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KulturethikAllgemein

Zur Diskussion um Antidiskriminierung, Toleranz und Akzeptanz

Keine Toleranz den Intoleranten?

I. Einleitung

3600£ Strafe – so lautete das Urteil eines britischen Gerichts im Fall von Peter und Hazelmary Bull (66/71) aus dem Jahre 2013. Zwei Jahre zuvor hatten die Gast­hausbesitzer einem homosexuellen Paar die Übernachtung in einem ihrer Doppelzim­mer verweigert. Ursache dafür war ihre (aushängende) „Doppelbett-Richtlinie“, in der sie alle Besucher freundlich darauf hin­wiesen, dass man Doppelbettzimmer aus christlicher Achtung vor der Ehe nur an verheiratete Paare vermieten würde. Das Gericht verurteilte diese Entscheidung als Verstoß gegen eine nationale Gleichbe­handlungsrichtlinie.1Vgl. https://www.theguardian.com/world/2013/nov/27/christian-guesthouse-owners-appeal-gay-couples [Stand: 28.06.2023].

Damit hat das Gericht entschieden, wer Recht hat. Aber ist das Urteil auch gerecht? Soviel ist deutlich: Menschen sollen vor ungerechtfertigter Benachteiligung auf­grund bestimmter Personenmerkmale ge­schützt werden, weil das ihr Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit beeinträch­tigt. Allerdings haben auch die Zimmer­vermieter dieses Recht. Sie nehmen für sich das Recht auf Ausübung ihres Glaubens sowie das Recht in Anspruch, Privatver­träge abzuschließen oder auch nicht. 

Das Beispiel zeigt, dass in der Umsetzung gleichheitspolitischer Maßnahmen die Rechte der verschiedenen Akteure in Aus­gleich miteinander gebracht werden müs­sen, und dass die Neigung zunimmt, diese Klärungen auf dem Klageweg zu erreichen. Zurück bleiben bei solchen rechtlichen Auseinandersetzungen auf der einen oder anderen Seite Menschen, die sich schlechter behandelt fühlen. Ist also der ganze Kampf gegen Diskriminierung in der Gesellschaft letztlich ein zweckloses Nullsummenspiel? 

Im Folgenden soll von der These ausgegan­gen werden, dass der Abbau ungerechtfer­tigter Diskriminierung ein legitimes Anlie­gen und auch aus christlicher Sicht ein wünschenswertes Ziel ist. Zugleich muss die Gefahr gesehen werden, ein vom Ansatz her legitimes Anliegen in politischer Ab­sicht zu überdehnen. Um die Grenze zu solcher Überdehnung angeben zu können, ist es nötig, die weltanschaulichen Voraus­setzungen der vorherrschenden Antidiskri­minierungsstrategie und die Verwendungs­weise des Konzepts der Toleranz freizule­gen und einer Prüfung zu unterziehen. Da­her soll im Folgenden der Antidiskriminie­rungsdiskurs genauer ausgeleuchtet und die wichtigsten Weichenstellungen identifiziert werden. Das soll in drei Schritten gesche­hen: 

Im ersten Schritt soll das Schlüsselkonzept der Toleranz analysiert werden, das den Maßnahmen gegen Diskriminierungen vo­rausliegt. Im zweiten Hauptteil werden die weltanschaulichen Voraussetzungen im Hintergrund des Antidiskriminierungsan­satzes herausgearbeitet und bewertet wer­den. Schließlich wird in einem dritten Schritt ein christlich-theologisches Ver­ständnis von Toleranz skizziert. 

II. Toleranz: Klärung eines wandlungsfähigen Begriffs

Es gibt nicht das eine Konzept, sondern geschichtlich gewachsen viele verschiedene Konzepte von Toleranz. Gelegentlich wird der Eindruck erweckt, als sei Toleranz eine Tugend, ja ein moralischer Höchstwert – vergleichbar etwa der Liebe oder der Wahr­heit. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es sich bei Toleranz um einen „Container“-Begriff handelt, der im Laufe der Geschichte unterschiedlich gefüllt wor­den ist.2Vgl. Forst, Toleranz, 30ff.: Forst gliedert das Tole­ranzkonzept in sechst unterschiedliche Bestandteile, die in jeder Toleranzkonzeption unterschiedlich bestimmt werden (z.B. die Grenze der Toleranz).  Je nach Kontext und Weltanschau­ung wurde er z.B. als Haltung der Liebe gegenüber Irrenden verstanden, als Strate­gie, um Macht zu stabilisieren, indem Min­derheiten gewisse Freiheiten zugestanden wurden, als ein Begriff für die friedliche Koexistenz von Menschen verschiedener Glaubensüberzeugungen, als anderes Wort für religiöse Freiheit, als Postulat der prak­tischen Vernunft oder als ethischer Schlüs­sel zu einer lebenswerten pluralistischen Gesellschaft.3Frei Übersetzt nach SEP, Toleration. 

Die Idee der Toleranz lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Sie ging damals mit einer starken Bindung an den eigenen Überzeugungsstandpunkt einher. Toleranz war die Antwort auf die Frage: Wie soll ich mit Menschen umgehen, die eine andere Position vertreten? „Tolerant“, lautete die Antwort, wenn man bereit war, das Uner­wünschte – wie der lat. Begriff tolerare, dulden verrät – zu erdulden, d.h. nicht da­gegen vorzugehen. Ganz im Sinne dieser Duldung wurde Toleranz etwa von den stoischen Philosophen als individuelle Tugend verstanden: als das Vermögen der Vernunft, unvermeidbares Leid, Unglück und Ungerechtigkeit, standhaft zu ertragen. Im kirchlichen Kontext wurde die Toleranz vor allem in der Frage des Umgangs mit Andersgläubigen (Juden, Heiden und Häretikern) diskutiert. Für etwa 1500 Jahre war dieser kirchliche Kontext für den Toleranzbegriff dominierend. Einschneidend für den Epochenübergang zur Neuzeit war vor allen Dingen ein sehr umfassender Wandel im Zugang zur Wirk­lichkeit und damit auch zur Toleranz. Im Geist der Aufklärung wurde zunehmend systematisch, kritisch und distanziert („ob­jektiv“) über Toleranz nachgedacht: Wurde vorher standpunktgebunden überlegt: „Wie soll ich mit dirumgehen?“ (Ich-Du), wurde nun im Kontext des aufkommenden Staats­denkens aus einer angenommenen Vogel­perspektive philosophiert: „Wie können Parteien A, B und C in einem Staat mitei­nander klarkommen?“.4Als klassischer Vordenker der neuzeitlichen Tole­ranzkonzeptionen gilt John Locke mit seinem Brief über die Toleranz

Damit veränderte sich in der Neuzeit auch die Funktion der Toleranz: In der Perspek­tive der antiken Autoren diente das Konzept als individuelle Lebensstrategie im Umgang mit unausweichlichen Umständen oder als Gebot der Liebe gegenüber Irrenden. In den staatstheoretischen Überlegungen der Neu­zeit wird Toleranz zum Schlüssel für ein friedliches Miteinander in einer weltan­schaulich pluralistischen Gesellschaft. Diese Verschiebung erklärt, wie Toleranz in der westlichen Gesellschaft zu einem zent­ralen und machtvollen Konzept werden konnte: Von ihr hängt nach neuzeitlichem Denken der Bestand einer friedlichen, mit­tels der allen Menschen gemeinsamen Ver­nunft um Ausgleich von Differenzen be­mühtes Gemeinwesen ab.

Zugleich birgt diese Verschiebung ein gro­ßes Konfliktpotential: Für grundlegend und verbindlich erklärt wird ein weltanschaulich „neutraler“ Standpunkt, von dem aus die einander begrenzenden Ansprüche der Bür­ger entschieden werden sollen. Demgegen­über gelten weltanschauliche Überzeugun­gen von nun an als Privatsache des Einzel­nen. Weil sie subjektiv sind, können sie keinen Anspruch auf öffentliche Geltung erheben. Der Pluralismus in der Gesell­schaft wird, anscheinend wertfrei, konsta­tiert. Aber ist ein solcher Standpunkt wirk­lich „weltanschauungsneutral“?

Im Denken der Postmoderne wird vom Ein­zelnen erwartet, seine subjektive Überzeu­gung als einen unter vielen möglichen Standpunkten zu relativieren. Die Selbstre­lativierung im Blick auf den Geltungsan­spruch der eigenen Überzeugung wird so­mit zur Voraussetzung der heutigen Tole­ranzkonzeption – ein historisches Novum. Galt Toleranz in der Prämoderne als Aus­druck weltanschaulicher bzw. religiöser Bindung, so unterstellte die Moderne die  Toleranz einem objektiven, geschichtslosen Geltungsanspruch der Vernunft. Die Auf­hebung dieses Vernunftanspruchs, Gel­tungsansprüche gewissermaßen aus der Perspektive eines neutralen Beobachters (eines „God’s-eyes-view“) beurteilen zu können, durch die Postmoderne resultierte in einem Toleranzkonzept, als dessen Vo­raussetzung es gilt, auf einen allgemeinen Geltungsanspruch der eigenen Überzeu­gung zu verzichten, denn konträre Wahr­heitsansprüche durchzusetzen führe stets zu Gewalt und Unheil.  

Wenn heute die Frage gestellt wird, ob Christen tolerant sind, muss daher zurück­gefragt werden: „In welchem Sinne tole­rant“? 

Eine wichtige Klärung, die für die Beant­wortung dieser Frage unverzichtbar ist, be­steht in der Unterscheidung zwischen Per­son- und Sachtoleranz,5Vgl. Hempelmann, Wahrheit, 47ff.  was bedeutet: Mit der Meinung einer Person nicht übereinzu­stimmen, sagt noch überhaupt nichts über die Einstellung zu dieser Person selbst aus. Das ist z.B. wichtig, wenn Menschen als „homophob“ oder „Homohasser“ bezeich­net werden, weil sie die Auffassung ableh­nen, alle Formen gelebter Sexualität seien gleichwertig.6Vgl. Hempelmann, Wahrheit, 40-43: Zwar beab­sichtigt eine Gesellschaft, in der jeder zu allem Ja und Amen sagt, dem Anschein nach tiefe gegensei­tige Achtung. Allerdings ist zu hinterfragen, ob sich hier nicht eigentlich Respektlosigkeit einschleicht, wenn der Fremde gar nicht mehr in seiner besonde­ren Eigenart als fremd wahrgenommen, benannt und „gewürdigt“ wird. „Frieden, oder weniger an­spruchsvoll: ein weniger konfliktträchtiges Mitei­nander kann es nur da geben, wo die Gegensätze nicht unterdrückt werden und sich dann darum nicht eines Tages eruptiv Ausdruck verschaffen; wo sie vielmehr artikuliert ausgetragen, und d.h. in vielen Fällen: wo sie auch persönlich erlitten werden kön­nen“ (ebd. 45). Inzwischen gilt jedoch be­reits die Weigerung, alle Lebensentwürfe als gleich anzuerkennen, als Ausdruck einer von Hass durchsetzten und Unterdrückung fördernden Einstellung7Vgl. Dowler, Gospel, 9 in Anlehnung an James Kalb. Doch warum soll es nicht möglich sein, Handlungsweisen einer Person als moralisch falsch zu beur­teilen, die Person aber von ganzem Herzen zu lieben? 

Toleranz kann als Konzept also unter­schiedlich verstanden werden, und es ist wichtig, in der öffentlichen Diskussion transparent zu sein und von anderen Trans­parenz einzufordern, was mit dem Begriff jeweils gemeint ist. Die Forderung nach „Toleranz“ ist niemals neutral, sondern un­ausweichlich mit der Durchsetzung weltan­schaulichen Voraussetzungen verknüpft. Ein wirklicher Unterschied besteht in der Diskussion eigentlich nur zwischen Akteu­ren, die die weltanschaulichen Vorausset­zungen ihres Toleranzkonzepts offenlegen und solchen, die dies hinter dem Schleier einer behaupteten (Schein-)Neutralität ver­bergen. Die damit verbundenen Probleme zeigen sich in den politischen Bemühungen, Intoleranz in Gestalt von Diskriminierung zu verhindern. Sie ist der Gegenstand des folgenden Abschnitts 

III. Maßnahmen gegen Diskriminierung: Ein intoleranter Kampf?

3.1. Gesetze gegen Diskriminierung

Was hat Diskriminierung mit Intoleranz zu tun? Unter Diskriminierung wird die „unge­rechtfertigte Schlechterbehandlung von Mitgliedern einer sozialen Gruppe oder einer sozialen Kategorie allein auf Basis ihrer Gruppen bzw. Kategoriemitglied­schaft“8Jonas, Diskriminierung, 80. bezeichnet. Eine solche Schlechter­behandlung gilt beispielsweise als gegeben, wenn eine Frau weniger Gehalt für die glei­che Arbeit bekommt als ein Mann, allein aufgrund der Tatsache, dass sie eine Frau ist. Ein anderes Beispiel wäre die Weige­rung, einer Familie eine Wohnung zu ver­mieten, weil sie türkisch ist.9Es gehört zu den vielen Inkonsequenzen des Anti­diskriminierungskonzepts, dass die Begründung, die Wohnung nicht an die Interessenten zu vermieten, da Kinder im Haus nicht erwünscht seien, zwar auch rechtlich anfechtbar wäre, das Merkmal, Kinder zu haben (die altersgemäßen Lärm verursachen) von den Kriterien der Antidiskriminierungsbestimmun­gen aber nicht erfasst werden. Als schutzwürdig gilt die „geschlechtliche Identität“.

Auch die schrecklichen Beispiele radikaler Intoleranz aus der Geschichte lassen sich als Diskriminierung10Der technische Begriff der Diskriminierung wurde erst im 20. Jh. eingeführt, um die großflächige Gruppenstruktur des Unrechts herauszustellen (vgl. Altmann, Discrimination). auffassen:  Man denke an die religiösen Massaker an „Häre­tikern“ im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit während der Kreuzzüge (11.-13. Jh.) und die kirchliche Inquisition (13.-18. Jh.), an den rassistisch konnotierten Skla­venhandel im der Zeit des Kolonialismus oder die Diskriminierung der Juden unter dem Nazi-Regime. All das sind Beispiele für moralisch ungerechtfertigte Benachtei­ligungen von Menschen, die mit der Zuge­hörigkeit zu einer bestimmten Merkmalka­tegorie oder Gruppe begründet wurden („Ungläubige“, „Schwarze“, „Juden“, etc.). Die diskriminierenden Verhaltensweisen gegen diese Gruppen, reichten von subtiler Ausgrenzung über den Entzug von Res­sourcen bis hin zu Misshandlung und vor­sätzlicher Tötung. Die Beispiele zeigen, dass die Durchsetzung der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz den aktiven Schutz vor ungerechtfertigter Diskriminie­rung nötig zu machen. 

Die Antidiskriminierungspolitik setzt sich zum Ziel, diesen Schutz mittels Gesetzge­bung zu gewährleisten. Sie verurteilt Dis­kriminierung als Verstoß gegen die Men­schenrechte, nach denen Menschen „frei und gleich an Würde und Rechten“ sind. Ziel der Antidiskriminierungspolitik ist es, den Gleichheitsgrundsatz nach Artikel 3 des Deutschen Grundgesetztes durchzusetzen, der dem Gesetzgeber nach Auslegung des höchsten Gerichts gebietet, „wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln“.11BVerfGE 98, 365; vgl. Beutke, Faktensammlung, 7.

Die Entwicklung des gesetzlichen Schutzes vor Diskriminierung begann in den 40er Jahren durch Diskriminierungsverbote in internationalen Menschenrechtsstandards. Im Jahr 2000 hat die EU durch Gleichbe­handlungsrichtlinien alle EU-Mitgliedsstaaten zur Umsetzung einer nationalen Antidiskriminierungspolitik verpflichtet. In Deutschland wurde diese Richtlinie 2006 in Form des Allgemeinen Gleichbehandlungs­gesetztes (AGG) in nationales Recht über­führt.

Das AGG führt eine Liste von Merkmalen12„aus Gründen der Rasse oder wegen der ethni­schen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität“ (AGG).  auf, die explizit unter Schutz gestellt wer­den. Genannt werden die „Rasse“ bzw. eth­nische Herkunft, das Geschlecht, die Reli­gion oder Weltanschauung, eine Behinde­rung, das Alter, oder die sexuelle Identität eines Menschen. Den Bürgern wird damit untersagt, diese Merkmale in festgelegten Lebensbereichen13In den Bereichen der Einstellungsbedingungen, der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, der Berufsberatung, der Mitgliedschaft und Mitwirkung in Vereinigungen, des Sozialschutzes, sozialer Ver­günstigungen, der Bildung und des Zugangs und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (vgl. AGG).  zu entscheidungsbestimmenden Faktoren zu machen – wie etwa das Merkmal der Homosexualität bei der Entscheidung einer Zimmervergabe im Gästehaus.

Bei genauerem Hinsehen wird an dieser gesetzlichen Bestimmung eine Verschie­bung deutlich, insofern der Begriff der Dis­kriminierung weiter gefasst wird als das historisch der Fall war. Toleranz zu üben bedeutet nicht länger lediglich, eine Praxis zu dulden, die man aus moralischen, religi­ösen oder anderen Gründen ablehnt. Intole­ranz beginnt nun bereits dort, wo man die Akzeptanz verweigert. Nach dem AGG ist „Duldung“ keine Option mehr: Verlangt wird nicht lediglich eine Unterlassung, nämlich dem anderen nichts anzutun, ob­wohl ich nicht mit ihm übereinstimme, son­dern ein Tun, nämlich ihn gleich zu behan­deln. Wer Menschen nicht gleich behandelt, dem wird unterstellt, er sei intolerant und würde Menschen zu Unrecht benachteili­gen. 

An diesem Wandel der Toleranzkonzeption lässt sich der problematische Gesinnungs­charakter der Antidiskriminierungspolitik ablesen, bei dem aus dem Mangel an Gleichbehandlung auf eine behauptete Ab­wertung von Menschen (mit besonderen Personenmerkmalen) geschlossen wird. Welche weltanschaulichen Voraussetzun­gen liegen der hier identifizierten Verschie­bung zu Grunde? 

3.2. „Wir sind doch alle gleich“ 

Ursprünglich gründete der neuzeitliche To­leranzgedanke im christlichen Menschen­bild,14Für eine ausführliche Darstellung der Entwicklung des Gleichheitssatzes s. Hattenhauer, Grundlagen, 29-59. Dowler argumentiert in Anlehnung an Sie­dentop darüberhinaus, dass darüberhinaus auch Werte wie Diversität, Toleranz und Inklusion keine Früchte der „befreienden“ Säkularisierung sind, sondern sich im Gegenteil aus dem christlichen Weltbild ergeben haben (vgl. ders., Gospel, 14f.).  also der Vorstellung davon, dass alle Menschen gleichwertig sind, weil alle Men­schen in das Ebenbild Gottes erschaffen wurden. Die neuzeitliche Toleranzvorstel­lung hält an der Gleichwertigkeit der Men­schen als ihrem Ausgangspunkt fest, ver­sucht diese aber säkular, nämlich von der Vernunftbegabung des Menschen her, zu begründen. In der Folge löste sich die Tole­ranz-Konzeption, die auf dieser Grundlage entwickelt wurde, von den Werten und Vorstellungen, die nach christlichem Ver­ständnis unlöslich mit diesem Menschen­bild verbunden sind, nämlich der Vorstel­lung, dass das menschliche Leben in eine Daseinsordnung eingebunden ist, in der sich die Signatur der Welt als Gottes Schöpfung ausdrückt. 

An die Stelle dieser Sicht eines – wie wir sagen könnten – perspektivischen Natur­rechts tritt in der Postmoderne eine als neut­ral behauptete Standpunktlosigkeit. Das Grundgesetz z.B. ruht auf einem Wertfun­dament auf, das das durch die Erfahrung menschlicher Abgründigkeit hindurch ge­reinigte Erbe der christlich-humanistischen Überlieferung bewahrt. Es ist also gerade der Staat, der an die seinem Recht voraus­liegenden Werte gebunden ist, der Toleranz gewährt – und unvermeidlich begrenzt.15So darf die Bundesrepublik die Toleranz solchen gesellschaftlichen Gruppen verweigern, die ihre Rechtordnung zu überwunden trachten, die gerade das Zusammenleben unterschiedlicher Überzeugun­gen gewährleistet.  Doch zunehmend wird die Rechtsordnung der Bundesrepublik von gesellschaftlichen Akteuren so interpretiert, dass der Staat allein vom „neutralen“, also durch keinerlei weltanschauliche Voraussetzungen gebun­denen Standpunkt aus Toleranz üben und durchsetzen könne. Nur von diesem ge­schichts- und traditionslosen „Gottesstand­punkt aus ließen sich die verschiedenen und teils gegensätzlichen Weltanschauungen seiner Bürger friedlich miteinander vermit­teln. Es ist leicht zu durchschauen, dass die These von der neutralen Standpunktlosig­keit selbst ein Standpunkt ist, und zwar ein sehr voraussetzungsreicher. Diese Voraus­setzungen gilt es durchsichtig zu machen. 

Wie soll der Staat und wie die Gesellschaft mit der Vielfalt der Lebensentwürfe umge­hen, in denen sich weltanschauliche Über­zeugungen seiner Bürger ausdrücken? Eine verbreitete Antwort lautet: indem er die Gleichheit aller Bürger und ihrer Lebens­entwürfe behauptet, sie also von jeder Be­wertung freistellt und damit – so die An­nahme – „neutral“ handelt. Vom Bürger verlangt der Staat dann, dass er seinerseits das Urteil des Staates zur Gleichheit aller Lebensweisen akzeptiert, und diese Ak­zeptanz in Gestalt der geforderten Gleich­behandlung unter Beweis stellt. 

Das Anliegen, die behauptete Gleichheit“ zu schützen, soll durch die Nennung kon­kreter schützenswerter Merkmale zu einer anwendbaren und überprüfbaren Praxis werden. Als Normalfall gilt damit, dass Menschen einander gleich behandeln ge­mäß den Kriterien, die für einen bestimm­ten Anwendungsbereich von Bedeutung sind. Bei der Vergabe einer Arbeitsstelle wäre das z.B. das Kriterium der Qualifika­tion. Wenn hier nun unrechtmäßige Motive  dazu führen, dass diese postulierte Nor­malgleichbehandlung aussetzt, macht sich der Bürger strafbar. Fleischhauer bringt es auf den Punkt: „Wer eine türkische Familie nicht will, weil sie ihm zu laut oder zu we­nig solvent erscheint, darf auch weiterhin jemand ihm genehmeren wählen. Wer den Bewerber allerdings ablehnt, weil er diese Eigenschaften mit der türkischen Herkunft in Zusammenhang bringt, sie also ethnisch zuordnet, hat sich gesetzeswidrig verhal­ten.“16Fleischhauer, Erfindung.  Im Grunde genommen werden durch das AGG nicht äußerliche Straftaten verur­teilt: „Es sind Gedankenverbrechen, die nun erstmals juristisch verfolgt werden kön­nen...“.17Ebd. Die Tendenz, die der an sich legi­time Einsatz gegen ungerechtfertigte Be­nachteiligungen genommen hat, erweist sich so aus mehreren Gründen als proble­matisch.

  1. Zum einen ist der Ansatzpunkt bei be­stimmten Personenmerkmalen in sich wi­dersprüchlich. Denn einerseits will das Ge­setz – und ähnliche Bestimmungen, derer es zunehmend mehr gibt – herausstellen, dass die aufgelisteten Merkmale keine Relevanz besitzen sollen, weil Menschen nicht darauf reduziert werden dürfen, Träger eines oder mehrere dieser Merkmale zu sein. Zugleich führt der Gesetzestext (mit der Absicht des Schutzes) die Kategorien selbst auf und stärkt dadurch ihren Unterscheidungscha­rakter,18Das Erkennen auch Befürworter des AGG: vgl. Scherr, Diskriminierung, 17. denn sie werden zur Linse, durch die hindurch die Motive für Ungleichbe­handlungen überprüft werden sollen.
  2. Zum zweiten stellt sich die Frage, ob das Anliegen, bestimmte Motive als hand­lungsleitend auszuschließen, überhaupt möglich und sinnvoll ist. Sozialpsychologi­schen Einsichten zufolge dienen Zuschrei­bungen und Gruppenzuweisungen Men­schen dazu, eine komplexe Lebenswelt zu ordnen, sich in ihr zu orientieren und handlungsfähig zu werden.19Vgl. Jonas, Diskriminierung, 80. An dem Anspruch, in jeder noch so kleinen Entscheidung ausnahmslos jedem Menschen in seiner individuellen Besonderheit gerecht werden zu wollen, wird der Mensch schon aufgrund seiner begrenzten Einsichts- und Empathie-Fähigkeit zerbrechen müssen. Welcher Mensch ist sich selbst so durchsichtig, dass er sich aller in eine Entscheidung einfließenden Motive bewusst ist? 
  3. Grundsätzlich in Frage zu stellen ist die im Antidiskriminierungsdiskurs waltende Schein-Neutralität. Denn die besonders schutzwürdigen Personenmerkmale fallen nicht einfach vom Himmel, sondern werden von gesellschaftlichen Akteuren protegiert und von politischen Verantwortungsträgern in Rechtsform gegossen. Dabei fällt auf, dass nur bestimmte Merkmale ein Anrecht darauf begründen, als Träger dieses Merk­mals besonders gegen Ungleichbehandlung geschützt zu werden. Denn in irgendeiner Hinsicht gehört ausnahmslos jeder Mensch zu einer Minderheit: Apotheker ebenso wie Reinigungsfachkräfte stellen unter allen Erwerbstätigen eine Minderheit da; Kinder bilden eine Minderheit unter den Bürgern eines Staates insgesamt; Radfahrer sind eine Minderheit im Blick auf die Gesamt­heit aller Verkehrsteilnehmer und Träger einer bestimmten Krankheit sind in der Re­gel in der Minderheit. Minderheit ist jeder – und wer lange genug sucht, wird Formen von Ungleichbehandlung finden, die er oder sie als ungerechtfertigt empfindet. In der Praxis aber scheinen einige Minderheiten ihren Status nachdrücklicher als Argument einsetzen zu können als andere. Ungeachtet aller Gleichheits-Rhetorik scheinen diese Minderheiten einen moralischen Sonder­status, einen „Minderheitenbonus“, zu ha­ben, und andere nicht. 
  4. Im Kern geht es nicht mehr um Toleranz im eigentlichen Sinne, denn Tolerieren kann nur, wer eine eigene Position bezieht (und deren Voraussetzungen offenlegt). Rainer Forst, der die bisher wohl gründ­lichste Untersuchung des Toleranzkonzep­tes vorgelegt hat, stellt klar heraus, dass Toleranz immer sowohl eine Akzeptanz- als auch eine Ablehnungskomponente bein­haltet. Ohne die Ablehnungskomponente „würde man nicht von Toleranz sprechen, sondern entweder von Indifferenz (dem Fehlen einer negativen oder positiven Be­wertung) oder von Bejahung (dem Vorlie­gen einer allein positiven Bewertung).“20Forst, Toleranz, 32. Der Standpunkt behaupteter Schein-Neut­ralität vermag daher auch keine Toleranz im eigentlichen Sinne mehr zu verlangen. Es bleibt nur die Bejahung und das Gebot zur Akzeptanz. 
    Diese Akzeptanz-Forderung treibt seltsame Blüten und läuft auf die mit Rechtsmitteln durchsetzbare Forderung hinaus, der Sache nach Ungleiches gleich zu behandeln. Ein besonders markantes und zugleich besorg­niserregendes Beispiel sind die Schulricht­linien des kanadischen Bundestaates Al­berta, denen zufolge jedes Kind das Recht hat, den Umkleideraum gemäß dem selbst­gewähltem Gender zu benutzen. Für den Fall, dass fünfzehnjährige Mädchen etwas dagegen haben, sich den Umkleideraum mit einem „Trans-Jungen“ (biologisch also männlichen Geschlechts) zu teilen, haben sie die Kabine zu räumen, nicht das Trans-Kind, das ein Recht darauf hat, in seiner Persönlichkeitsentfaltung nicht – durch Verfechter prämoderner Vorstellungswelten – behindert zu werden.21Vgl. http://www.cbc.ca/news/canada/calgary/ alberta-education-gender-lgbtq-gsa-guidelines-1.3402300 [Stand: 28.06.2023]. Fleischhauer argu­mentiert, dass auch hierzulande die Nei­gung politischer Akteure wächst, das je eigene Opferempfinden zu schulen: Doch „[j]e sensibler sich eine Gesellschaft für die Kränkungen und Zurücksetzungen ihrer Mitglieder zeigt, desto mehr ermutigt sie, auch geringste Verfehlungen zur Anzeige zu bringen, und deshalb wächst der Bedarf nach Quotenregelungen, Gleichstellungs­programmen und Fördergeldern proportio­nal zum Bemühen, jede Form der Benach­teiligung zu vermeiden.“22Fleischhauer, Erfindung.  Diese Einschät­zung wird durch neuere Umfragen und Sta­tistiken zur subjektiven Diskriminierungser­fahrung unterstrichen, wonach sich 2016 ca. ein Drittel der Bevölkerung diskriminiert fühlt.
  5. Das ultimative Kriterium für Ungleich­behandlung ist daher das je eigene Wohlbe­finden bzw. Unbehagen geworden, gegen das es keine Einspruchsmöglichkeit gibt – denn das Empfinden des anderen ist Dritten nicht zugänglich. Und weil es keine allge­meingültige moralische Ordnung mehr gibt, sondern in Sachen Moral nur subjektive Werturteile, die so oder anders ausfallen können, deshalb entzieht sich das persönli­che Empfinden einer äußeren moralischen Bewertung. So erweist sich die Gleichheits­forderung als abstraktes, eines definierbaren  moralischen Gehalts entkerntes Postulat.23Diese Subjektivität schlägt sich wie gezeigt in der Auswahl der geschützten Merkmalen des AGG nieder: Es stellt sich die Frage, „welche Merkmale überhaupt normativ bedeutsam sein dürfen und wel­che normativ-praktischen Konsequenzen daran geknüpft werden sollen“ (Vgl. Rottleuthner, Dis­kriminierung, 20).  Die Fixierung auf die Empfindungen des Einzelnen führt zu einem tragischen Ausei­nanderdriften der Gesellschaft:24So auch James Kalb’s düstere Prognose: „Russian socialism ended in the reign of lawless greed, and Western multiculturalism will very likely end in a radically divided society shot through with hatred and violence“ (zit. nach: Dowler, Gospel, 11).  Die Bür­ger werden ermutigt, dass sie ihre eignen Interessen (oder die ihrer Gruppe) gegen die „repressive Mehrheit“ behaupten statt sich für ein Gemeinwohl einzusetzen, das die Persönlichkeitsrechte anderer in der Ausge­staltung des eigenen Lebensentwurfs be­rücksichtigt. Das führt zu einem paradoxen Ergebnis: „Wer sich tolerant und nachsich­tig zeigt, etwa als religiöse Gemeinschaft gegenüber dem demonstrativen Unglauben der Umwelt, wird deutlich weniger offizi­ellen Beistand erfahren als derjenige, der laut gegen Kritik protestiert und jede got­teslästerliche Äußerung als Kränkung zur Anzeige bringt.“25Fleischhauer, Erfindung.  So führt der moralische Relativismus hinter der Gleichheitsforde­rung gerade nicht zu einem friedlicheren und gerechteren Miteinander, sondern zum Widerstreit unzähliger Einzelinteressen, deren Anerkennung, genauer: Akzeptanz, mit öffentlichen moralischen Appellen und rechtlichen Mitteln durchgesetzt werden soll.

3.3. Sind Gleichheit und Gerechtigkeit das­selbe? 

Die Probleme der Toleranzpolitik ergeben sich aber nicht allein aus ihren moral-relati­vistischen Voraussetzungen, sondern aus einem gravierenden Fehlschluss, der dem Grundsatz der Gleichbehandlung zugrunde liegt: Danach folgt aus der Gleichheit aller Menschen nämlich, dass Menschen gleich behandelt werden müssen. Im Umkehr­schluss bedeutet das: Ungerechtfertigte Un­gleichbehandlung, zeigt, dass dem anderen Menschen die Gleichwertigkeit abgespro­chen wird. Doch ist dieser Schluss gültig? Dem Ethiker Oliver O’Donovan zufolge werden hier zwei Kategorien auf unzuläs­sige Weise miteinander vermischt, nämlich die christliche (und humanistische) Über­zeugung, dass Menschen als Gleiche zu behandeln sind einerseits, und die radikale politische Forderung, Menschen gleich zu behandeln.26Vgl. O’Donovan, Ways, 41. Die Vermischung führt zu der irrigen Vorstellung, dass Gerechtigkeit im Grunde genommen in der Verwirklichung von Gleichheit besteht.27Dieser Ansatz wird klassischer Weise als Egalita­rismus bezeichnet.  Wenn dies so wäre, dann hätte jeder Mensch ein Recht auf Gleichheit in Form von unbedingter Gleichbehandlung. Ungleichheiten gälten fortan als von Grund auf ungerecht. Aber haben Menschen wirklich ein Recht auf Gleichheit?28Die folgenden Ausführungen stützen sich auf ebd., 38ff. und Gosepath, Gleichheit, 19-24.

Um diese Frage beantworten zu können, ist es nötig, zwischen zwei Arten von Gleich­heit zu unterscheiden, nämlich die konsti­tutive von der relativen Gleichheit.29Vgl. ebd., 22; Für eine detaillierte Aufschlüsse­lung ders., Equality. O. O’Donovans Begrifflichkeit, die sich an Grotius’ Differenzierung von expletiver und attributiver Gerechtigkeit anschließt wird hier vereinfacht wiedergegeben. O’Donovan selbst er­kennt nur die konstitutive (bei ihm „moralische“) Gleichheit als echte Gleichheit an. 

1) Die konstitutive Gleichheit ist ein zwei­stelliges Gefüge, denn gemeint ist die Gleichheit, die Menschen in Bezug auf ihr Menschsein haben. Diese Gleichheit be­zieht sich auf ausnahmslos alle Menschen und ist an keine Leistungsmerkmale (wie die Fähigkeit zu sprechen etc.) gebunden. Sie kann daher auch nicht anhand be­stimmter Merkmale des Einzelnen aufge­wiesen werden, sondern besteht darin, dass sie unterschiedslos in gleicher Beziehung zu etwas äußerem, zu Gott, stehen.30Vgl. O’Donovans Erklärung der aristotelischen Vorstellung moralischer Gleichheit (ders., Ways, 41). Nur eine so verstandene, allem staatlichen Recht vorausliegende Gleichheit begründet glei­che Rechte.31Für die folgenden Ausführungen s. ebd., 38, wo O’Donovan die Revision des Aristoteles durch Hugo Grotius bespricht.  In diesem Fall bedeutet Ge­rechtigkeit, dass jedem das Seine (suum cuique) gleichermaßen zusteht. Doch folgt aus den Menschenrechten, dass alle Men­schen grundsätzlich gleich zu behandeln ist? 

O’Donovan argumentiert, dass sich aus der konstitutiven Gleichheit, mithin: den Men­schenrechten, nur für spezielle Situationen die absolute Pflicht zur Gleichbehandlung ableiten lässt, immer dann nämlich, wenn eine Ungleichbehandlung in direkter Weise ausdrückt: Ich bin nicht bereit, dich in dei­nem Menschsein zu achten. Das ist nach O’Donovan vor allem in drei Situationsty­pen der Fall, in denen das Leben des Men­schen gefährdet ist: dies sind (a) Situatio­nen der unmittelbaren Todesgefahr, in de­nen das Leben einer Person auf dem Spiel steht, und (b) die Situationen, in denen Menschen grundlegende Mittel zur Teil­nahme am gesellschaftlichen Leben vorent­halten werden, in der Lage völliger Abhän­gigkeit von anderen also ihre Würde miss­achte wird, und (c) Situationen, in denen über einen Mensch Recht gesprochen wird, was „ohne Ansehen der Person“ geschehen soll.32Vgl. ebd., 43ff.

2) In allen anderen Hinsichten und Situati­onen sind die Menschen nicht konstitutivsondern lediglich relativ gleich. Die relative Gleichheit ist ein dreistelliges Konzept, denn sie bestimmt (a) die Gleichheit von (b) Menschen in (c) Hinsicht auf etwas, das dem Menschsein nicht konstitutiv eigen ist (z.B. diese bestimmte Arbeitsstelle zu ha­ben).

Die relative Gleichheit zwischen Menschen begründet keinen gleichen Rechtsanspruch auf Gleichbehandlung. Bei einer Stellenbe­werbung geht es nämlich nicht allein um eine bestimmte Befähigung, die durch Ab­schlüsse u.ä. nachgewiesen wird, sondern um eine konkrete Eignung („Passen Stelle und Bewerber zueinander?“). Ob ein be­stimmter Bewerber zur ausgeschriebenen Stelle passt, kann aber nicht aus dem blo­ßen Vergleich mit den anderen Bewerbern abgelesen werden, und schon gar nicht lässt sich daraus ein Recht auf diese bestimmte Arbeitsstelle ableiten.

Demgegenüber argumentiert die Antidis­kriminierungspolitik, dass anhand des Ver­gleichs der Qualifikationen verschiedener Bewerber einsehbar ist, wer ein Recht auf die Anstellung hat. Der Arbeitgeber kann gezwungen werden, die Gründe für die Ablehnung eines Bewerbers (der gegen seine Ablehnung geklagt hat) offenzulegen. Wie immer das Gericht entscheidet, die hier geltende Logik geht davon aus, dass ein Mensch das Recht auf eine bestimmte Stelle hat und sich anhand der Gründe einer Ablehnung erkennen lässt, ob dieses Recht missachtet wurde. 

Diese Bemühungen, um eine konsequente Gerechtigkeit in Form von Gleichheit scheitert allerdings bereits an den realen Gegebenheiten. Um beim Beispiel zu bleiben: Es gibt einfach nicht genug Arbeitsplätze, um jedem Menschen die Anstellung zu ermöglichen, auf die er nach seinen Qualifikationen angeblich ein Recht hätte.33Vgl. ders., Diskriminierung/Antidiskriminierung, 8. Die Entscheidung für den einen und die Ablehnung des anderen Bewerbers wird nun so interpretiert, dass der abgelehnte gegenüber dem angenommenen Bewerber nicht als gleichwertiger Mensch anerkannt wurde. 

Die Antidiskriminierungspolitik erklärt auf diese Weise Fälle, in denen es um die rela­tive Gleichheit von Menschen geht, zu einer Frage der konstitutiven Gleichheit, die an­zuerkennen jeder Mensch ein Anrecht hat. Auf diese Weise spiegeln Handlungen (und Meinungen) wider, ob einem Menschen seine Personenwürde zu- oder abgespro­chen wird. Übertragen bedeutet dies: Mei­nungsunterschiede auf der Sachebene wer­den direkt gleichgesetzt mit der Ablehnung der Person

Doch ist dieser Fehlschluss korrekturbe­dürftig: Die relative Gleichheit der Men­schen begründet im Gegensatz zur konsti­tutiven Gleichwertigkeit der Menschen kein Recht. Die Ungleichheit bzw. ungleichen Behandlung lässt daher keinen zwingenden Rückschluss auf einen Verstoß gegen die Menschenwürde zu, schließt einen solchen Verstoß aber auch nicht aus. Auch der  asymmetrische, hierarchische Aufbau der Gesellschaft ist nicht schon ein Indikator dafür, dass die konstitutive Gleichwertig­keit der Menschen in unserer Gesellschaft ignoriert wird: Schüler sind nicht Teil der Lehrerkonferenz, ohne damit ein Unwert­urteil über sie auszusprechen. Von einer asymmetrischen Gesellschaftsordnung kann nicht unmittelbar auf eine Unterscheidung der Würde der Menschen in dieser Ordnung geschlossen werden.34Vgl. O’Donovan, Ways, 42. Statt Ungleichheit prinzipiell als Unrecht abzutun, sollte sie als natürliche Konsequenz der Vielfalt und Individualität verstanden werden.35Vgl. ebd., 41. Der Kampf für Gerechtigkeit kann also nicht bedeuten, alle diese Unterschiede auszu­merzen, sondern durch das Eröffnen glei­cher Lebenschancen jedem Menschen zu ermöglichen, seine Persönlichkeit in einem Lebensentwurf zu entfalten, der seine Grenze am Recht jedes anderen Menschen hat, seine Persönlichkeit zu entfalten.36Für einen ausführlichen Überblick über die unter­schiedlichen Theorien, welche Ressourcenverteilung Gerechtigkeit implizieren sollte s. Gosepath, Equa­lity.  Diese Grenze anzuerkennen, setzt aber eine Vision von Gemeinwohl voraus, bei der die Interessen des Einzelnen nicht absolut ge­setzt werden. 

3.4. Fazit

Das Anliegen, gegen die ungerechtfertigte Benachteiligung von Menschen in der Ge­sellschaft zu kämpfen, ist grundsätzlich zu begrüßen. Zweifelhaft ist jedoch, dass die­ses Vorhaben auf die Weise gelingen kann, wie es in der Gesetzgebung gegen Diskri­minierung unternommen wird. Als proble­matisch haben sich zwei Weichenstellungen erwiesen: (1) Dass Gleichheit (aufgrund der relativistischen Voraussetzungen) zum ab­soluten Maßstab für Gerechtigkeit und Ziel der Antidiskriminierungsbemühungen er­hoben wird und (2) dass die Gleichheit der Menschen in der Gesetzgebung mit Gleich­behandlung gleichgesetzt wird. 

Die suggerierte Neutralität des Staates ge­genüber Einzel- oder Gruppeninteressen führt im Ergebnis nicht zu mehr Gerechtig­keit, sondern zur Privilegierung von Grup­peninteressen, die mit dem Gestus eines höheren moralischen Anspruchs vorgetra­gen werden. Doch ist eine Rechtsordnung immer wertegebunden, die Frage ist allein, ob die gesellschaftlichen Akteure, die zu ihr beitragen, bereit sind, ihre weltanschauli­chen Motive offenzulegen oder nicht.

Wir haben auch gesehen, dass dem sich weltanschauungsneutral gebenden Staat Toleranz als Bürgertugend nicht mehr ge­nügt. Eingefordert wird Akzeptanz, also nicht allein der Verzicht, anderen mit ab­weichenden Überzeugungen nicht zu scha­den (worauf jeder Mensch ein Anrecht hat), sondern Menschen auch in relativer Hin­sicht gleich zu behandeln. Praktisch wird damit von den Bürgern einer weltanschau­lich pluralen Gesellschaft verlangt, sich einer verordneten Weltanschauung zu beu­gen: nämlich dem moralischen Relativis­mus. Folgerichtig bilden sich neue Formen der Intoleranz aus, die sich gegen alle rich­ten, die sich der – für den öffentlichen Raum verbindlich erklärten – Weltanschau­ung des Relativismus nicht unterstellen wollen.37Diesen Gedanken hat James Kalb auf den Punkt gebracht: „Toleration despises bigots, inclusiveness shuts out excluders, and diversity insists that we all line up to support it“ (ders., Against Inclusiveness, Tacoma 2013, 16, zit. nach: Dowler, Gospel, 7).  „Subjektiven“ Werturteilen wird der private Raum zugewiesen – vorläufig zumindest. 

Ein Beispiel dafür, wie Toleranz in Tyran­nei umschlagen kann, ist das Community-Bekenntnis von Airbnb, einer der weltweit erfolgreichsten Ferienhausvermittlungen. Im „Bekenntnis“ heißt es: „Du erklärst dich bereit, jeden – unabhängig von Rasse, Reli­gion, Herkunft, Volkszugehörigkeit, einer Behinderung, Geschlecht, Geschlechtsi­dentität, sexueller Orientierung oder Alter – respektvoll, vorurteilsfrei und unvoreinge­nommen zu behandeln. [...] Wenn du dem Bekenntnis nicht zustimmst, kannst du nicht als Gastgeber auf Airbnb fungieren oder über Airbnb verreisen.“38Zitat aus der Airbnb-Email „Diskriminierung und Zusammengehörigkeit: Was das für dich bedeutet“ zur Benachrichtigung der Mitglieder vom 29.10.2016. Der abs­trakte Gleichheitsgrundsatz will Kompro­misslosigkeit signalisieren, und kompro­misslos ist er auch, was das Bekenntnis zur abstrakten Gleichbehandlung angeht. Jede Form von Toleranz hat ihre Grenze. Hier findet sie ihre Grenze an dem Dogma, dass es in der Welt von Airbnb keine Umstände oder Konstellationen geben darf, in denen die genannten Merkmale zu einer Un­gleichbehandlung führen. Das ist besonders bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass hier an einem westlichen Schreibtisch eine Präambel für ein global agierendes Unter­nehmen formuliert wird. Auch hier erweist sich die Vermischung von konstitutiver und relativer Gleichheit als das eigentliche Problem. 

IV. Theologisch-ethische Reflexion

Abschließend soll gezeigt werden, inwie­fern eine christliche, also standpunktgebun­dene Toleranzkonzeption eine Alternative zur Scheinneutralität des abstrakten, post­modernen Gleichheitsgrundsatzes darstellen kann. Konkret geht es darum zu fragen, welche Grundsätze des Umgangs mit An­dersdenkenden und Anderslebenden sich vom christlichen Gottes- und Menschenbild her begründen lassen. 

Eine Antwort liefert die Bibel auf diese Frage nicht in Form eines fertigen politi­schen Programms. Ihre Antwort setzt grundsätzlicher, nämlich beim Menschen an: Wie sieht eine Gestalt von Gemeinwohl aus, in der Menschen miteinander leben können?39Vgl. den Ansatz von Volf (Ausgrenzung, 18ff.).  Darum soll es in dieser ethisch-theologischen Reflexion gehen, in der noch einmal die bereits eingeführte Unterschei­dung zwischen Person- und Sachtoleranz aufgenommen werden soll.  

4.1. Die Sachintoleranz Gottes im Horizont von Schöpfung und Neuschöpfung 

Christliches Nachdenken über Toleranz beginnt mit der Frage, was christlich beur­teilt eigentlich gut geheißen wird und was nicht – erst dann kann überlegt werden, wie man mit dem Abgelehnten umgegangen werden, ob es toleriert werden soll. 

Diese Frage führt uns zum biblischen Schöpfungsbericht und der Feststellung, dass Gott der Welt als Schöpfer eine Ord­nung gegeben hat (bes. 1Mo 1,1-2,4). Diese Ordnung ist eine der Säulen für die christli­che Ethik, für die es grundlegend ist, unter­scheiden zu können zwischen dem, was lebensdienlich, und dem, was lebensgefähr­dend ist. Gottes der Erschaffung des Men­schen vorausgehendes Schöpferhandeln lässt sich im Kern “Unterscheiden“ verste­hen, durch das das Leben erst möglich wurde: Durch seine Unterscheidungen in der Schöpfung – zwischen Tag und Nacht, Wasser und Festland, Menschen, Tieren und Pflanzen, usw. – hat Gott die Vielfalt und Schöhnheit der Welt geschaffen und allem Geschaffenen einen angemessenen Lebensraum zugewiesen. 

Innerhalb des Lebensraums Schöpfung er­fährt der Mensch dadurch eine besondere Auszeichnung, dass er in das Ebenbild Gottes und mit besonderer Würde ausgestattet wird (1Mo 1,26f.; vgl. 1Mo 9,6; Ps 8,6).

Auf dieser Setzung Gottes basiert die bis heute wichtige Vorstellung von der Menschenwürde. Wie bereits oben herausgestellt, ergibt sich als Handlungskonsequenz daraus nicht die Gleichbehandlung aller Menschen oder die Pflicht einer Sachtoleranz. Stattdessen impliziert diese Gleichheit der Menschen vor allem anderen die Liebe – im Sinne der caritas, nicht des eros – einander.40So O’Donovan in Anlehnung an Kierkegaard (vgl. ders., Ways, 42). O’Donovan spricht in diesem Zusammenhang von „equality within difference“41Vgl. ebd., 43. , d.h. der Gleichheit aller Menschen in ihren vielfältigen sozialen Unterschieden. Menschen dürfen nach christlicher Überzeugung nicht allein nach ihrer sozialen Stellung bewertet werden, sondern stehen sind als gleichwertige Nächste, die es zu lieben gilt, einander zugeordnet. Die Identität eines Menschen besteht an erster Stelle darin, dass er ein Geschöpf Gottes ist – und erst sekundär darin, Träger bestimmter Merkmale zu sein – von Merkmalen, die entweder biologisch angelegt oder durch Verhalten oder Gewohnheiten ausgeprägt werden. Christen haben den Auftrag, Menschen so anzusprechen und anzusehen, wie Gott es tut. Für sie ist kein Mensch lediglich Träger bestimmter Merkmale, sondern in erster Linie ein von Gott geliebtes Geschöpf. In dieser Tatsache gründen die Vorstellung von der Würde des Menschen und sein Anrecht darauf, in seinem Menschsein geachtet zu werden. Wenn Haltungen oder Handlungen anderer Menschen abgelehnt werden (was durchaus angezeigt sein kann), dann muss das auf eine Weise geschehen, die den anderen als Ebenbild Gottes achtet – und damit die konstitutive Gleichheit, wenn es um Fragen von Leben und Tod, Minimalbedingungen gesellschaftlicher Teilhabe oder die Inanspruchnahme eines unparteiisches Rechtssystems geht.

Die lebensschaffenden Unterscheidungen in der Schöpfung setzen sich später in Gottes Geboten fort die sich bei Christus im Liebesgebot bündeln (bes. 2Mo 20,1-21; 3Mo 19,18; Mk 12,29-31). Durch sie möchte Gott dem Menschen den Weg zu einem Leben weisen, dass im Einklang mit der ihm aufgrund seiner Sünde nur verzerrt vor Augen stehenden oder gar verborgenen Schöpfungsordnung steht. 

Damit steht der Mensch selber in der Unterscheidungsverantwortung: Er lebt nicht einfach triebgesteuert wie ein Tier. Er hat die Verantwortung, seinen Lebensweg an guten Unterscheidungen – zwischen dem, was förderlich und dem, schädlich ist – zu orientieren. Die Fähigkeit, Unterscheidungen zu treffen, ist daher sowohl Gabe als auch Aufgabe für jeden Menschen. Als lebensdienlich wird sich diese Fähigkeit jedoch nur erweisen, wenn es, wie die Bibel es bezeugt, einen fundamentalen Unterschied zwischen Gut und Böse gibt, und dieser nicht relativiert wird. Auch die Forderung, sich bewertender Urteile zu enthalten, ist für Christen keine Option.

Was hat das mit christlicher Toleranz zu tun? Nach christlichem Verständnis ist die Welt aus ihrer Ordnung gefallen – sie ist nicht so, wie sie von Gott erdacht wurde. Dementsprechend kann die Welt erst dann ein heilvoller Ort des Friedens und der Gerechtigkeit sein, wenn Gottes heilvolle, lebensdienliche Unterscheidungen wieder in Geltung stehen (u.a. Ez 36,26-30Par; Hab 2,14; Mt 6,10). Damit ist klar, was nach christlichem Verständnis abgelehnt wird: Alles, was diese Heilsvision aufhält, was sich in der Gegenwart gegen Gottes Ordnung stellt.

In dieser Perspektive wird aber auch deutlich: Ein Christentum, das an seiner Heilsvision festhält, kann niemals in Toleranz gegenüber Anliegen umschlagen, die diese Heilsvision aufhalten. Eine Toleranz, die Abweichungen von Gottes Ordnung für gut heißt, ist der Bibel völlig fremd. Die Grenzen zwischen dem, was sie für „lebensdienlich“ und „lebensschädigend“ einstuft, sind für universal gültig und verschwimmen niemals zu Akzeptanz.

4.2. Die Personentoleranz Gottes im stellvertretenden Tod Jesu Christi

Bedeutet das, wir haben es im Christentum mit einem intoleranten Gott zu tun? In Bezug auf die Abweichung von seiner Schöpfungsordnung: Ja! Gegenüber den Menschen könnte er jedoch nicht toleranter sein. Das zeigt sich im Neuen Testament vor allem in Gottes Handeln durch Jesus Christus. Jesus unterscheidet deutlich zwischen Recht und Unrecht – und ruft die Sünder, nicht die Gerechten, in die Gemeinschaft mit Gott (vgl. Lk 15,1-2).42Vgl. Dowler, Gospel, 20f. Am Kreuz kommt es durch Gottes Handeln zur „intoleranten“ Richtigstellung der Welt, d.h. zum Gericht. In diesem Gericht zeigt sich Gottes Sachintoleranz, seine Ablehnung alles dessen, was sich gegen seine Erlösungsabsicht stellt. Zugleich zeigt sich seine bedingungslose Toleranz gegenüber der Person darin, dass er die todbringenden Konsequenzen der entgleisten Schöpfung nicht die Menschen treffen lässt, sondern sich selbst – am Kreuz. Jesu Selbsthingabe für seine Gegner ist der Inbegriff göttlicher „Toleranz“, die nach christlicher Interpretation gleichbedeutend wird mit Feindesliebe: Weil Gott den Sünder so sehr liebt, nimmt er dessen unausweichliches Schicksal selbst auf sich, um diesem eine neue Chance zu eröffnen (z.B. Röm 5,8; Gal 1,4; Eph 5,2). Der Sünder soll durch das Mittel der Selbsthingabe „gesundgeliebt“, zur Änderung bewegt, d.h. in Gemeinschaft derer aufgenommen werden, die in Jesus Christus bereits eine „neue Schöpfung“ sind (2 Kor 5,17). 

Hier setzt der radikale Toleranzauftrag für Christen ein: Die Kirche Jesu Christi ist dazu berufen, die Welt in gleicherweise wie Christus zu lieben. Wie er sollen auch die Christen kompromisslos sein in ihrer Sachintoleranz gegen das Böse – und es nicht etwa akzeptieren oder gut heißen (z.B. Mk 9,43). Aber diese Intoleranz gegen das Böse kann nach christlichem Selbstverständnis nicht die Form haben, dass auf das Böse mit noch mehr Bösem (z.B. in Form von Gewalt) reagiert wird. Das Muster „Auge um Auge“ würde, wie Ghandi es prägnant formuliert haben soll, nur dazu führen, dass die ganze Welt erblindet. Das Unrecht der Welt läuft sich tot nicht an denjenigen, die es gewaltsam mit noch mehr Unrecht erwidern, sondern an denen, die, wenn es anders nicht möglich ist, es wie Christus zu erleiden bereit sind. 

Das Christentum wendet sich also klar und intolerant gegen das als Böse erkannte, aber gleichzeitig gegen die Verurteilung und Verdammung von Sündern (Mt 7,1). Dabei ist ihre Toleranz niemals repressiv, in dem Sinne, dass sie das Böse ohne angemessenen Widerstand gewähren ließen. Sie sind dazu berufen, gegen das Unrecht in dieser Welt zu kämpfen, wobei ihr Kampf mit geistlichen Waffen geführt wird, die nicht aus Rohstoffen der vergehenden ungerechten Welt gefertigt sind, sondern vom Heiligen Geist verliehen werden, der ein Angeld auf das Kommen der neuen Schöpfung Gottes ist. 

Weil die Einsicht in das, was Gott sich mit dieser Welt gedacht hat, in letzter Konsequenz ein Geschenk des Heiligen Geistes ist, darum muss recht verstandene christliche Toleranz die Anwendung von Zwangsmitteln ausschließen. Der Versuch, Andersdenkende zu eigenen Glaubensüberzeugungen oder zur eigenen Glaubenspraxis zu zwingen, ist grundsätzlich abzulehnen. 

Die vorstehenden Überlegungen können dabei helfen, eine christliche Toleranzperspektive von den vorherrschenden politischen Antidiskriminierungsstrategien zu unterscheiden, sowohl was die Zielsetzung als auch, was die Durchführung angeht. Christen haben eine Hoffnung, die nicht von dieser Welt ist, und diese Hoffnung sollte ihr (öffentliches) Handeln leiten. Für sie ist die Vision von einer Welt bestimmend, die im Frieden und der Gerechtigkeit Gottes Ruhe gefunden hat. Toleranz ist von daher in christlicher Perspektive kein Höchstwert, der ein friedliches Miteinander einer pluralistischen Gesellschaft garantieren könnte. Sie ist vielmehr eine Übung, in der die Menschenfreundlichkeit Gottes aufleuchtet, die aber auch dem Widerstand Gottes gegen das Böse Ausdruck verleiht. Toleranz ist ein Abbild der diese gefallene Welt auf ihre Bestimmung in Christus hin erhaltende Gnade Gottes. Darin zeigt sich die Zukunftsorientierung christlicher „Toleranz“: Sie hat keine überzogenen (Gleichheits-)Erwartungen an diese Welt, an denen der Mensch scheitern muss. Ihr „Proprium“ ist vor allem die Hoffnung auf Gottes unbegrenztes Heil, das erst in der Zukunft voll auf der Erde realisiert wird, das aber schon inmitten aller Unvollkommenheit der Welt von den Christen in tätiger Liebe und glaubwürdigem Engagement bezeigt werden soll.

© 2017 Institut für Ethik & Werte

Colin Bergen

Endnoten

  • 1
  • 2
    Vgl. Forst, Toleranz, 30ff.: Forst gliedert das Tole­ranzkonzept in sechst unterschiedliche Bestandteile, die in jeder Toleranzkonzeption unterschiedlich bestimmt werden (z.B. die Grenze der Toleranz). 
  • 3
    Frei Übersetzt nach SEP, Toleration. 
  • 4
    Als klassischer Vordenker der neuzeitlichen Tole­ranzkonzeptionen gilt John Locke mit seinem Brief über die Toleranz
  • 5
    Vgl. Hempelmann, Wahrheit, 47ff. 
  • 6
    Vgl. Hempelmann, Wahrheit, 40-43: Zwar beab­sichtigt eine Gesellschaft, in der jeder zu allem Ja und Amen sagt, dem Anschein nach tiefe gegensei­tige Achtung. Allerdings ist zu hinterfragen, ob sich hier nicht eigentlich Respektlosigkeit einschleicht, wenn der Fremde gar nicht mehr in seiner besonde­ren Eigenart als fremd wahrgenommen, benannt und „gewürdigt“ wird. „Frieden, oder weniger an­spruchsvoll: ein weniger konfliktträchtiges Mitei­nander kann es nur da geben, wo die Gegensätze nicht unterdrückt werden und sich dann darum nicht eines Tages eruptiv Ausdruck verschaffen; wo sie vielmehr artikuliert ausgetragen, und d.h. in vielen Fällen: wo sie auch persönlich erlitten werden kön­nen“ (ebd. 45).
  • 7
    Vgl. Dowler, Gospel, 9 in Anlehnung an James Kalb.
  • 8
    Jonas, Diskriminierung, 80.
  • 9
    Es gehört zu den vielen Inkonsequenzen des Anti­diskriminierungskonzepts, dass die Begründung, die Wohnung nicht an die Interessenten zu vermieten, da Kinder im Haus nicht erwünscht seien, zwar auch rechtlich anfechtbar wäre, das Merkmal, Kinder zu haben (die altersgemäßen Lärm verursachen) von den Kriterien der Antidiskriminierungsbestimmun­gen aber nicht erfasst werden. Als schutzwürdig gilt die „geschlechtliche Identität“.
  • 10
    Der technische Begriff der Diskriminierung wurde erst im 20. Jh. eingeführt, um die großflächige Gruppenstruktur des Unrechts herauszustellen (vgl. Altmann, Discrimination).
  • 11
    BVerfGE 98, 365; vgl. Beutke, Faktensammlung, 7.
  • 12
    „aus Gründen der Rasse oder wegen der ethni­schen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität“ (AGG). 
  • 13
    In den Bereichen der Einstellungsbedingungen, der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, der Berufsberatung, der Mitgliedschaft und Mitwirkung in Vereinigungen, des Sozialschutzes, sozialer Ver­günstigungen, der Bildung und des Zugangs und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (vgl. AGG). 
  • 14
    Für eine ausführliche Darstellung der Entwicklung des Gleichheitssatzes s. Hattenhauer, Grundlagen, 29-59. Dowler argumentiert in Anlehnung an Sie­dentop darüberhinaus, dass darüberhinaus auch Werte wie Diversität, Toleranz und Inklusion keine Früchte der „befreienden“ Säkularisierung sind, sondern sich im Gegenteil aus dem christlichen Weltbild ergeben haben (vgl. ders., Gospel, 14f.). 
  • 15
    So darf die Bundesrepublik die Toleranz solchen gesellschaftlichen Gruppen verweigern, die ihre Rechtordnung zu überwunden trachten, die gerade das Zusammenleben unterschiedlicher Überzeugun­gen gewährleistet. 
  • 16
    Fleischhauer, Erfindung. 
  • 17
    Ebd.
  • 18
    Das Erkennen auch Befürworter des AGG: vgl. Scherr, Diskriminierung, 17.
  • 19
    Vgl. Jonas, Diskriminierung, 80.
  • 20
    Forst, Toleranz, 32.
  • 21
  • 22
    Fleischhauer, Erfindung. 
  • 23
    Diese Subjektivität schlägt sich wie gezeigt in der Auswahl der geschützten Merkmalen des AGG nieder: Es stellt sich die Frage, „welche Merkmale überhaupt normativ bedeutsam sein dürfen und wel­che normativ-praktischen Konsequenzen daran geknüpft werden sollen“ (Vgl. Rottleuthner, Dis­kriminierung, 20). 
  • 24
    So auch James Kalb’s düstere Prognose: „Russian socialism ended in the reign of lawless greed, and Western multiculturalism will very likely end in a radically divided society shot through with hatred and violence“ (zit. nach: Dowler, Gospel, 11). 
  • 25
    Fleischhauer, Erfindung. 
  • 26
    Vgl. O’Donovan, Ways, 41.
  • 27
    Dieser Ansatz wird klassischer Weise als Egalita­rismus bezeichnet. 
  • 28
    Die folgenden Ausführungen stützen sich auf ebd., 38ff. und Gosepath, Gleichheit, 19-24.
  • 29
    Vgl. ebd., 22; Für eine detaillierte Aufschlüsse­lung ders., Equality. O. O’Donovans Begrifflichkeit, die sich an Grotius’ Differenzierung von expletiver und attributiver Gerechtigkeit anschließt wird hier vereinfacht wiedergegeben. O’Donovan selbst er­kennt nur die konstitutive (bei ihm „moralische“) Gleichheit als echte Gleichheit an. 
  • 30
    Vgl. O’Donovans Erklärung der aristotelischen Vorstellung moralischer Gleichheit (ders., Ways, 41).
  • 31
    Für die folgenden Ausführungen s. ebd., 38, wo O’Donovan die Revision des Aristoteles durch Hugo Grotius bespricht. 
  • 32
    Vgl. ebd., 43ff.
  • 33
    Vgl. ders., Diskriminierung/Antidiskriminierung, 8.
  • 34
    Vgl. O’Donovan, Ways, 42.
  • 35
    Vgl. ebd., 41.
  • 36
    Für einen ausführlichen Überblick über die unter­schiedlichen Theorien, welche Ressourcenverteilung Gerechtigkeit implizieren sollte s. Gosepath, Equa­lity. 
  • 37
    Diesen Gedanken hat James Kalb auf den Punkt gebracht: „Toleration despises bigots, inclusiveness shuts out excluders, and diversity insists that we all line up to support it“ (ders., Against Inclusiveness, Tacoma 2013, 16, zit. nach: Dowler, Gospel, 7). 
  • 38
    Zitat aus der Airbnb-Email „Diskriminierung und Zusammengehörigkeit: Was das für dich bedeutet“ zur Benachrichtigung der Mitglieder vom 29.10.2016.
  • 39
    Vgl. den Ansatz von Volf (Ausgrenzung, 18ff.). 
  • 40
    So O’Donovan in Anlehnung an Kierkegaard (vgl. ders., Ways, 42).
  • 41
    Vgl. ebd., 43. 
  • 42
    Vgl. Dowler, Gospel, 20f.

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