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Zwischen Facebook und den Topmodels

Jugendliche Identitätssuche und die Medien

„Wer bin ich?“, „Wer will ich mal sein?“ Fragen, die heutige Jugendliche nicht gleichgültig lassen. Fragen, die jedoch schwer zu beantworten sind in einer Gesellschaft mit unendlich vielen Möglichkeiten. Abhilfe schaffen da die Medien. Sie bieten Orientierung. Inmitten einer unsicheren, pluralistischen Gesellschaft finden junge Menschen in TV-Formaten Werte und Rollenbilder, die sie umgehend aufnehmen und verarbeiten. Gleichzeitig bietet das Web 2.0 den Raum, sich selbst und seine Identität auszuprobieren. Dieser Newsletter untersucht diesen Zusammenhang zwischen jugendlicher Identität und den Medien. Er stellt die Frage, welche Rolle die Medien in der Selbstfindung Jugendlicher spielen und gibt Hilfen, wie Jugendarbeit darauf reagieren kann.

I. Einleitung

„Wir wollen über uns selbst bestimmen.“ Wohl kaum jemand würde diesem Satz nicht sofort zustimmen. Dabei kann dieser Wunsch nach Selbstbestimmung zweierlei bedeuten. Zum einen möchte jedermann frei von äußeren Zwängen sein. Also keine Bevormundung und Unterdrückung von außen. Niemand möchte in einer Diktatur leben, in der Freiheiten und Grundrechte des Menschen eingeschränkt sind. Zum anderen heißt Selbstbestimmung aber auch, zum Autor des eigenen Lebens zu werden.1Diese einleitenden Gedanken stammen aus Peter Bieris exzellentem Essay Wie wollen wir leben? aus dem Jahr 2011. Es bedeutet, für sein eigenes Denken, Wollen und Handeln die Regie zu übernehmen. Jemand, der selbstbestimmt lebt, lässt sich nicht manipulieren. Niemand ist gerne eine Marionette. Theoretisch. Doch wir leben in einer Welt, die durch die ständige Gegenwart der Medien geprägt ist. Der Alltag ist durchsetzt von medialem Dauerkonsum. Viele Menschen können sich ein Leben ohne TV, Internet und Smartphone nicht mehr vorstellen. Sind wir nicht eben dadurch zu solchen Marionetten der Medienwelt geworden, die brav ihr Leben so konstruieren, wie die Medien es uns vorgeben? Gerade Kinder und Jugendliche, so fürchten viele, werden mehr und mehr Spielbälle der medialen Welt, und sind den propagierten Selbstbildern, Lebensstilen und Weltvorstellungen schutzlos ausgeliefert.

Befürchtungen dieser Art gibt es nicht erst seit heute. Vor mehr als 80 Jahren veröffentlichte der britische Schriftsteller Aldous Huxley seinen späteren Weltbestseller Schöne neue Welt.2Der Titel des engl. Originals lautet Brave New World. Im Veröffentlichungsjahr 1932 gab es weder Fernsehen noch Internet, die Welt kannte weder Smartphones noch Facebook. Trotzdem hatte schon Huxley die Gefahr der Manipulation klar vor Augen. In Huxleys Vision der Zukunft wehren sich die Menschen nicht gegen eine Form der subtilen Unterdrückung. Sie verehren die Technik, die ihre kritische Denkfähigkeit vermindert, ja vernichtet. Huxleys Menschen leben fremdbestimmt und sind dabei zufrieden mit dieser Lebensform. Die Welt ist eine, in der man Informationen nicht zensieren muss, weil die Menschen von Informationen so sehr überschüttet werden, dass sie von selbst in Passivität und Zerstreuungen fliehen. Die Menschen werden kontrolliert und manipuliert, indem man sie vergnügt und unterhält.

Der Medienwissenschaftler Neil Postman wies in den 1980er Jahren darauf hin, dass Huxleys Vision in der Gegenwart angekommen sei. Insbesondere das Fernsehen würde die Denkstrukturen der Menschen verändern. Statt eine rationalen, wortbestimmten Urteilsbildung würde nun mit Bildern, Emotionen und verkürzten und substanzlosen Slogans argumentiert. Diese Veränderung bewirke, dass die Menschen in einer Medienwelt lebten, die Logik und selbständiges Denken der dauernden Zerstreuung und Unterhaltung opfere. Die Massenmedien „gliedern die Welt für uns, bringen sie in eine zeitliche Abfolge, vergrößern sie, verkleinern sie, färben sie ein und explizieren eine bestimmte Deutung der Beschaffenheit der Wirklichkeit."3Postman 1988, 20. Kurzum: Die Massenmedien treffen bis ins Tiefste des menschlichen Denkens und Handelns und formen dieses um, meist ohne dass der Betroffene davon etwas mitbekommt.

Doch was ist tatsächlich dran an der „Macht der Medien“? Welchen Einfluss haben sie auf unser Leben? Wahr ist, dass der Wandel unserer Gesellschaft zur Mediengesellschaft eine tiefgreifende Veränderung unseres Alltags darstellt – die zuallererst und am intensivsten bei den heutigen Jugendlichen zu beobachten ist. Jugendliche sind ganz fraglos Teil einer Welt, die durch Castingshows, Facebook oder WhatsApp geprägt ist. Sie sind Digital Natives,4Vgl. Tobias Braune-Krickau, Medium & Message. Über die Bedeutung von Medien für Jugendliche heute, Newsletter Nr. 7 der Initiative für werteorientierte Jugendforschung, 2009. Auf Seite 2 wird hier auf den Begriff „Digital Natives“ vertieft eingegangen. die diese Welt für selbstverständlich halten und sich mit ihr identifizieren. Wollen wir heutige Jugendliche verstehen, so müssen wir sie im Kontext jener Medien, jener digitalen sozialen Netzwerke und jener TV-Shows verstehen, die heutzutage häufig an die Stelle traditioneller Prägekräfte wie Familie, Kirche und anderer gesellschaftlicher Institutionen getreten sind. Medien prägen das Denken und Handeln Jugendlicher, sie geben Orientierung, und zeigen Möglichkeiten auf, das Leben zu gestalten. Kurz: Sie stiften Identität.

Um diese Beziehung zwischen jugendlicher Identität und Medien soll es in diesem Newsletter gehen. Wir gehen der Frage nach, welchen Einfluss die Medien auf die Identitätsentwicklung Jugendlicher tatsächlich haben. Dafür dreht sich zunächst alles um die Frage, was Identität überhaupt ist und welche Herausforderungen es in der heutigen Zeit für die Identitätsentwicklung in der Adoleszenz gibt. Ein zweites Kapitel arbeitet dann in aller Kürze die neusten empirischen Daten und Fakten zum Thema „Jugendliche und Medien“ auf. In einem dritten Teil werden schließlich die beiden Themenbereiche Identität und Medien unter der Fragestellung zusammengeführt, welche Rolle die Medien bei der Entwicklung der Identität Jugendlicher spielen. Dabei wird zum einen die Rolle des Fernsehens am Beispiel der Sendung „Germany's Next Topmodel“ und zum anderen die Funktion des Web 2.0 untersucht. Abgerundet wird der Newsletter mit einigen Antwortversuchen auf die Frage, wie die erarbeiteten Erkenntnisse in der Jugendarbeit eingesetzt werden können.

II. Identität im Jugendalter

„Identität“ ist einer jener Begriffe, die beinahe jedem Menschen geläufig sind und bei genauerer Betrachtung doch Verwirrung hervorrufen. Denn fragt man einmal genauer, was „Identität“ bedeutet, stellt man schnell fest, dass man es zwar irgendwie zu wissen glaubt, andererseits kaum treffend definieren kann. Auch in der wissenschaftlichen Diskussion herrscht hier viel Konfusion, sodass schon resignierend festgestellt wurde, dass „die Identität der Identität einigermaßen ungeklärt erscheint."5Zirfas/Jörissen 2007, 8. Am besten lässt sich Identität als Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ fassen. Was macht einen Menschen unverwechselbar zu eben diesem Menschen? Welche Merkmale, Eigenschaften, Gefühle und Handlungen sind das? Geht man einen Schritt weiter so stellen wir fest, dass ein Mensch nur selten bewusst an seiner Identität „arbeitet“. Vielmehr ist die verborgene und treibende Kraft hinter vielen Handlungen die „Identitätskonstruktion“. Was ein Mensch tut, wie er fühlt, was er hofft, wie er lebt – das sind alles Ausdrucksformen seiner Identität. Einerseits ist die Identität eines Menschen stets im Fluss. Sie ist deshalb nicht fest und unverrückbar, weil ein Mensch immer neue Erfahrungen macht, die ihn prägen und verändern. Gleichzeitig nimmt ein Mensch, wenn er in einem Moment bewusst über „sich“ nachdenkt, seine eigene Person als eine lebensgeschichtliche und situationsübergreifende Konstante wahr.6Vgl. Keupp 2009, 54. Erst dadurch ist es dem Menschen möglich, von sich als einer „Person“ zu sprechen und sich als Einheit wahrzunehmen.

Zurück zur Identität: „Identitätsarbeit“ bedeutet in diesem Zusammenhang also, dass ein Mensch all jene Dinge, die er erlebt, in einen für sich sinnhaften Zusammenhang zu bringen versucht.7Ebd., 58. Er versucht stets, aus allen Erfahrungsfragmenten eine Einheit, eine zusammenhängende Geschichte zu schaffen. Diese Geschichte, die sich ein Mensch auf die Frage „Wer bin ich?“ erzählt, erfährt anhaltend neue Wendungen oder Erweiterungen, je nach dem, was ein Mensch erlebt.

Identitätsarbeit kann besonders intensiv dort beobachtet werden, wo Menschen „Differenzerfahrungen“ machen, d. h. dort, wo sich die menschliche Lebenswirklichkeit verändert. Das geschieht  dann, wenn etwa feste Traditionen ins Wanken geraten, wenn andere kulturelle Lebensentwürfe die eigenen Lebensvollzüge in Frage stellen, wenn man erfährt, wie die eigenen Vorstellungen von Gut und Böse, Richtig und Falsch relativiert werden oder auch wenn wirtschaftliche oder politische Perspektiven unsicher werden.8Zirfas/Jörissen 2007, 12. In der Moderne, das heißt in den letzten 300 Jahren, hat der Mensch immer häufiger diese Differenzerfahrungen gemacht. War in früheren Zeiten für die meisten Menschen ohne Zweifel klar, auf welche Traditionen man sich verlassen kann, was richtig und was falsch ist, wo man herkommt und, wo man hingehört, kurz: Wer man ist, so sind diese Gewissheiten in der heutigen Zeit weitestgehend verlorengegangen. Die Erfahrung, dass alles möglich ist und alles auch anders sein könnte, ist ein wichtiges Charakteristikum der Moderne. 

Ist jedoch alles offen, alles möglich, nichts mehr fest, steigt der Wunsch nach Sicherheit und Selbsterkenntnis. Denn zerbrechen alte Sicherheiten und metaphysischen Gewissheiten, dann suchen viele Menschen zunehmend bei sich selbst nach Halt, ist man doch in einer entzauberten Welt auf sich allein gestellt. Die Beschäftigung mit sich selbst, mit seiner Identität, ist also eine Art Kompensationshandlung, die der Mensch in der Neuzeit vollzieht, um sich seiner selbst zu vergewissern.9Ebd., 16.

Gleichzeitig steht der heutige Mensch vor der Herausforderung, immer mehr und immer neue Anforderungen der Gesellschaft zu befriedigen. Der Mensch sieht sich einem wirtschaftlichen System gegenüber, das von ihm erwartet, zu funktionieren, Leistung zu bringen und nicht zuletzt flexibel zu sein. Zu den fundamentalen Differenzerfahrungen, denen der moderne Mensch ausgesetzt ist (Individualisierung, Enttraditionalisierung, etc.), kommt also auch die ganz direkte Anforderung, für kurzfristige Veränderungen bereit zu sein und ständig Risiken einzugehen.10Vgl. Sennett 1998, 10.

In seinem Artikel „Die Neuerfindung des Menschen“ brachte David Bosshart bereits 1995 die gewünschte neue Flexibilität und Fitness auf den Punkt: „Sich persönlich fit zu machen wird nicht mehr heißen, ein starkes Ich zu entwickeln, sondern in virtuellen Beziehungen zu leben und multiple Identitäten zu pflegen. Das heißt: Ich setze nicht mehr auf einen persönlichen „Kern“ und suche ihn, sondern ich trainiere mir die Fähigkeit an, mich nicht mehr definitiv auf etwas festzulegen. Damit bleibe ich fit für neue Wege. Metaphorisch gesprochen: Statt in die Tiefe gehe ich in die Breite. Ich werde zum Oberflächengestalter, ich gestalte mit meinen Stilen, torsohaften Charakteren und Identitäten Oberflächen. […] Dreh- und Angelpunkt der persönlichen Fitness ist nicht mehr der Aufbau einer eigenen, stabilen Identität, sondern das Vermeiden des Festgelegtwerdens."11Bossart 1995, 147. Der Soziologe Richard Sennett fragt angesichts dieser Anforderungen, wie es einem Menschen in einer aus Episoden und Fragmenten bestehenden Gesellschaft möglich sein könne, seine Identität und Lebensgeschichte zu einer Erzählung zu bündeln.12Sennett 1998, 31. Die Antwort auf diese Frage ist schwierig, insbesondere für Jugendliche, die in diese Welt hineingeboren wurden und die nichts anderes als eine so fragmentierte und gleichzeitig beanspruchende Lebenswirklichkeit kennen.

Längst wird die Frage nach der eigenen Identität in jedem Alter gestellt. Nichtsdestotrotz stellt die Jugendphase den wichtigsten und entscheidenden Lebensabschnitt dar, wenn es um Identitätsbildung geht. Denn in dieser Zeit kommt es zu den rasantesten natürlichen Veränderungen im Leben überhaupt: Körperwachstum, Geschlechtsreife, neue Bezugspersonen – das alles führt zu einer Neubewertung alter Orientierungen. Jugendliche machen jede Menge Differenzerfahrungen. Es ist eine „Phase des Zweifels, des Experimentierens, Entwerfens und Revidierens."13Abels 2010, 282. Im Speziellen beginnt ein Jugendlicher zu prüfen, inwieweit seine kindlichen Deutungsmuster mit seinen neuen Bezugspersonen zusammenpassen. Alte und neue Identifikationen müssen miteinander vermittelt werden.14Ebd., 284. Es kommt vor, dass die alten Bezugspersonen zugunsten der Peer-Group oder anderen, neu ins Leben getretenen Bezugspersonen zumindest zeitweise völlig aufgegeben werden. 

Zunehmend findet durch eine frühere körperliche Reife eine Vorverlagerung der Pubertät statt. Dies führt dazu, dass es bereits für 10- bis 13-Jährige mehr soziale Erfahrungsmöglichkeiten gibt. Peergroups findet man heute schon bei 9- bis 10-Jährigen.15Baacke 2003, 46. Daraus folgt, dass Jugendliche bereits sehr früh mit der gesellschaftlichen Realität außerhalb ihrer Familie konfrontiert werden (wobei die Familie stets eine wichtige Komponente bleibt) und diese früh zu einem wichtigen Teil ihres Lebens wird. Die Pubertät findet immer seltener nach dem Schema Kind → Ausbruch/Rebellion → Selbständigkeit statt, sondern ist viel „zerfaserter".16Ebd., 48. Das frühe Einsetzen der Pubertät führt nicht zuletzt dazu, dass Jugendliche immer früher das Gefühl haben, sich um sich selbst kümmern zu müssen. Leistungsdruck und unsichere Zukunftsaussichten fordern heraus und führen dazu, dass sich Jugendliche zunehmend früh selbst reflektieren und sich bewusst mit sich selbst auseinandersetzen. Der Druck, einen Überblick über die eigene Identität zu gewinnen, hat vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen zugenommen. 

Wir sehen also, dass junge Menschen heute zum einen in einer Gesellschaft heranwachsen, die an sich schon die Frage nach Identität und Zugehörigkeit in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Zum anderen ist es dann die Jugendphase an sich, die die Suche nach sich selbst zu einem überaus wichtigen Projekt macht.

III. Jugendliche und Medien aus empirischer Sicht

Näheren wir uns unserem Thema nun von einer anderen Seite an: der tatsächlichen Nutzung der Medien durch Jugendliche heute. 

Der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest untersucht jährlich den Medienumgang der 12- bis 19-Jährigen, zuletzt erschienen und für die hier genannten Daten konstituierend im November 201217Die komplette JIM Studie 2012 steht hier zum Download zur Verfügung: www.mpfs.de/?id=527. Zuletzt abgerufen 27.08.2013. (JIM 2012). Was uns hier interessiert ist, in welcher (Medien-)Welt die Jugendlichen tatsächlich leben, d. h. wie ihr alltäglicher Umgang mit TV, Internet und Smartphone aussieht.

Die „Hardware-Grundausstattung“ eines Jugendlichen besteht aus Computer/Laptop, Handy, Fernseher und Internetzugang. Diese Mediengeräte sind in quasi allen Haushalten vorhanden. Immerhin 9 von 10 Jugendlichen haben Zugang zu einer Digitalkamera, einem Radio und einem MP3-Player. Die deutlichste Veränderung zum Vorjahr ist der Besitz von Smartphones: 63% der Haushalte besitzen ein Smartphone, 47% der Jugendlichen besitzen ein eigenes Smartphone. 82% der Jugendlichen haben einen eigenen PC/Laptop, 60% besitzen einen eigenen Fernseher. Zudem besitzen 61% der Jungen eine feste Spielkonsole (38% der Mädchen).

Die Mediengeräte sind bei Jugendlichen in häufigem Gebrauch. Internet, Fernsehen und Handy werden von jeweils 91% der Jugendlichen regelmäßig, also täglich oder mehrmals die Woche, genutzt. Auch Musikmedien wie MP3 (81%), Radio (78%) und CDs/Kassetten (56%) spielen im Alltag eine große Rolle. Auf die Frage, wie wichtig die Nutzung verschiedener Medien für die Jugendlichen sei, antworteten 90% der Befragten, Musik zu hören sei sehr wichtig oder wichtig. Ebenso hat die Nutzung des Internets einen großen Stellenwert (88%). Auf Platz drei steht das Handy (80%), gefolgt von Radio (56%), Fernsehen (55%) und Büchern (55%). Darauf folgen Computer- und Konsolenspiele (46%) sowie die Tageszeitung (42%).

Hilfreich für unser Thema ist auch ein kurzer Blick auf die empfundene Glaubwürdigkeit der Medien. Im Falle einer widersprüchlichen Berichterstattung würde knapp die Hälfte der Jugendlichen (48%) am ehesten der Tageszeitung trauen. Danach kommt mit 22% das Fernsehen, vor dem Radio (17%) und dem Internet (11%). Hier wird deutlich, dass zumindest dann, wenn es um Informationen geht, die Jugendlichen den klassischen medialen Informationsquellen noch mehr als dem Web vertrauen.

Trotz der Tatsache, dass sich das Internet im Alltag jedes Jugendlichen etabliert hat, ist der hohe Stellenwert des Fernsehens ungebrochen. Nach eigener Einschätzung schauen Jugendliche von montags bis freitags täglich im Schnitt 111 Minuten fern. Dabei ist der durchschnittliche Wert bei Hauptschülern mit 137 Minuten um einiges höher als bei Gymnasiasten (96 Minuten). Mehr als die Hälfte der Jugendlichen (51%) nennt Pro7 als Lieblingssender, weit abgeschlagen folgen RTL (15%) und RTL2 (5%) auf den Plätzen zwei und drei. Öffentlich-rechtliche Sender spielen kaum eine Rolle. Immer beliebter werden bei Jugendlichen die sogenannten Scripted Reality Formate. Knapp zwei Fünftel aller Jugendlichen schaut zumindest ab und zu „Berlin – Tag & Nacht“, „Verdachtsfälle“ oder „Familien im Brennpunkt“. Fragt man die Jugendlichen nach dem Realitätsgehalt des Formats „Berlin – Tag & Nacht“, so sind 62% der Meinung, die Geschichten und Menschen seien frei erfunden. 22% glauben, dass Schauspieler Geschichten und Situationen nachspielen würden, die andere Menschen schon erlebt haben. 16% der Jugendlichen sind der Überzeugung, dass hier echte Menschen in ihrem normalen Alltag gezeigt würden. Diese Zahlen zeigen also, dass ein Großteil aller Jugendlichen diese Formate durchschauen, wenn auch längst nicht alle.

Diese Zahlen und Daten sollen reichen, um einen kurzen Überblick über die Bedeutung und Prägekraft von Medien im Leben der Jugendlichen zu geben. Im Folgenden werden wir nun schauen, welche Rolle diese so genutzten Medien bei der Identitätsbildung Jugendlicher spielen.

IV. Die Rolle der Medien bei der Identitätsentwicklung Jugendlicher

Medien sind in der Welt der Jugendlichen allgegenwärtig. Doch wie und inwieweit stiften sie tatsächlich Identität? 

Im letzten Abschnitt wurde deutlich, dass sich Jugendliche durch das Internet, TV und Smartphone zunehmend in neuen Kommunikationsstrukturen aufhalten. Eine Sendung im TV wird wenige Sekunden später bei Twitter kommentiert, gleichzeitig chattet man per Smartphone auf Facebook mit der besten Freundin und „liked“ nebenbei die Seite der Castingshow, die man gerade schaut. Man sieht, dass ein Freund diese Seite ebenfalls „geliked“ hat und postet dazu einen kurzen Satz auf seine Timeline. Dies ist eine typische Szene aus dem Alltag einer Jugendlichen. Was haben diese Handlungen mit der Identität der Jugendlichen zu tun? 

Grundsätzlich können wir zwei Funktionen der Medien für die Identitätskonstruktion Jugendlicher unterscheiden. Zum einen dienen Medien für Jugendliche als Materiallieferant ihrer Identitätsarbeit. Zum anderen nutzen Jugendliche Medien als Plattform ihrer Identitätsarbeit. Im Folgenden werden beide Funktionen im Einzelnen analysiert.

4.1. Medien als Materiallieferant

Was geschieht, wenn etwa ein 13-jähriges Mädchen regelmäßig die Castingshow „Germany's Next Topmodel“ im TV schaut? Wie beeinflusst es die Identitätsarbeit eines 14-jährigen Jungen, der regelmäßig Scripted Reality Formate konsumiert? Wir haben vorhin festgestellt, dass die Adoleszenz eines Menschen jene Zeit ist, in der besonders viel Identitätsarbeit geleistet wird. Jugendliche entwickeln ganz intensiv Lebensgeschichten, mit denen sie Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ geben. Jugendliche sind bemüht „sich zu erkennen“, das heißt sie sind auf der Suche nach etwas, was zu ihnen und ihrer Geschichte passt. Dabei benötigen sie eine Menge externen „Stoff“, um diese individuellen Geschichten mit Inhalt zu füllen. 

Hier treten nun die Medien auf den Plan. Sie sind „Erzählmaschinen“, die jedem Nutzer Ideen, Werte und gleich ganze Lebensmodelle vermitteln. Sie erzählen immerfort Geschichten, wie man lebt, leben könnte und sollte.18Keupp 2009, 71. Jugendliche bedienen sich an den vermittelten Erzählungen und bringen sie mit ihren eigenen, bereits bestehenden Erzählungen in einen für sie subjektiv sinnvollen Zusammenhang. Dabei sind es teils nur punktuelle Impulse, die identitätstechnisch verarbeitet werden, teils jedoch auch „gesellschaftlich vorgegebene Fertigpackungen,"19Keupp 2002, 216. also quasi fertige Geschichten, die die eigene, bisherige Lebensgeschichte neu deutet und beim Jugendlichen zu einem veränderten Selbstbild führt. 

Was nun „erzählen“ die Medien den Jugendlichen? Es geht dabei um Lebensformen, Ideen, Werte und Rollenbilder.20Mikos 2009, 12. Meistens werden diese durch mediale Figuren transportiert. Eine bestimmte Lebensform oder ein spezielles Rollenbild wird also nicht abstrakt verhandelt, sondern (fast) immer in Form einer Person, die für diese Lebensform bzw. Rollenbild steht oder es zumindest medial so verkörpert. Dabei sind insbesondere jene Inhalte (Personen) interessant, die durch „eine hohe persönliche Wertschätzung des Interessengegenstandes und eine positive emotionale Befindlichkeit während der Ausübung des Interesses"21Andreas Krapp. Zitiert in Würfel/Keilhauer 2009, 97. gekennzeichnet sind. Empfindet der Jugendliche die Person sympathisch, so ist das Maß an Identifikation höher. Der Jugendliche entdeckt sich im Leben, in den Gefühlen, den Wünschen und Werten der medialen Person wieder und erfährt ein Stück Selbsterkenntnis. 

Diese Identifikation geschieht nicht nur „auf Augenhöhe“, sondern die mediale Figur ist häufig auch Vorbild. Sie verkörpert das, was man gerne sein möchte, welches Leben man gerne führen will. Nehmen wir als Beispiel die Familie Geissen aus der Scripted-Reality Doku „Die Geissens, eine schrecklich glamouröse Familie".22Die fünfte Staffel lief vom 22.04.13-24.06.13 auf RTL II. Dargestellt wird hier der „Alltag“ einer ursprünglich aus Köln kommende Millionärsfamilie. Die Zuschauer sehen, wie die Familie Luxusgüter kauft, eine neue Nanny einstellt oder einen Urlaub erlebt. Erfolgreich ist die Sendung neben ihrem Unterhaltungswert deshalb, weil sie Rollenbilder und Lebensformen vermittelt, die für Jugendliche interessant sind und vorbildhaften Charakter haben. Der Ehemann Robert etwa wird als Self-made-Millionär vorgestellt, der immer einen lockeren Spruch auf den Lippen hat und trotzdem „normal“ geblieben ist. Als Zuschauer nimmt man nun unweigerlich eine Position zu dem Dargestellten ein, etwa indem man den gezeigten Lebensstil ablehnt oder als für sich wünschenswert entdeckt. Zudem werden hier Motive wie „Fleiß lohnt sich“ oder „Reich sein ist eine geile Sache“ für den Zuschauer unterhaltungsrelevant verpackt und vermittelt. Scheinbar „trashige“ TV-Formate dienen dazu, identitätsstiftende Impulse zu vermitteln, indem sie Figuren kreieren, an der sich die Zuschauer in irgendeiner Form orientieren können.

Die Tatsache, dass gerade eine Scripted Reality Doku als Beispiel genommen wurde, ist kein Zufall. Bestimmte Formate erscheinen besonders relevant für das Thema „Identität“ zu sein. Zu den Formaten, die nicht nur Unterhaltungswert haben, sondern darüber hinaus verstärkt die Identitätsarbeit anregen, gehören Sitcoms, Daily Soaps und eben insbesondere Reality-TV Formate. All diesen Formaten ist gemeinsam, dass in ihrem Mittelpunkt Figuren stehen, die zu Vergleichs- und Identifikationsprozessen anregen, kurz: die Identitätsvorlagen liefern. 

Das mit erfolgreichste und gleichzeitig häufig diskutierte Genre des Reality-TV der letzten Jahre ist das Genre der Casting-Shows. Im Folgenden werfen wir stellvertretend für dieses Genre einen detaillierten Blick auf „Germany's Next Topmodel“ (GNTM), eine Show, der medienwirksam immer wieder vorgeworfen wird, insbesondere junge Mädchen negativ zu beeinflussen.  

Jugendliche Identität und GNTM

Und jährlich grüßt das Murmeltier: Anfang jeden Jahres herrscht bei vielen Mädchen (und einigen Jungs) Ausnahmezustand. Die neue Staffel „Germany’s Next Topmodel by Heidi Klum“ steht quasi als Pflichtprogramm jeden Donnerstag fest im Wochenplan. Aus vielen Tausend jungen Mädchen sucht Heidi Klum mit Unterstützung einer Jury nach Deutschlands nächstem Topmodel, dass schließlich im Frühsommer begleitet von einer pompösen Liveshow gekürt wird. Die Quoten der Pro7-Show liegen auch nach acht abgedrehten Staffeln noch immer weit über dem Senderschnitt.23Alles zu den GNTM-Quoten findet sich hier: www.quotenmeter.de/n/64091/quotencheck-germany-s-next-topmodel. Zuletzt abgerufen 27.08.2013.             

Was fasziniert junge Menschen an dieser Sendung und wie beeinflusst es sie? Eine typische Antwort eines 17-jährigen Mädchens: „Weil sich viele Mädchen damit identifizieren können und den gleichen Traum haben."24Götz/Gather 2012, 89.

Mit diesem Statement stoßen wir zum Kern des Phänomens vor. Viele Jugendliche lieben diese Sendung, weil sie sich mit den Kandidatinnen identifizieren können. Dabei bietet sich den jugendlichen Zuschauern eine Vielzahl von Anschlussmomenten: die Kandidatinnen sind gleichalt bzw. etwas älter; die Kandidatinnen streben nach hohem beruflichen Status; die Kandidatinnen müssen sich außerordentlichen Herausforderungen stellen; schließlich sind die Kandidatinnen der ständigen Beurteilung durch andere ausgesetzt. All diese Situationen kennen die jungen Zuschauer vermehrt auch aus ihrem eigenen Leben. Damit sind die Kandidatinnen bei GNTM ideale mediale Identifikationsfiguren. 

Im Folgenden wollen wir in Anlehnung an den Artikel „Orientierung auf Augenhöhe? Der Blick junger Zuschauer auf die Castingshow-Kandidaten“ von Achim Hackenberg und Daniel Hajok25Hackenberg/Hajok 2012, 115-130. einmal genau hinschauen, wie Jugendliche die Kandidatinnen – und damit ihre zentrale und wichtigste Orientierungsinstanz – wahrnehmen. Zuallererst dienen die Kandidatinnen als Projektionsfläche eigener Wünsche und Träume. Insbesondere der Wunsch, bekannt und anerkannt zu werden, steht hier im Vordergrund. Die Kandidatinnen leben den Traum der Zuschauer. Gleichzeitig sind die Kandidatinnen „normal“, d. h. kommen aus ähnlichen Verhältnissen wie die Zuschauer und verhalten sich während der Sendung nicht abgeklärt professionell, sondern zeigen Emotionen und Überforderung. Des Weiteren dienen die Kandidatinnen als Vorbilder und Reibungsfläche. Neben der Mode, dem Stil und dem Aussehen der Kandidatinnen wird sich insbesondere auch am Verhalten einzelner Kandidatinnen orientiert. Eine 13-Jährige kommentiert: „Kleidung sieht gut aus, Frisuren müsste man, kann man auch mit ausprobieren, Schminke auch, die Tänze, die Körperbewegungen kann man auch mit nach Hause nehmen […] Piercings, würd ich auch gern alles haben."26Ebd., 119. Die Zuschauerin wählt subjektiv Teile der Medienerzählung aus, interpretiert sie und integriert sie in ihren Alltag. Im Gegenzug werden aber auch bestimmte Verhaltensweisen der Kandidatinnen, etwa Eitelkeit oder Selbstüberschätzung, abgelehnt. Hier wird die eigene Position in Abgrenzung zur medialen Figur (der Kandidatin) verfestigt. In Einzelfällen gibt es Hinweise dahingehend, dass Kandidatinnen „mit dem von ihnen repräsentierten Aussehen auch problematische Orientierungen zur persönlichen Körperwahrnehmung bieten."27Ebd. Gerade wenn bereits „dünne“ Kandidatinnen zu weiterem Abnehmen angehalten werden kann dies zu einer Idealisierung eines ungesunden „Schlankseins“ führen, ein Ideal, das bei mancher jungen Zuschauerin auf fruchtbaren Boden fällt. 

Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die Werte, die durch die Casting-Show vermittelt werden. Die Teilnehmerinnen stehen im Wettbewerb zueinander und dienen so als Vorbild für erfolgreiches Handeln. Erfolgreiche Kandidatinnen sind „ehrgeizig“, „selbstbewusst“, „durchsetzungsfähig“, „kritikfähig“ und „gut aussehend“, auch wenn sie vielleicht nicht das allergrößte Talent haben. Weniger Erfolg haben dagegen „naive“, „überhebliche“ oder „rücksichtslose“ Kandidatinnen.28Ebd., 121. Entscheidend für den Erfolg ist zudem, dass sich die Kandidatinnen anpassen. Wird eine neue Frisur oder ein erotisches Fotoshooting verlangt, so ist klar, dass nur jene Kandidatin weiterkommt, die sich den aufgelegten Bedingungen unterwirft und den Anweisungen der Jury Folge leistet. Hier kommen die Werte der sogenannten „Pragmatischen Generation“ (Shell-Studie) voll zur Geltung.

Jury und Kandidatinnen vermitteln durchgehend, dass sich Disziplin und echtes Bemühen um Verbesserung auch auszahlt. Hier finden Zuschauer ein ihnen aus dem Alltag vertrautes Motiv. Schließlich ist auch ihr Leben von Anforderungen gekennzeichnet. Jugendliche haben das Gefühl, durch die Casting-Show etwas für ihren Lebensweg und ihre Entwicklung mitzunehmen.29Götz/Gather 2012, 96.

Ergänzend zu den soeben genannten positiv besetzen Werten kommt der Gedanke des adäquat sozialen Handelns. Nur jene Kandidatin wird positiv wahrgenommen, die neben ihrer Erfolgsorientierung auch mit anderen Kandidatinnen gemeinsam agiert und freundschaftlich mit ihnen umgeht. Eine 14-jährige Zuschauerin kommentiert: „Also es bringt ja nicht, wenn das Bild, die Bilder alle gut aussehen, aber man irgendwie nicht mit den Leuten arbeiten kann, also wenn man halt auch so verträglich mit anderen ist."30Hackenburg/Hajok 2012, 124. Soziale Interaktion wird hier zum Wettbewerbsfaktor, der nicht unerheblich zum positiven Bild einzelner Kandidatinnen beiträgt. 

Zuletzt werden die Kandidatinnen auch in den Kategorien „Gewinner“ und „Verlierer“ wahrgenommen. Das durch die Show vermittelte Konzept lautet „Erfolg ist das Resultat von echter bzw. guter Leistung."31Ebd., 126. Der Leistungsgedanke ist hier das zentrale Motiv, welches von den jungen Zuschauern auch weitgehend akzeptiert wird. 73% der Kinder (9-11 Jahre), die regelmäßig die Sendung schauen, sind sich sicher, dass das Format zeigt, wie man sein muss, um erfolgreich zu sein.32Götz/Gather 2012, 96. Die großen Verlierer sind für die Zuschauer meist jene, die zwar gut sind, aber schlussendlich doch „kein Foto“ für die nächste Runde erhalten. Dazu Hackenberg: „Auffällig oft wird der Leistungswille der Gescheiterten infrage gestellt und den Verlierern bestimmte, als notwendig erachtete Tugenden (Einsatz, Disziplin, Selbstbewusstsein, Kritikfähigkeit etc.) abgesprochen."33Hackenburg/Hajok 2012, 127. Die Zuschauer verinnerlichen also den Maßstab „Leistung“ und folgen so dem „neoliberalen Imperativ von Markt und Leistung."34Roth-Ebner 2009, 39.

Zusammenfassend lässt sich zum Thema Medien als „Materiallieferant“ für die Identitätsarbeit Jugendlicher feststellen, dass mediale Formate eine Fülle von Werten, Rollenbildern und Lebensformen vermitteln, die von den Jugendlichen weitgehend aufgenommen und in ihre eigene Identitätsentwicklung aufgenommen und verarbeitet werden. Dabei handelt es sich bei dieser Verarbeitung nicht um ein simples Reiz-Reaktions-Schema. Vielmehr vermitteln mediale Formate Material, das von Jugendlichen in ganz verschiedener Weise subjektiv angeeignet und für die eigene Identität fruchtbar gemacht wird.35Götz/Gather 2012, 95. Auf Grund der so beschriebenen Funktion der Medien für die Identitätsbildung Jugendlicher lässt sich demnach sagen, dass Medien in ganz entscheidendem Maße zur Sozialisationsinstanz geworden sind, mit Hilfe derer sich junge Menschen die Fragen nach der eigenen Identität beantworten. 

4.2. „Mein Selbst ‚finde‘ ich nicht – ich stelle es her."36Helga Bilden, zitiert in Wagner 2009, 115. Medien als sozialer Raum der Identitätsarbeit Jugendlicher

Neben der äußerst relevanten Funktion als „Materiallieferant“ wirken die Medien noch in einer zweiten Weise auf die Identität Jugendlicher ein. Medien liefern nicht nur Rollenbilder, Werte, etc. sondern dienen auch als Plattform der Identitätsarbeit Jugendlicher. Medien bieten einen sozialen Raum, in dem sich junge Menschen ganz selbstverständlich bewegen und ihre soziale Identität testen und pflegen. Jugendliche chatten, bloggen, „zocken“ Onlinespiele, gestalten ihr Facebook-Profil, drehen Videos und laden sie auf Youtube hoch oder veröffentlichen selbstgeschossene Fotos auf Instagram. 

Doch warum sind junge Menschen so sehr mit dem sogenannten Web 2.0 und seinen Angeboten beschäftigt? Prinzipiell können hier zwei Funktionsweisen unterschieden werden. Zum einen dienen die Medien dem Identitätsmanagement, zum anderen dem Beziehungsmanagement.37Schmidt/Paus-Hasebrink/Hasebrink 2011, 26. Was bedeuten diese beiden Begriffe?

Identitätsmanagement meint, dass sich Jugendliche über den Gebrauch von Web 2.0 Angeboten mit sich selbst auseinandersetzen. Sie lernen Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ zu geben. Junge Menschen geben auf Profilseiten sozialer Netzwerke Facetten ihrer eigenen Person preis. Sie posten auf Timelines und Kommentarfeeds Erfahrungen, Empfindungen und eigene Perspektiven, die Teile ihres „Ichs“ widerspiegeln sollen. Die Medienpädagogin Ulrike Wagner unterscheidet dabei zwischen Jugendlichen, die sich „innenweltlich“ orientieren, und solchen, die eher eine „außenweltliche“ Orientierung haben.38Wagner  2009, 117f. „Innenweltlich“ bedeutet, dass diese Jugendliche eher ihre Gefühle, Werte und Lebensziele online zum Ausdruck bringen. Die Medien dienen als Plattform eigener Selbstreflexion. „Außenweltlich“ heißt, dass hier eher der persönliche Alltag, das Lebensumfeld und die eigenen Interessen im Vordergrund stehen.39Ebd., 118. Neben diesen Aspekten dienen die Medien dazu, die Frage „Was macht mich aus?“ zu beantworten. Eher „außenweltlich“ orientierte Jugendliche nennen Hobbys, Fähigkeiten und Interessen, posten Videos der Lieblingsband oder stellen etwa ein selbstgedrehtes Video des eigenen, spektakulären Skateboard-Unfalls ins Netz. Junge Menschen mit „innenweltlicher“ Orientierung setzen eher bei den eigenen Eigenschaften oder persönlichen Merkmalen an. Sie schreiben etwa darüber, aus welcher Motivation sie bloggen oder Fotos hochladen. Sie inszenieren in Fotos und Videos den eigenen Körper und setzen sich so mit ihm auseinander.

Klar ist: Mit Hilfe der intensiven Nutzung der Medien als Plattform bearbeiten Jugendliche ihre Identität und suchen nach Identitätskonstruktionen, die zu ihnen passen. Im Vergleich zu vergangenen Formen der jugendlichen Identitätsarbeit fällt auf, dass das Internet jungen Menschen in verstärkter Form die Möglichkeit des Experimentierens eröffnet. Die heutige Zeit bietet jungen Menschen unzählige Optionen an, wie man leben kann oder wer man sein möchte. Daher bedeutet aufwachsen heute, „Identität(en) zu konzipieren, sie wieder fallen lassen zu können, sie neu zu projektieren und zu behaupten, also mit Identitäten ‚spielen‘ zu können."40Schmidt/Paus-Hasebrink/Hasebrink 2011, 23. Diesen veränderten Bedingungen trägt das Web 2.0 mit seinen Angeboten Rechnung. Gleichzeitig muss jedoch gesagt werden, dass dies nicht heißt, dass sich Jugendliche im Web von der „realen“ Welt verschiedene, digitale Identitäten erschaffen, die nichts mit ihrer „offline-Welt“ zu tun haben. Die meisten Jugendlichen pflegen keine fiktiven Charaktere, sondern sehen vielmehr keinen Unterschied zwischen „virtueller“ und „realer“ Welt. Denn „virtuell ist zugleich sozial-real."41Würfel/Keilhauer 2009, 110. Soziale Kontakte werden sowohl „face-to-face“ als auch im Netz gepflegt. Dementsprechend wird auch aus dem Internethandeln erfahrene Bestätigung oder Selbstvertrauen auf andere soziale Beziehungen bezogen.42Ebd.

Damit kommen wir zur zweiten Funktion der Medien als Plattform jugendlicher Identitätsarbeit. Jugendliche setzen sich über das Web 2.0 nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit den Menschen um sie herum auseinander. Die Nutzung von Facebook, Instagram und Co. ist also auch als Beziehungsmanagement zu verstehen. Jugendliche nutzen die Angebote des Web 2.0, um insbesondere mit Gleichaltrigen, der Peergroup, zu kommunizieren. Ein 16-jähriges Mädchen beschreibt treffend ihr Medienverhalten wie folgt: „Dann schau ich immer, wenn meine engsten Freunde on sind, dann komme ich on."43Wagner 2009, 120. In Chats, Messenger, sozialen Netzwerken oder auch durch die Feedbackstrukturen der Videocommunitys findet die Kommunikation statt.

 Doch neben der reinen Handhabe als Kommunikationsplattform dienen die Medien auch als Ort, um soziale Anerkennung zu erfahren. Junge Menschen suchen im Web 2.0 nach kommuniziertem – am besten positivem – Feedback auf die präsentierte Identität.44Würfel/Keilhauer 2009, 102. „[A]n der Anerkennung durch andere entscheidet sich nicht zuletzt, welche prospektiven oder aktuellen Identitätsfacetten weiterverfolgt oder verworfen werden."45Ebd. Soziale Netzwerke, Chats und ähnliches tragen also ein soziales Potential in sich, welches von Jugendlichen abgerufen wird, um Identitäten zu testen, zu festigen oder von ihnen Anstand zu nehmen. So wird es wichtig, wie viel Freunde auf Facebook den „Gefällt mir“-Button des neuen Profilbildes geklickt haben oder welche Kommentare das neu hochgeladene Video erhält. All dies dient der Suche nach Annahme und Integration in eine soziale Gruppe, der man sich zugehörig fühlt und mit der man sich identifizieren kann. Ist die Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe vorhanden und wird immer wieder bestätigt, so kann man sagen, dass hier Identitätsarbeit erfolgreich abläuft. 

V. Ausblick

„Die Entwicklung zur Netzwerkgesellschaft kann von den Kirchen nur um den Preis ihrer Fortexistenz ignoriert oder ausgesessen werden."46Haese 2006, 264. Diese zugegeben etwas dramatische Formulierung weist auf einen wichtigen Aspekt hin: Christliche Jugendarbeit muss sich fragen, wie dem allgegenwärtigen Phänomen „Medien“ begegnet werden soll. Denn längst haben die Medien christliche Institutionen als prägende Instanz jugendlicher Identität verdrängt. Jugendliche orientieren sich an medialen Rollenbildern und nicht an Moses oder Jesus. Junge Menschen treffen ihre Peergroup viel häufiger auf Facebook, anstatt im kirchlichen Jugendkreis. 

So steht christliche Jugendarbeit vor der Aufgabe, junge Menschen im Umgang mit der Medienwelt zu begleiten und beizustehen. Jugendliche verarbeiten identitätsrelevant viele mediale Impulse latent und ohne bewusste Reflexion. Jugendarbeit kann hier ansetzen und Jugendliche dafür sensibilisieren, Werte und Rollenbilder zu hinterfragen. 

Auch wenn Jugendliche sich aktiv mit medialen Werten, Rollenbildern und Lebensentwürfen auseinandersetzen, so stellen sie fest, dass diese häufig unübersichtlich, verwirrend und widersprüchlich sind. Jugendliche stehen daher häufig vor der Frage, welche der „Geschichten“, die durch die Medien vermittelt werden, sie sich aneignen sollen. Jugendarbeit ist hier gefragt, sich auf eine aktive Beschäftigung mit medialen Inhalten einzulassen. Etwa könnten die durch eine Casting-Show wie „Germany’s Next Topmodel“ vermittelten Werte und Rollenbilder in der Gruppe aufgearbeitet und diskutiert werden. Welche Werte sind gut und zu bestätigen? Wo werden realitätsferne und problematische Vorstellungen vermittelt? Woran sollte man sich stattdessen orientieren?

Gerade die christliche Jugendarbeit ist gefragt, sich darüber klar zu werden, welche Werte und Normen man ergänzend oder anstatt der in den Medien vermittelten Ideen nennen und diskutieren kann. Um beim Bespiel zu bleiben: Gibt es aus christlicher Sicht Alternativen zum in Casting-Shows vermittelten „Leistungsprinzip“? Wie viel ist ein Mensch „wert“, wenn er etwa gar nichts leisten kann? Christliche Jugendarbeit kann hier das Motiv des Menschen als Geschöpf Gottes betonen. Der Mensch existiert nicht, weil er etwas geleistet hat, sondern weil von Gott gewollt und geliebt ist. Die christliche Vorstellung der bedingungslosen Zuwendung Gottes stellt somit einen gewichtigen Kontrast dar zum propagierten Leistungsprinzip in Casting-Shows.

Der christliche Glaube erhebt auch da Einspruch, wo eine unbedingte Anpassungsbereitschaft gefordert wird. Die Angst davor, die Erwartungen der Leistungsgesellschaft (oder der Casting-Jury) zu enttäuschen, führt dazu, sich den auferlegten Bedingungen völlig zu unterwerfen. Doch hat diese pragmatische Haltung nicht gerade zur Folge, seine Selbstbestimmtheit zu verlieren? Ist ein Mensch stets bereit, jeden möglichen Anspruch von außen erfüllen zu wollen, so verliert er jene kostbare Fähigkeit, Regie über sein Leben zu führen. Die stete Orientierung an den Erwartungen anderer führt einen Menschen so in eine geistige Unselbständigkeit. Im Wissen um die unbedingte Annahme Gottes kann es ein Christ wagen, seinen eigenen Weg zu gehen, auch wenn er damit die Erwartungen der Leistungsgesellschaft enttäuscht. Der christliche Glaube motiviert dazu, sich auch einmal gegen den Mainstream zu entscheiden und nicht jeder Erwartung einer Gesellschaft oder einer Jury entsprechen zu müssen.  

Zuletzt stellt der christliche Glaube Identifikationsmöglichkeiten jenseits der Medienwelt bereit. Problematisch ist allerdings, dass Charlie Harper, Heidi Klum oder Justin Bieber in Jugendlichen weniger Fremdheitsgefühle wecken als Moses, Jesus oder „der liebe Gott“. Hier gilt es für die christliche Jugendarbeit, Übersetzungsarbeit zu leisten und christliche Motive, Geschichten und Werte zu übertragen, sodass junge Menschen etwas damit anfangen können. Praktisch ist dies etwa durch eine Filmbesprechung möglich, in der christliche Werte erarbeitet und kontrovers diskutiert werden können.47Vgl. die dreiteilige Filmbesprechung zum Film „Eine für 4“ von Aline Seywald auf der Website der Initiative: www.ethikinstitut.de/index.php?id=286. Zuletzt abgerufen am 27.08.2013. Christlicher Glaube wird dort für junge Menschen identitätsrelevant, wo sie sich letztlich mit Gott als schützendem und liebendem Vater identifizieren können. Christliche Jugendarbeit sollte sich zum Ziel setzen, Raum zu schaffen für das jugendliche Suchen und Finden dieses Gottes.

Markus Karstädter

Endnoten

  • 1
    Diese einleitenden Gedanken stammen aus Peter Bieris exzellentem Essay Wie wollen wir leben? aus dem Jahr 2011.
  • 2
    Der Titel des engl. Originals lautet Brave New World.
  • 3
    Postman 1988, 20.
  • 4
    Vgl. Tobias Braune-Krickau, Medium & Message. Über die Bedeutung von Medien für Jugendliche heute, Newsletter Nr. 7 der Initiative für werteorientierte Jugendforschung, 2009. Auf Seite 2 wird hier auf den Begriff „Digital Natives“ vertieft eingegangen.
  • 5
    Zirfas/Jörissen 2007, 8.
  • 6
    Vgl. Keupp 2009, 54.
  • 7
    Ebd., 58.
  • 8
    Zirfas/Jörissen 2007, 12.
  • 9
    Ebd., 16.
  • 10
    Vgl. Sennett 1998, 10.
  • 11
    Bossart 1995, 147.
  • 12
    Sennett 1998, 31.
  • 13
    Abels 2010, 282.
  • 14
    Ebd., 284.
  • 15
    Baacke 2003, 46.
  • 16
    Ebd., 48.
  • 17
    Die komplette JIM Studie 2012 steht hier zum Download zur Verfügung: www.mpfs.de/?id=527. Zuletzt abgerufen 27.08.2013.
  • 18
    Keupp 2009, 71.
  • 19
    Keupp 2002, 216.
  • 20
    Mikos 2009, 12.
  • 21
    Andreas Krapp. Zitiert in Würfel/Keilhauer 2009, 97.
  • 22
    Die fünfte Staffel lief vom 22.04.13-24.06.13 auf RTL II.
  • 23
    Alles zu den GNTM-Quoten findet sich hier: www.quotenmeter.de/n/64091/quotencheck-germany-s-next-topmodel. Zuletzt abgerufen 27.08.2013.             
  • 24
    Götz/Gather 2012, 89.
  • 25
    Hackenberg/Hajok 2012, 115-130.
  • 26
    Ebd., 119.
  • 27
    Ebd.
  • 28
    Ebd., 121.
  • 29
    Götz/Gather 2012, 96.
  • 30
    Hackenburg/Hajok 2012, 124.
  • 31
    Ebd., 126.
  • 32
    Götz/Gather 2012, 96.
  • 33
    Hackenburg/Hajok 2012, 127.
  • 34
    Roth-Ebner 2009, 39.
  • 35
    Götz/Gather 2012, 95.
  • 36
    Helga Bilden, zitiert in Wagner 2009, 115.
  • 37
    Schmidt/Paus-Hasebrink/Hasebrink 2011, 26.
  • 38
    Wagner  2009, 117f.
  • 39
    Ebd., 118.
  • 40
    Schmidt/Paus-Hasebrink/Hasebrink 2011, 23.
  • 41
    Würfel/Keilhauer 2009, 110.
  • 42
    Ebd.
  • 43
    Wagner 2009, 120.
  • 44
    Würfel/Keilhauer 2009, 102.
  • 45
    Ebd.
  • 46
    Haese 2006, 264.
  • 47
    Vgl. die dreiteilige Filmbesprechung zum Film „Eine für 4“ von Aline Seywald auf der Website der Initiative: www.ethikinstitut.de/index.php?id=286. Zuletzt abgerufen am 27.08.2013.

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