst wählen und entscheiden zu müssen, überfordert. Diese Menschen sind auf der Suche nach Orientierung, die nicht selten deprimiert in Isolation und Aggression endet. Grözinger plädiert auf Grund dieser Beobachtung dafür, dass die Kirche den Menschen „in ihren konkreten lebensgeschichtlichen Vollzügen begegnen“ solle (ebd., 26). Die Kirche muss die individuellen Suchbewegungen der Menschen ernst nehmen und ihnen nicht zuletzt anhand biblischer Motive Möglichkeiten der Lebensgestaltung aufzeigen. Die biblischen Berichte können helfen, dem individualisierten Menschen seine Orientierungslosigkeit zu nehmen und ihm zu zeigen, wie er gerade in seiner Individualität dem biblischen Gott begegnen kann. 

Zweitens kann kirchliche Arbeit den erlebnisorientierten Menschen zu tragfähigen Erlebnissen führen, indem sie aufzeigt, dass es Erlebnisse geben kann, die jenseits des Enttäuschungsrisikos liegen, mit dem Erfahrungen der Erlebnisgesellschaft behaftet sind. Gewöhnliche Erlebnisse haben in der Gesellschaft einen immer geringeren Erlebniswert. Dagegen liegt es in der Natur des christlichen Glaubens, suchenden Menschen mit der Erfahrung des ganz Anderen, des Fremden zu konfrontieren (ebd., 32). Diese ganz andere Erfahrung befriedigt nicht nur die aktuelle Erlebnissucht, sondern reißt den Menschen aus seinem Lebenszusammenhang und lässt ihn fundamental Neues erfahren. Viele biblische Erzählungen berichten gerade von diesen existentiellen Erlebnissen. Kirchliche Arbeit hat also die Chance, auf die Erwartungshaltung der Menschen nach Erlebnissen einzugehen. Das Erlebnis des römischen Offiziers unter dem Kreuz Jesu oder das Erleben der Frauen vor dem offenen Grab am Ostermorgen sprengt den menschlichen Erlebnishorizont und bietet die Möglichkeit einer veränderten Lebensperspektive jenseits immer oberflächlicher erlebter Erlebnisse.

VI. Konsequenzen für die christliche Jugendarbeit  

Bisher wurden Geschichte, zentrale Merkmale und Gefahren der Erlebnisgesellschaft genannt. Zudem wurde beleuchtet, wie die großen Kirchen versuchen, auf die Erlebnisorientierung der Menschen einzugehen. Daraus abgeleitet soll nun versucht werden, Konsequenzen für die Jugendarbeit zu formulieren, die Jugendmitarbeitern oder kirchlich engagierten Menschen im Umgang mit Jugendlichen helfen können. 

Wie unsere Analyse zeigte handeln junge Menschen in der heutigen Gesellschaft in allen Lebensbereichen erlebnisrational – auch im Blick auf Religion und Glaube. Diese Tatsache ist auch in der Jugendarbeit ernst zu nehmen. Wie stark die Erlebnisorientierung Jugendlicher tatsächlich ist, liegt allerdings nicht zuletzt daran, inwieweit Jugendliche noch in traditionelle Lebensformen und Denkmustern eingebunden sind. In der klassischen Kirchengemeinde „auf dem Lande“ sind Jugendliche häufig noch stark in traditionelles Handeln eingebunden. Hier sind die sozialen Strukturen engmaschig und vermitteln viel Kontinuität. Dagegen kennen Jugendliche in der Großstadt häufig viel weniger Konstanz und sind weniger in traditionelle soziale Strukturen eingebunden. Trotz aller regionaler Unterschiedlichkeit ist prinzipiell jedoch klar, dass die Erlebnisgesellschaft – zumindest unterschwellig – in jede Jugendgruppe und Kirchengemeinde Einzug gehalten hat. Dieser Entwicklung ist Rechnung zu tragen, wenn die Jugendlichen nicht für die kirchliche Arbeit verloren gehen sollen. Dass dies nicht bedeuten muss, sich ausschließlich an den „Bewegungsgesetzen“ der Erlebnisgesellschaft zu orientieren, wurde bereits von Grözinger bemerkt. 

Die Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung zeigte eine Bewegung von der Pflicht- zur Erlebnisgesellschaft. Nur wenige Menschen pflegen ihren Lebensstil heute noch primär, weil sie dies als „ihre Pflicht“ empfinden oder weil sie göttlichen bzw. religiösen Geboten folgen. Der Appell, bestimmte Pflichten zu erfüllen oder nach religiösen Geboten zu leben, lässt kaum noch einen Jugendlichen aktiv werden. Ebenso erfolglos wird sich der Versuch gestalten, bestimmte moralische Vorstellungen allein durch Appelle den Jugendlichen nahezubringen. Der christliche Glaube muss auch mit anderen Formen vermittelt werden, soll er im Leben der Jugendlichen eine Rolle spielen.

Für ein angemessenes Eingehen auf erlebnisorientierte Jugendliche ist es wichtig, zunächst die Gefahren der Erlebnisgesellschaft im Auge zu haben und von christlicher Seite Antworten auf diese zu finden. Wir sahen, dass Enttäuschung und Unsicherheit zwei tiefgreifende Erfahrungen erlebnisorientierter Menschen sind. Als Entgegnung auf diese Erfahrungen kann der christliche Glaube Perspektiven bieten, indem er Ausblick gibt auf eine Wirklichkeit jenseits inflationär empfundener Erlebnisse. In christlicher Jugendarbeit kann diese dort gelingen, wo eine lebendige Beziehung hergestellt wird zwischen biblisch bezeugten Erlebnissen mit Gott und den Erlebnissen aus der Lebenswelt der Jugendlichen. Wer Gott in seinem Leben erfahren hat, wird den Unterschied zu einem flüchtigen Erlebnis des Alltags spüren. Wenn Gott existentiell ins Leben eines jungen Menschen spricht, verblassen alle profanen Erlebnisse der Zeit. 

Außerdem: Für die biblischen Autoren waren Empfindungen wie Orientierungslosigkeit und Verunsicherung nicht fremd. Im Gegenteil: Sie gehörten elementar zur Erlebniswelt in biblischen Zeiten. Sie sind von daher Kernelemente der biblischen Geschichten. Erlebnisse aus der Bibel können deshalb in der kirchlichen Verkündigung (auch und insbesondere in Jugendkreisen) sehr gut als Vorbild auf der Suche nach echtem Halt und Orientierung dienen. 

Der Suche nach immer neuen „Kicks“ stellt der christliche Glaube eine umfassende und ganzheitliche Erfahrung entgegen, die authentisch in Gemeinschaft geteilt werden kann. Jugendlichen kann vermittelt werden, dass es den „ganz Anderen“ gibt, jemand, der den gewöhnlichen Erlebnishorizont sprengt. Häufig kann diese Vermittlung gerade dort geschehen, wo Jugendliche in ihrer Erlebnisorientierung angesprochen werden. Gemeinschaftserlebnisse wie etwa Klettern oder Kanufahren befriedigen einerseits den Wunsch nach schönen Erlebnissen. Andererseits bieten sie die Chance, gemeinschaftlich die Gefühle von Enttäuschung und Unsicherheit zu überwinden. In Gemeinschaft können erfolgreich christliche Werte und Wahrheiten vermittelt werden, weil sie Teil eines Erlebnisses sind, welches die Jugendlichen als „schön“ empfinden. Im Mittelpunkt der Vermittlung steht dann jedoch, dass die Botschaft des christlichen Glaubens die gefühlte Unbegrenztheit menschlichen Daseins positiv begrenzt. Das Evangelium überwindet die Unsicherheit des modernen Lebens. Sicherlich kann auch die Kirche nur die Richtung weisen, immer nur einzelne, vorsichtige Schritte gehen. Doch bei aller Vorläufigkeit der Erkenntnis hat die Kirche die Möglichkeit, Zeuge zu sein vom rettenden Handeln Gottes in Jesus Christus. Das Evangelium hat die Chance, Orientierung in einer Zeit tiefer Unsicherheit und fehlender traditioneller Bindungen geben. Christliche Jugendarbeit kann hier ansetzen und Jugendlichen helfen, ihren individuellen Lebensweg zu finden. 

Zudem gilt es, die Perspektive auf christliche Lehre und die Bibel so zu vermitteln, dass Jugendliche sich dazu in Beziehung setzen können. Die Bibel ist – wie erwähnt – ein Buch voller Erlebnisse. Das Klischee des alten, staubigen Buches voller moralisch veralteter Gesetze sitzt noch immer tief im Unterbewusstsein vieler Menschen. Thema christlicher Verkündigung muss die Betonung sein, dass Menschen teil einer Geschichte mit Gott sind. Die Bibel ist ein lebendiger Bericht von Erlebnissen, die den Horizont des Gewöhnlichen sprengen und so Anker werden in einer Zeit wachsender Orientierungslosigkeit. In diesem Sinne hat christliche Jugendarbeit eine große Chance, jungen Menschen Perspektive und Hoffnung zu vermitteln – trotz oder gerade wegen der Erlebnisgesellschaft.

Markus Karstädter

Endnoten

  • 1
    Vgl. www.duden.de/rechtschreibung/Erlebnis

Bibliografie

Becks, Hartmut, Der Gottesdienst in der Erlebnisgesellschaft. Zur Bedeutung der kultursoziologischen Untersuchung Gerhard Schulzes für Theorie und Praxis des Gottesdienstes, Bonn 1996

 

Braune-Krickau, Tobias / Markus Karstädter, Was glauben Jugendliche? ‚Religion ist nicht tot – sie hat sich nur verändert!‘, Newsletter der Initiative für werteorientierte Jugendforschung, Nr. 14, 2011

 

Dahrendorf, Ralf, Die Chancen der Krise. Über die Zukunft des Liberalismus, Stuttgart 1983

 

Gebhardt, Winfried, Die Verszenung der Gesellschaft und die Eventisierung der Kultur. Kulturanalyse jenseits traditioneller Kulturwissenschaften und Cultural Studies, in: Populäre Kultur als repräsentative Kultur. Die Herausforderung der Cultural Studies, Hg. von Udo Göttlicher / Winfried Gebhardt / Clemens Albrecht, 2. durchgesehene, erweiterte und aktualisierte Aufl. 2010

 

Grözinger, Das Heilige in der Erlebnisgesellschaft. Eine protestantische Deutung, Waltrop 1996

 

Hiztler, Ronald, Möglichkeitsräume. Diagnosen der Existenz am Übergang zu einer anderen Moderne, in: Gegenwärtige Zukünfte. Interpretative Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Diagnose und Prognose, Hg. von Ronald Hitzler / Michaela Pfadenhauer, Wiesbaden 2005

 

Höhn, Hans-Joachim, Erlebnisgesellschaft! – Erlebnisreligion? Die Sehnsucht nach dem frommen Kick, in: Die Zukunft der Religion. Spurensicherung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Hg. von Klaus Hofmeister / Lothar Bauerochse, Würzburg 1999

 

Megaparty Glaubensfest. Weltjugendtag: Erlebnis – Medien – Organisation., Hg. vom Forschungskonsortium WJT, Wiesbaden 2007

 

Schulze, Gerhard, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, 1992, 4. durchgesehene Aufl. Frankfurt/New York 1993.