„Music is my life!“
Musik in der Lebenswelt Jugendlicher
Die kleine Stadt Boom im belgischen Flandern kommt relativ unscheinbar daher. Doch die 17.000-Einwohner-Stadt ist in der ganzen Welt bekannt. Für Millionen Jugendliche ist sie das Synonym für Party, Freiheit, Liebe und eine weltumspannende Gemeinschaft. Denn seit 2005 findet hier das alljährliche Tomorrowland-Festival statt. Die 360.000 Karten für das Großereignis der Elektromusik waren 2014 innerhalb einer Stunde ausverkauft. Etwa zwei Millionen Ticketanfragen aus praktisch allen Ländern der Welt vermeldeten die Veranstalter. Das Event ist bunt und interkulturell. Viele Teilnehmer haben die Flaggen ihrer Heimatländer mitgebracht und halten sie während der Konzerte in die Höhe. Die jungen Menschen sind sommerlich und bunt gekleidet. Die Jungs tragen Muskelshirts und Snapbacks, die Mädchen Hotpants und Bikini. Viele tragen Blumen im Haar und haben sich farbenfroh geschminkt. Immer wieder sieht man kreative Kostümierungen. Das Bühnenbild hat etwas Märchenhaftes und will die Besucher in eine andere Welt entführen. Eine Welt, in der sich alle lieb haben und gemeinsam feiern.
Musik erschafft Welten, in denen sich junge Menschen zu Hause fühlen. Konzerte und Festivals lassen den anstrengenden, durchgetakteten Alltag für eine kurze Zeit vergessen.
Doch Musik ist nicht nur für außergewöhnliche, außeralltägliche Erlebnisse zuständig, sondern umgibt uns heute überall. Beim Joggen, Kochen, Lernen, Fernsehen, Feiern, Arbeiten, Einkaufen, Internetsurfen ist die Musik allgegenwärtig. Sie erschallt aus Radios, kleinen und großen Kopfhörern, der heimatlichen Musikanlage, dem Laptop, in jeder Ecke eines jeden Kaufhauses, kleinen und großen Subwoofern auf WG-Partys und in Clubs.
Musik erschöpft sich nicht in Klang und Rhythmus. Sie umschließt das Leben, prägt es, formt es. Musik transportiert Gefühle, Stile, Einstellungen, Atmosphären, Stimmungen, Moden, Kulturen, Lebensentwürfe. Soll die Lebenswelt junger Menschen verstanden werden, müssen wir uns daher unbedingt ihrer Musik widmen.
I. Wie Musik die Welt eroberte
Elektro, Hip-Hop, Metal, aber auch Punk, RnB oder sogar Schlager – viele junge Menschen finden sich in diesen Musikstilen wieder. Laut der jüngsten Shell-Jugendstudie ist „Musik hören“ nach „im Internet surfen“ und „sich mit Leuten treffen“ die dritthäufigste Freizeitbeschäftigung Jugendlicher.1Shell Deutschland Holding 2010, S. 96. Knapp 80% der jungen Menschen hört täglich oder mehrmals wöchentlich Musik über das Smartphone.2JIM 2014, S. 48. Im Rahmen der 2012 erschienenen Sinus-Jugendstudie gaben 95% der befragten 14-17 jährigen Jugendlichen an „gerne“ oder „besonders gerne“ Musik in ihrer Freizeit zu hören.3Calmbach 2012, S. 51. Musik begleitet den jugendlichen Alltag und gibt dem Leben die gewünschte Atmosphäre. Oder wie es die Jugendforscherin Beate Großegger formuliert: „Popularmusik ist Angelpunkt jugendlicher Freizeit- und Konsumkultur."4Großegger 2006, S. 29.
Die Verbindung zwischen Jugendlichen und Musik existierte nicht schon immer auf diese intensive Weise. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer langen, bis in die Gegenwart hinein reichende kulturellen Entwicklung. Diese Entwicklung mündet heutzutage in drei Phänomene, die für die Lebenswelt Jugendlicher bezeichnend sind: (1) Musik ist allgegenwärtig. (2) Es existieren musikalische Jugendkulturen, die Lebensstil und Lebensgefühl ganzer Generationen prägten und zum Teil noch prägen. (3) Musiknutzung hat sich subjektiviert und ist individuell.
Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde Musik als eine Kunstgattung verstanden, der man sich beizeiten zuwandte, um ein schönes, ästhetisches Erlebnis zu genießen. Musik, etwa eine Symphonie Ludwig von Beethovens oder eine Kantate Johann Sebastian Bachs, wurde an bestimmten Orten, etwa der städtischen Oper oder einem Kirchengebäude, präsentiert und rezipiert. Daneben gab es selbstverständlich bereits seit Jahrhunderten Tanz- und Trinklieder, die vom einfachen Volk gesungen und an die nächste Generation weitergegeben wurden. Im 19. Jahrhundert kam es zu einem Boom und einer Professionalisierung der Musik. In diesem Zusammenhang ganz wichtig waren die überall entstehenden Gesangsvereine, in denen besonders Volkslieder gesungen wurden.5Vgl. Wicke 2003, S. 323. Schließlich traf man auf Kirchenmusik im Rahmen des Gottesdienstes.
Trotz dieses Aufschwungs war bis weit ins 19. Jahrhundert hinein Musik und musikalisches Erleben auf bestimmte Orte und bestimmte Anlässe beschränkt.
Dies änderte sich aufgrund zweier bedeutsamer Entwicklungen. Erstens entstand aus den Volksliedern die sogenannte Unterhaltungsmusik, auch „populäre Musik“ genannt: In Form von Operetten, Tanzmusik und insbesondere der Jazzmusik. Der Prozess der Urbanisierung im 19. Jahrhundert half dabei, dass sich insbesondere in den Städten neue Formen der Musik entwickeln konnten, welche nicht mehr nur in Opernhäusern oder Kirchen, sondern auch in Clubs, Bars und (Arbeiter-)Kneipen der Städte zu hören waren. Die Musik brach damit aus dem festen Rahmen der Oper oder des Konzertsaals und wurde für die Massen der Arbeiterschicht verfügbar. Musik wurde popularisiert und ihrer Form nach „massentauglich“.
Die zweite Entwicklung war technischer Natur. In den 1880er Jahren wurden die ersten Schallplatten und Grammophone entwickelt. Diese ermöglichten es zum ersten Mal überhaupt, musikalische Inhalte zu konservieren. Das Ergebnis war schlichtweg revolutionär: Produktion und Rezeption von Musik konnte plötzlich getrennt voneinander stattfinden.6Eulenbach 2013, S. 258. Vgl. auch Wicke 2003, S. 323. Menschen konnten Musik in ihren eigenen vier Wänden hören und mussten dafür nicht mehr an bestimmte Orte gehen. Die Rezeption von Musik privatisierte und individualisierte sich.
Die Musik hatte sich also mit einem Medium (der Schallplatte, später der CD, etc.) verbunden. Die mediale Vermittlung von Musik prägt seitdem, wie wir Musik wahrnehmen und mit ihr umgehen. Musik gelangt mit Hilfe von Radio, Fernsehen, Internet, Handy, Stereoanlage oder Mp3-Player in das Ohr des Musikhörers. Nur in vergleichsweise seltenen Fällen wohnen wir der Musikproduktion selbst noch tatsächlich bei, etwa wenn wir ein Konzert oder ein Musikfestival besuchen.
Die Popularisierung der Musik einerseits sowie die technisch-mediale Vermittlung von Musik andererseits führen letztlich zur heutigen Allgegenwart von Musik. Doch alleine die Möglichkeit der universellen Verbreitung ist noch keine genügende Erklärung dafür, dass Musik tatsächlich auch immer und überall gehört wird. Es liegt an der „inneren“ Attraktivität der Musik, dass sie im Leben des spätmodernen Menschen eine solch große Bedeutung gewonnen hat. Das hängt mit dem kulturell enorm einflussreichen Phänomen globaler Jugendkulturen zusammen, die seit den 1950er Jahren das Licht der Welt erblickten.
Bis in die 1950er Jahre hinein besuchten Jugendliche und ihre Eltern meist ähnliche Musikveranstaltungen bzw. hörten dieselbe Musik im Radio. Welche Musik gehört wurde – also eher Konzerte mit klassischem Repertoire, geistliche und weltliche Chormusik oder eher Operetten und volkstümliche Unterhaltungsmusik – lag in erster Linie an der sozialen Schicht, der man angehörte und wurde nicht über das Alter bestimmt.7Ferchhoff 2013, S. 23.
Eine Trennung zwischen Jung und Alt wurde erstmals Mitte der 1950er Jahre sichtbar, als Jugendliche zuerst den Rock'n'Roll und später den Beat musikalisch für sich entdeckten. Im Jahr 1953 drehte der ungarisch-amerikanische Regisseur László Benedek den Film The Wild One, in dem Marlon Brando den Anführer einer rebellischen Rockerbande spielt und damit zur Verkörperung einer aufbegehrenden, sich abgrenzenden Jugend wurde.8Vgl. Ferchhoff 2013, S. 28.
Junge Menschen hörten seit Mitte der 50er Jahre nicht einfach nur andere Musik; mit der musikalischen Abgrenzung kam es auch erstmals zu einer deutlichen Abgrenzung des jugendlichen Lebensgefühls von dem der Elterngeneration. Die Identifikation mit dem Rock'n'Roll oder später dem Beat wurde dazu verwendet, Anderssein auszudrücken, sich von der „Normalkultur“ abzusetzen, abzugrenzen und gegen sie zu protestieren.9Vgl. Maase 2003, S. 40. Jugendliche wurden infolge dessen immer mehr als eigene gesellschaftliche Gruppe wahrgenommen, die mit Hilfe der Musik eigene Lebensstile und Werte verfolgte. Damit wurde der Musik eine bis dato unbekannte Rolle zugemessen: Sie wurde zum Statement eines Lebensentwurfs. Der Unterschied zu ihrer bisherigen Funktion war gravierend. Musik wurde nicht nur mehr gehört und genossen, sondern drückte sich vielfältig und auf allen Ebenen des Lebens aus: Mode, Stil, Wohnung, Gefühl, Rhythmus, Werte – alles verband sich miteinander. Musik wurde zur Kultur, der Alltag zum Ausdruck eines musikalischen und damit ästhetischen Lebensentwurfs.10In diesem Sinne ist die Musik musikalischer Jugendkulturen, im Folgenden als Popmusik oder populäre Musik bezeichnet, mehr als einfach nur der musikalische Klang: „Pop-Musik ist der Zusammenhang aus Bildern, Performances, (meist populärer) Musik, Texten und an reale Personen geknüpfte Erzählungen“, so beschreibt es Poptheoretiker Diedrich Diederichsen (Diederichsen 2014, S. xi). Populäre Musik kreiert eine Kultur, in der sich Menschen bewegen und mit der sie leben, in der sie Orientierung und Identität suchen und finden.
Besonders war an diesem Phänomen der musikalischen Jugendkulturen, dass sie weltumfassend waren. Der Soziologe Wilfried Ferchhoff konstatiert, dass die Jugendkulturen und -szenen „seit den späten 60er Jahren eine milieu- und geschlechtertranszendierende globale Avantgarderolle übernommen“ hätten.11Ferchhoff 2013, S. 30. Die globale, weil technisch mögliche Zugänglichkeit der Musik führte zu einer Umwälzung jugendlichen Lebens und stellte traditionelle Milieus und Schichten in Frage. Musikalische Jugendkulturen führen so seit den 1950er Jahren zu gesellschaftlichen Enthierarchisierungsprozessen: Junge Menschen der gebildeten Oberschicht ebenso wie Arbeiterkinder trugen dieselbe Mode, hörten dieselbe Musik und vertraten ähnliche Werte.
So sind seit der Entstehung musikalischer Jugendkulturen jugendliche Lebenswelten ohne Musik kaum noch denkbar und de facto nicht existent.12Großegger 2006, S. 32. Nichtsdestotrotz ist die Hochphase und revolutionäre Kraft der musikalischen Jugendkulturen heute Geschichte. Denn das Verhältnis zur Musik stellt sich heute im Vergleich zu den 60er und 70er Jahren noch einmal anders dar. Zwei Entwicklungen stehen hier im Vordergrund: Einerseits die konsequente Kommerzialisierung populärer Musik und andererseits eine Subjektivierung des Musikverhaltens.
Bereits 1965 erklärte die Zeitschrift Life ihren Lesern aus der zumeist biederen Mittelschicht unter dem Titel The Ins and Outs of Pop Culture, welche Dinge man besitzen und welche Kenntnisse man haben muss, um auf der Höhe der Zeit zu sein. Als Trendsetter wurde hier insbesondere die jugendlichen Subkulturen genannt, sowie Pop-Art Künstler wie Andy Warhol. Der Life-Artikel erwies sich als ein erster Vorbote der Tatsache, dass die musikalischen Jugendkulturen auf dem besten Weg waren, fester Bestandteil der Mittelschicht und damit des Mainstreams zu werden.13Hecken 2009, S. 273. Und in der Tat: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verloren musikalische Jugendkulturen ihre politisch-subversive Kraft. Musik wurde zum Konsumgut, ganze Branchen entstanden, um den Bedarf an Popkultur-Gütern zu bedienen. Musikalische Subkulturen wurden und werden vom Markt vereinnahmt: „Subkulturen [werden] zur Grundlage der Absatzstrategie der Großkonzerne, denen es gerade darum geht, künstliche Verfestigungen und Differenzierungen an den Gebrauch von Markenartikeln zu binden."14Prokop 1974, S. 122. Konzerne nutzen alle Kanäle, um ihre Produkte unter das Volk zu bringen. Musikvideos werden zu Werbeclips, Madonna zur Werbeikone, Christina Aguilera verkauft ihr eigenes Parfüm. Musiker werden zu medialen „Stars“, deren Privatleben Stoff unzähliger medialer Diskurse ist und deren Style umfassend vermarktet und kommerzialisiert wird.
Doch deshalb mit dem Journalisten Oliver Jeges das „Ende der Popkultur"15Jeges 2014, S. 111. auszurufen, ist verfrüht. Denn die Popkultur und ihre Musik in ihren unzähligen Ausprägungen und Konsumangeboten passen ideal zu den Bedürfnissen einer heutigen Jugendgeneration, die mit Revolutionen und Rebellion wenig am Hut hat.16Vgl. Eulenbach 2013, S. 258f. Die meisten jungen Menschen suchen, im Gegensatz zu ihren in den 60er oder 70er Jahren groß gewordenen Eltern oder Großeltern, keine Alternativkultur mehr, mit der sie sich von der Elterngeneration abgrenzen wollen und die Protest gegen die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse ausdrückt. Vielmehr akzeptieren sie den gesellschaftlichen Status quo und suchen nach ihrem ganz eigenen, individuellen Mix, der ihnen hilft, innerhalb der eigenen Generation eine soziale und kulturelle Heimat zu finden.17Großegger 2006, S. 30. Heutige musikalische Jugendkulturen sind also weniger mit Adjektiven wie „unangepasst“ oder „rebellisch“ zu charakterisieren, sondern als kulturelle und soziale Räume, in denen junge Menschen einerseits ihrem hedonistischen Vergnügen nachgehen können und andererseits frei die Möglichkeit haben, sich selbst in Szene zu setzen, Identitäten und Lebensstile austesten und so zu lernen, sich in einer unübersichtlichen Welt zurechtzufinden. Dies tun sie auf eine äußerst subjektive und gleichzeitig selbstbewusste Art und Weise. Neue technische Möglichkeiten erlauben diese Subjektivierungdes Musikverhaltens, etwa die Streaming-Apps Spotify oder Simfy, die jedem Jugendlichen den „kompletten Musikkatalog der Menschheitsgeschichte in Sekundenschnelle zur Verfügung"18Jeges 2014, S. 113. stellen. Kommerzialisierung der Musik sowie Subjektivierung des Musikverhaltens führt dazu, dass die meisten Jugendlichen sich nicht mehr wie einst großen musikalischen Jugendkulturen zugehörig fühlen, sondern „jeder alles zur gleichen Zeit gut finden“ kann.19Jeges 2014, S. 119. Nur noch etwa 20 Prozent der Jugendlichen sind „echte Insider“ einer musikalischen Jugendkultur. Diese 20 Prozent orientieren sind noch umfassend an einem musikalischen Stil und seiner Kultur und sind Trendsetter: „Sie sind diejenigen, die neue Entwicklungen vorantreiben, indem sie sich nicht nur früher, sondern gemeinhin auch stärker als die breite Mehrheit für sie begeistern."20Großegger 2006, S. 33.
Die breite Masse tickt anders. Sie identifiziert sich nur noch punktuell mit dem einen oder anderen Musikstil und ihren Interpreten, Texten und Moden. Junge Menschen halten sich immer weniger an Grenzen musikalischer Stile und Jugendkulturen, sondern mixen sich genreübergreifend immer wieder neu ihre eigene, individuelle Playlist zusammen. Dieses jugendliche Musikverhalten findet seine Parallele in der Vermischung der Musikstile selbst. Interpreten, die sich nur ihrem Musikstil verpflichtet sehen, haben ausgedient. Stattdessen werden Musikstile immer wilder und kreativer miteinander kombiniert: Hip-Hop trifft Rock, Elektro trifft Pop-Ballade, Rock trifft Jazz, usw. Beispiele hierfür gibt es wie Sand am Meer: Der DJ David Guetta tritt mit RnB-Ikone Rihanna auf, Schlagerbarde Heino besucht das Metal-Festival Wacken und Filmmusikkomponist Hans Zimmer komponiert eine Hymne für das Elektrofestival Tomorrowland.
II. Gefühlsregulation und Selbstsozialisation: Musik als Vehikel zur Bewältigung des Lebens
Es wurde deutlich, dass das Verhältnis junger Menschen zur Musik kein statisches, sondern vielmehr ein höchst lebendiges und doch stets inniges ist. Im Folgenden soll sich genauer zeigen, welche Funktionen Musik heutzutage für Jugendliche hat.
Es ist zu beobachten, dass junge Menschen Musik ganz verschiedentlich nutzen: Sie setzen sich mit Liedtexten auseinander, erarbeiten sich Expertenwissen über favorisierte Musikgenres oder Künstler, leben und erleben sich in Musikszenen, musizieren in einer Band, tanzen im Club oder der Tanzschule, covern Lieder und posten ihre individuelle Version als Video auf YouTube, hören Musik während sie lernen oder erlernen ein Musikinstrument.21Harring 2013, S. 303.
In der Forschung werden insbesondere zwei Gründe genannt, warum sich Jugendliche so vielfältig und intensiv auf Musik einlassen.
2.1. Musik als Gefühlsregulation
Es wurde bereits angedeutet, dass populäre Musik nicht einfach nur des Klanges wegen geliebt und gehört wird, sondern dass sie eine Kultur schafft, in der Menschen leben und sich orientieren. In der Forschung wird diese Entwicklung auch als die Ästhetisierung des Alltags bezeichnet. Die Popmusik produziert eine Welt, in der Menschen sich dem ästhetisch schönen Erleben widmen können. Die Voraussetzung für diese Entwicklung liegt in einer beispiellosen Zunahme von materiellem Wohlstand und technischem Fortschritt seit dem Ende des 2. Weltkriegs.22Schulze 2005, S. 33. Seither treten existentielle Überlebensfragen in den Hintergrund und ein jeder steht tagtäglich vor der Aufgabe, angesichts unzähliger Angebote und Optionen sein Leben zu gestalten. Um in dieser Flut der Angebote nicht hilflos unterzugehen, hat der moderne Mensch einen Maßstab entwickelt, nach dem er aus all den Optionen auswählt und sein Leben gestaltet. Diesen Maßstab nennt der Soziologe Gerhard Schulze Erlebnisrationalität. Erlebnisrational ist eine Entscheidung dann, wenn sie ein schönes Erlebnis produziert. Der moderne Mensch sucht, so Schulzes These, im Dickicht unzähliger Optionen nach solchen Handlungen, die das eigene Innenleben so beeinflussen, dass man etwas als „schön“ erlebt.
Dinge, die langweilig oder monoton sind, haben somit keine Chance. Stattdessen werden alle Dinge und Situationen des Alltags stets auf ihr ästhetisches Potential hin befragt. Beim Autokauf geht es nicht nur um die Fähigkeit des Autos, den Fahrer sicher und preisgünstig von A nach B zu bringen. Entscheidend ist auch, ob das Fahrgefühl angenehm ist, ob das Auto fasziniert, ob es sich gut anfühlt, das Auto zu besitzen. Beinahe alle Dinge des Lebens werden so auf ihr „Erlebnispotential“ hin bewertet.Was hat diese Erlebnisrationalisierung nun mit der Musik zu tun? Populäre Musik ist so erfolgreich und überaus beliebt, weil sie sich als geradezu ideal dafür erweist, schöne Erlebnisse zu produzieren.23Vgl. Müller 1999, S. 115. Denn Jugendliche nutzen Musik ganz zielgerichtet, um ihren Gefühlshaushalt zu stimulieren. Als Jugendliche befragt wurden, aus welchen Gründen sie Musik hören, rangierte die Beeinflussung der eigenen Stimmung ganz oben.24Vgl. Münch 2002, S. 74. Musik wird für junge Menschen „zum bestimmenden Element eines umgreifenden Lebensgefühls […], das sich aus dem Alltäglichen ausgliedert (so etwa bei den Ekstasen in Live-Konzerten) oder, eingelassen in die Alltäglichkeit, deren Farben verändert."25Baacke 1998, S. 37. Vgl. auch Schramm 2008, S. 137.
Jugendliche gestalten ihr musikalisches Umfeld konsequent so, dass es ihre aktuelle Stimmung unterstützt, kompensiert oder verändert. Das Schlüsselwort lautet: Situationsbewältigung.26Reinhardt/Rötter 2013, S. 144. Jugendliche stimulieren in jeder emotionalen Situation ihre Gefühle mit Hilfe von Musik: „in positiven Stimmungskontexten der Romantik, der Freude und der Ruhe wird stimmungskongruente Musik ausgewählt, um die jeweiligen Zustände zu unterstützen. Bei Wut und Ärger reagieren sich die Jugendlichen mit aggressiver Musik ab. Bei Trauer und Melancholie wählen Jugendliche mehr traurige als freudige Musik aus."27Schramm/Vorderer 2002, S. 119. Dieses Verhaltensmuster lässt darauf schließen, dass Musik meist intuitiv benutzt wird, um Stimmungen zu verstärken oder zu unterstützen. Im Gegensatz dazu hören ältere Menschen Musik häufiger, um Stimmungen entgegenzuwirken: Man lässt sich von fröhlicher Musik aus einer pessimistischen Stimmung reißen.28Schramm/Vorderer 2002, S. 124.
2.2. Testen und ausprobieren: Musik als Sozialisationsinstanz
Neben der Gefühlsregulierung ist Musik für Jugendliche noch auf eine weitere Weise wichtig. Musik hilft Jugendlichen, sich sozial und kulturell zu positionieren.29Hoffmann 2008, S. 155.
Die Jugendphase ist in besonderer Weise eine Lebenszeit der Orientierung und der Selbstfindung. Diese Selbstfindung erfolgt in unserer heutigen Gesellschaft vor allem darüber, sich in privaten und öffentlichen Kontexten auszuprobieren.30Hoffmann 2008, S. 158. Junge Menschen testen aus, welche Milieus und Lebensstile zu ihnen passen, sie schließen Freundschaften, entdecken ihren Körper, spielen mit gesellschaftlichen oder familiären Tabus, formulieren Werte und Lebensziele.31Müller 2002, S. 14.
Dieser Prozess wird mit dem Begriff der Selbstsozialisation bezeichnet. Die Tatsache, dass junge Menschen sich in der heutigen Gesellschaft selbst sozialisieren müssen, ist ein unabdingbares Erfordernis und wird von der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft nicht nur ermöglicht, sondern geradezu erwartet.32Müller 1999, S. 116. Die Zeiten, in denen der Lebensweg des Einzelnen durch die Hierarchien und Erwartungen der Gesellschaft, der Religion und der Familie vorgegeben wurden, gehören in den meisten Fällen der Vergangenheit an. In der heutigen Gesellschaft sind junge Menschen unabdingbar vor die Aufgabe gestellt, ihren eigenen Weg zu finden: „[Das] Leben wird zur selbst zu gestaltenden Aufgabe, zum individuellen Projekt."33Kohli 1991, S. 312.
Junge Menschen stehen damit vor einer gewaltigen Aufgabe. Um diese Herausforderung erfolgreich zu bewältigen, nutzen Jugendliche alle ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen: Die Familie, Freunde, Schule und die Massenmedien.
Den Massenmedien als Sozialisationsinstanz kommt dabei eine besondere Rolle zu. Sie sind das Fenster in die „große weite Welt“ und bieten die Möglichkeit, sich mit Hilfe der dort vermittelten Werte und Lebensentwürfe etwa von familiären Rollen und Mustern abzugrenzen. Die Massenmedien vermitteln durch Musik, Bilder, Texte und Erzählungen Kultur und kulturelle Praxen.34Vgl. Diederichsen 2014, S. xi. Sie bietet jungen Menschen somit genau das, wonach sie suchen: Lebensstile und -ziele, Körperkonzepte, Moden, Werte und soziale Einstellungen. Sie laden ein, sich der einen oder anderen Subkultur anzuschließen und auszuprobieren, ob sie zu einem passt. Identifiziert man sich mit einem Lied, geht dies häufig einher mit der Orientierung an einer Band oder Interpreten. Die Medien bieten nun unzählige Erzählungen und Bilder über den Interpreten an. Diese Erzählungen verweisen auf Lebensstile, Identitätskonzepte und Werte, die man für sich übernehmen kann.35Vgl. Hoffmann 2008, S. 168: „Man hat ein Bild von jemandem, der angibt, Bushido oder Sido zu favorisieren, oder von jemandem, der eingesteht, Die Ärzte oder Xavier Naidoo zu präferieren. Bestimmte Musikgenres verweisen auf kulturelle Stile und Moden, sie stehen teilweise aber auch für bestimmte Werte und soziale Einstellungen.“ Musik und die massenmedial vermittelten Bilder, Texte und Erzählungen bilden Collagen, in denen sich junge Menschen mit ihren Erfahrungen und Sehnsüchten wiederfinden. Sie lassen sich (zeitweise) auf jene Lebensentwürfe ein, eifern jenen Stars nach, tragen jene subkulturell spezifische Mode und hören jenen Musikstil, der ihrem momentanen Selbstbild entspricht und mit dessen Hilfe sie ein (vorübergehendes) soziales und kulturelles Zuhause finden.
Durch diesen Prozess der Selbstsozialisation gehen Jugendliche nicht alleine. Die Peer-Group ist die Keimzelle vieler Identifikationsprozesse. Medien, die Peer-Group und die Persönlichkeit des Einzelnen beeinflussen wechselseitig, welchem musikalischen Stil man sich zuordnet und für welche Künstler man schwärmt.36Vgl. Reinhardt/Rötter 2013, S. 147, auch Großegger 2006, S. 34. Anerkennung und Bestätigung oder eben Zurückweisung innerhalb der Peer-Group entscheiden häufig darüber, welcher Musik, Mode oder Werten man weiterhin Aufmerksamkeit schenkt. Diese sozialen Prozesse innerhalb der Peer-Group helfen Jugendlichen, Sicherheit und Klarheit über die eigene Identität zu gewinnen und spielen im Prozess des Erwachsenwerdens eine große Rolle.
III. Musik und christliche Jugendarbeit
Jugendliche in der christlichen Jugendarbeit sind gleich wie ihre Altersgenossen popkulturell geprägt. Christliche Jugendarbeit steht vor der Herausforderung, diese jungen Menschen in ihrem Sozialisationsprozess zu begleiten und ihnen in diesem Prozess mit der Liebe Gottes zu begegnen. Dabei geschieht christliche Jugendarbeit nicht außerhalb der popmusikalisch geformten Kultur, sondern ereignet sich mittendrin. Sie ist ein Raum innerhalb der Kultur, der sich bestenfalls auszeichnet durch die in Jesus Christus verkörperte Hoffnung, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Wort und Tat vermitteln. Diese Vermittlung gelingt nur, wenn sie die Bedürfnisse und Lebenswelten junger Menschen beachtet und Formen zulässt, die popkulturell geprägte junge Menschen verstehen und mit denen sie sich identifizieren können. Denn für Jugendliche in der christlichen Jugendarbeit gilt dasselbe wie für alle anderen auch: Sie nutzen medial vermittelte Musik, Bilder, Texte und Erzählungen, um sich in dieser Welt zu orientieren und Identitäten zu entwickeln.
Dieser Herausforderung kann sich christliche Jugendarbeit von zwei Seiten her nähern. Zum einen können es sich Jugendmitarbeiterinnen und Jugendmitarbeiter zur Aufgabe machen, Experten jener Popkultur zu werden, die sie und ihre Jugendlichen tagtäglich umgibt. Zum anderen kann christliche Jugendarbeit einen Beitrag dazu leisten, relevante christliche Musik als Ergänzung zur säkularen Musik zu etablieren.
3.1. Christliche Jugendarbeit braucht Kulturexperten
Christliche Jugendarbeit geschieht nie im kulturell luftleeren Raum. Alles, was im Rahmen christlicher Jugendarbeit geschieht, ist immer auch geprägt von der Sprache, den Formen und den Bildern der sie umgebenden Kultur, der Popkultur. Statt sich abzuschotten oder diese Realität einfach zu ignorieren, gilt es, sich aktiv mit dieser Kultur auseinanderzusetzen. Die Aufforderung von Jesus an seine Jünger, in die Welt zu gehen (vgl. Mt 28,18) gilt auch für christliche Jugendarbeit. Sie steht vor der Aufgabe, den Hoffnungen, Wünschen und Bedürfnissen junger Menschen, die sich im herausfordernden Prozess der Selbstsozialisation befinden, so zu begegnen, dass sie im Rahmen christlicher Jugendarbeit eine Heimat finden. Dafür ist Expertenwissen nötig. Ein Wissen um die Lebenswirklichkeiten Jugendlicher, die fundamental von der Musik, den Bildern, Texten und Erzählungen der Popkultur geprägt sind. Es geht um einen respektvollen Umgang mit der Welt, die so existentiell wichtig für junge Menschen und ihre Suche nach Identität ist. Vorschnelle Urteile über Einstellungen, Mode oder eben Musik sind fehl am Platz. Es gilt, Popkultur und ihre Musik vor allem als Instrument zu schätzen, dessen sich junge Menschen bedienen, um mit ihrem Leben zurecht zu kommen.
Schon der Reformator Martin Luther hatte beim Dichten neuer Lieder auf Melodien von Volksliedern und damit auf die ihn umgebene Kultur zurückgegriffen. Diese Praxis war Ausdruck der Überzeugung, dass Kultur und ihre Praktiken nicht per se schlecht und verwerflich sind. Letztlich können „alle Bereiche der Kultur ... als Begegnungs- und Gestaltungsraum des Evangeliums“ begriffen werden."37Walldorf 2010, S. 178. In diesem Sinne verwendeten auch die Evangelisten der Erweckungs- und Heiligungsbewegung säkulare Melodien. So schrieb William Booth, Gründer der Heilsarmee, 1880 ganz im Geiste Luthers: „Du sagst, säkulare Musik gehört dem Teufel? Tut sie das? Nun, wenn sie das täte, würde ich sie ihm stehlen. Denn er hat kein Anrecht auf eine einzige der sieben Noten … Jede Note … und jede Harmonie ist göttlich und gehört uns."38Zitiert in Walldorf 2010, S. 179f. (Eigene Übersetzung)
Im Rahmen christlicher Jugendarbeit ist es wichtig, junge Menschen anzuleiten, die sie umgebene Kultur mündig zu reflektieren. Praktisch kann dies geschehen, in dem man sich mit den Jugendlichen gemeinsam Musik, Texte, Bilder oder Filme anhört oder ansieht und gemeinsam über vermittelte Werte und Einstellungen spricht. Welche Sehnsüchte, welche Überzeugungen werden vermittelt? Wo kommt Schönes und Wahres zum Ausdruck? Und wo finden sich problematische Überzeugungen? Was kann gefährlich werden? Im konkreten Fall könnte man die Jugendlichen einige ihrer aktuellen Lieblingslieder auswählen lassen und diese zum Thema machen. In der Analyse der Lieder geht es dann nicht nur um die Liedtexte, obwohl diese natürlich eine wichtige Rolle spielen. Es sollte auch darum gehen, die Emotionen und Assoziationen, die die Jugendlichen mit einem Lied verbinden, zur Sprache zu bringen und zu würdigen. Zudem kann das Verhältnis der Jugendlichen zu dem oder den Interpreten zum Thema werden. Was verbinden die Jugendlichen für Träume und Gefühle mit dieser Person? Wo dient sie als Vorbild? Wo nicht?
Merken Jugendliche, dass „ihre“ Musik, Bilder oder Texte auch in der Jugendarbeit geschätzt werden, kann dies dazu führen, dass sie im Rahmen der christlichen Jugendarbeit wirklich eine Heimat finden. Zudem lernen sie, dass christliches Leben nicht in einer Anti-Kultur stattfinden muss, sondern dass es in der sie umgebenden Kultur zu Hause ist und auch von „außerhalb“ Inspiration erfahren darf. Zugleich werden sie ermutigt, reflektierend in dieser Kultur zu leben und christliche Werte und Überzeugungen in den Reflexionsprozess ganz selbstverständlich miteinzubeziehen.
Trotz dieser grundsätzlichen Wertschätzung der Popkultur und ihrer Musik stehen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Jugendarbeit gleichermaßen vor der Herausforderung, gemeinsam mit den Jugendlichen destruktive und zerstörerische Inhalte in Liedtexten, Bildern oder vermittelten Lebensstilen auszumachen und als solche anzusprechen. Dies ist sicherlich nicht immer einfach. Neue, problematische Phänomene der Popkultur müssen gemeinsam mit den Jugendlichen immer wieder neu diskutiert und bewertet werden. Kinder und Jugendliche eignen sich manchmal Lieder, Bilder oder Texte an, ohne wirklich zu verstehen, mit was sie da gerade zu tun haben. Hier hat christliche Jugendarbeit die wichtige Aufgabe, aufzuklären und entgegenzuwirken. Christliche Jugendarbeit kann hier auf Grundlage des Evangeliums Orientierung geben, insbesondere wenn es sich um menschenverachtendes, sexistisches, gewaltverherrlichendes oder okkultes Material handelt. Zentrale Motive des christlichen Glaubens wie Nächstenliebe oder der Gleichheit aller Menschen vor Gott stehen Sexismus, Rechtsradikalismus oder Gewalt fundamental entgegen. Christliche Jugendarbeit wird erst dann ein geschätzter und geschützter Raum für Jugendliche, wenn diese Dinge offen angesprochen, diskutiert und bewertet werden. So lernen Jugendliche, mündig mit den unzähligen Einflüssen der sie umgebenden Kultur umzugehen und Gutes von Destruktivem zu unterscheiden.
3.2. Christliche Musik als Ergänzung zur säkularen Musik etablieren
Säkulare Musik umgibt junge Menschen immer und überall. Christliche Jugendarbeit kann es sich zur lohnenden Aufgabe machen, dezidiert christliche Musik ergänzend zur säkularen Musik zu etablieren.
Bereits zu Zeiten des Alten Testaments war der jüdische Tempel Ort einer lebendigen Musizierpraxis.39Bubmann 2009, S. 28. Die ersten Christen orientierten sich in der musikalischen Gestaltung ihrer Gottesdienste an eben jener musikalischen Tradition des Tempels und insbesondere der Synagoge. Paulus forderte in seinen Briefen mehrfach dazu auf, zu musizieren und zu singen (1. Kor 14,36; Kol 3,16; Eph 5,19).40Ob Hymnen, die etwa in Kol 1,15-20 und Phil 2,6-11 festgehalten wurden, im heutigen Sinne gesungen wurden, ist unklar. Vgl. Seidel 1994, S. 444. In der Alten Kirche und im Mittelalter wurden häufig Psalmen gesungen.
Auch im Rahmen der deutschen Reformation spielte die Musik eine wichtige Rolle. Martin Luther selbst dichtete deutsche Liedtexte, um auch den vielen Menschen, die nicht lesen konnten, ein Verstehen des Evangeliums in ihrer Sprache zu ermöglichen. Doch Musik war für ihn mehr als nur ein Vehikel für das Evangelium. Er schreibt: „Ich liebe die Musik … weil sie (1) ein Geschenk Gottes und nicht der Menschen ist, (2) weil sie die Seelen fröhlich macht, (3) weil sie den Teufel verjagt, (4) weil sie unschuldige Freude weckt. Darüber vergehen die Zornanwandlungen, die Begierden, der Hochmut … Ich gebe der Musik den ersten Platz nach der Theologie."41Zitiert in Bubmann 2012, S. 175. Musik war für Luther also mehr als nur ein Hilfsmittel zur Verkündigung des Evangeliums. Musikalische Klänge hatten für den Reformator Bedeutung für die Lebensführung und die Gefühle. Sie taten gut und sollten deshalb einen Platz im Leben des Menschen haben.
Im 18. und 19. Jahrhundert prägten insbesondere zwei Entwicklungen die Musik: Zum einen löste sich die Musik, wie viele andere Kulturpraktiken auch, aus dem Schoß der Kirche. Musik wurde unabhängig von inhaltlichen und formellen Vorgaben der Kirche und fand neue Heimat etwa in der Oper oder später im Gesangsverein. Zum anderen wurde Musik subjektiver. Das heißt, Musik wurde stärker zum Ausdruck menschlicher Gefühle und Erfahrungen. Dies schlug sich im Rahmen der Kirchenmusik insbesondere in den „geistlichen Liedern“ der pietistischen und erwecklichen Bewegungen nieder. Besonders religiöse Gefühle und persönliche emotionale Gotteserfahrungen wurden zum Thema kirchlicher Musik.42Walldorf 2010, S. 177.
Seit den 1960er und 1970er Jahren hat in vielen Freikirchen und vermehrt auch in Landeskirchen ein Liedgut Einzug gehalten, dass unter dem Label „Praise & Worship“ bekannt geworden ist. Dieser Einzug barg und birgt noch heute teilweise ein hohes Konfliktpotential. Manche Gemeinden kritisierten eine zu große Einseitigkeit der Liedtexte, andere wandten sich prinzipiell gegen popmusikalische Klänge im Gottesdienst. Gerade in vielen evangelischen Freikirchen hat sich aber die „Praise & Worship“-Musik in den letzten Jahren im Gottesdienst praktisch durchgesetzt, in vielen landeskirchlichen Gemeinden gibt es spezielle Veranstaltungen wie Jugendgottesdienste, in denen „Praise & Worship“-Musik gespielt wird. Aus historischer Perspektive ist die „Praise & Worship“-Musik eine Synthese aus drei Entwicklungen.
Zum einen lieferte die amerikanische Gospelmusik liturgische Impulse. Denn charakteristisch für heutige „Praise & Worship“-Musik sind längere, zusammenhängende „Worship-Zeiten“, in denen Lieder mit einfachen, mitsingbaren Chorussen gesungen werden, die häufig mehrmals wiederholt werden. Ebenfalls ein Erbe der amerikanischen Gospelmusik ist das Phänomen, dass eine oder mehrere Personen den Gesang anleiten.43Baltes 2006, S. 104.
Zweitens wurde die gottesdienstliche „Praise & Worship“-Musik theologisch von der charismatischen Erneuerungsbewegung geprägt, die seit den 1960er Jahren in deutschen Kirchen und Freikirchen Fuß fasste. In den Liedern kam dieser Einfluss insbesondere durch zwei Merkmale zum Tragen. Zum einen wurde eine besondere Betonung auf den doxologischen Charakter der Texte gelegt: Das Lob und die Anbetung Gottes stehen in „Praise & Worship“-Liedern im Mittelpunkt. Zum anderen wurden Lieder als persönliche Gebete verstanden, in denen eine persönliche, emotionale Gottesbeziehung zum Ausdruck kommen sollte. So bestimmen Themen wie Hingabe oder Liebe zu Gott die Texte.44Vgl. Baltes 2006, S. 113.
Drittens war entscheidend die Jesus-People-Bewegung dafür verantwortlich, dass die Musik der 50er und 60er Jahre (Rock’n’Roll und Beat) unter jungen Christen Verbreitung erfuhr. Der sogenannte Jesus Rock wurde von Größen wie Larry Norman oder ab 1969 auch Jonny Cash erfolgreich in christliche Kreise getragen und populär gemacht.45Walldorf 2010, S. 187f. Unter anderem durch die Großevangelisationen von Billy Graham und durch das Engagement der charismatischen Organisation Jugend mit einer Mission kam christliche Popmusik Anfang der 1970er Jahre auch in Deutschland an und wurde mit der Zeit Teil der Musik im Gottesdienst. Spätestens seit den 1980er Jahren kommen christliche „Praise & Worship“-Lieder und Texte auch aus deutscher Feder. Liederbücher wie die Feiert Jesus Serie zeugen davon, dass im heutigen gottesdienstlichen Gebrauch ein Mix englischer und deutscher Titel Verwendung findet.
Neben der für das gemeinsame gottesdienstliche Singen geschriebenen „Praise & Worship“-Musik mit ihren häufig simplen Melodieführungen, gleichmäßigen Grooves und wenigen Disharmonien46Baltes 2006, S. 107. gibt es allerdings auch ein respektables Angebot an christlicher Musik, welches jedes Genre bedienen kann. Viele Jugendliche in der christlichen Jugendarbeit wissen überhaupt nicht, dass durchaus hochwertige christliche Musik für jeden Geschmack existiert: von Schlager bis Heavy Metal, von Gothic bis Rock oder Elektro. In Deutschland gibt es eine Reihe von Bands, die teilweise aus Jugendgottesdienstbands entstanden sind und sich professionalisiert haben.47Derzeit bekannte deutsche christliche Bands und Interpreten sind etwa GoodWeatherForcast, Sacrety, warumLila oder auch Samuel Harfst. Auf Konzerten und Festivals sind christliche Bands und Interpreten ebenso zu Hause wie im Netz und bedienen sich aller Kanäle, derer sich säkulare Musik auch bedient.
Angesichts dessen könnte christliche Jugendarbeit zu einer Art Vermittler werden, der relevante Informationen über christliche Bands und Interpreten an Jugendliche weitergibt. Zugleich könnten christliche Jugendgruppen auf Konzerte und Festivals christlicher Bands fahren und so den Jugendlichen musikalische Erlebnisse ermöglichen.
Gleichzeitig können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter christlicher Jugendarbeit Musik, Texte und Erzählungen christlicher Bands und Interpreten zum Thema machen. Häufig geben diese einen authentischen Blick auf existentielle Themen des Lebens und bieten Möglichkeiten an, diese aus der Perspektive des christlichen Glaubens zu interpretieren. Dabei sind diese Musik, Texte und Erzählungen in einer Form verfasst, die junge Menschen als ihre eigene identifizieren. So können sich Jugendliche in ihrer eigenen Lebenswelt und mit ihren eigenen sprachlichen Codes mit dem christlichen Glauben auseinandersetzen. Sie lernen, selbständig in eigenen Worten ihre Sehnsüchte, ihre Probleme und ihren Glauben zu artikulieren und zu reflektieren. Damit kann christliche Jugendarbeit einen wesentlichen Beitrag zur religiösen Entwicklung und Selbstbestimmung Jugendlicher leisten.
Autor
Markus Karstädter
Endnoten
- 1Shell Deutschland Holding 2010, S. 96.
- 2JIM 2014, S. 48.
- 3Calmbach 2012, S. 51.
- 4Großegger 2006, S. 29.
- 5Vgl. Wicke 2003, S. 323.
- 6Eulenbach 2013, S. 258. Vgl. auch Wicke 2003, S. 323.
- 7Ferchhoff 2013, S. 23.
- 8Vgl. Ferchhoff 2013, S. 28.
- 9Vgl. Maase 2003, S. 40.
- 10In diesem Sinne ist die Musik musikalischer Jugendkulturen, im Folgenden als Popmusik oder populäre Musik bezeichnet, mehr als einfach nur der musikalische Klang: „Pop-Musik ist der Zusammenhang aus Bildern, Performances, (meist populärer) Musik, Texten und an reale Personen geknüpfte Erzählungen“, so beschreibt es Poptheoretiker Diedrich Diederichsen (Diederichsen 2014, S. xi). Populäre Musik kreiert eine Kultur, in der sich Menschen bewegen und mit der sie leben, in der sie Orientierung und Identität suchen und finden.
- 11Ferchhoff 2013, S. 30.
- 12Großegger 2006, S. 32.
- 13Hecken 2009, S. 273.
- 14Prokop 1974, S. 122.
- 15Jeges 2014, S. 111.
- 16Vgl. Eulenbach 2013, S. 258f.
- 17Großegger 2006, S. 30.
- 18Jeges 2014, S. 113.
- 19Jeges 2014, S. 119.
- 20Großegger 2006, S. 33.
- 21Harring 2013, S. 303.
- 22Schulze 2005, S. 33.
- 23Vgl. Müller 1999, S. 115.
- 24Vgl. Münch 2002, S. 74.
- 25Baacke 1998, S. 37. Vgl. auch Schramm 2008, S. 137.
- 26Reinhardt/Rötter 2013, S. 144.
- 27Schramm/Vorderer 2002, S. 119.
- 28Schramm/Vorderer 2002, S. 124.
- 29Hoffmann 2008, S. 155.
- 30Hoffmann 2008, S. 158.
- 31Müller 2002, S. 14.
- 32Müller 1999, S. 116.
- 33Kohli 1991, S. 312.
- 34Vgl. Diederichsen 2014, S. xi.
- 35Vgl. Hoffmann 2008, S. 168: „Man hat ein Bild von jemandem, der angibt, Bushido oder Sido zu favorisieren, oder von jemandem, der eingesteht, Die Ärzte oder Xavier Naidoo zu präferieren. Bestimmte Musikgenres verweisen auf kulturelle Stile und Moden, sie stehen teilweise aber auch für bestimmte Werte und soziale Einstellungen.“
- 36Vgl. Reinhardt/Rötter 2013, S. 147, auch Großegger 2006, S. 34.
- 37Walldorf 2010, S. 178.
- 38Zitiert in Walldorf 2010, S. 179f. (Eigene Übersetzung)
- 39Bubmann 2009, S. 28.
- 40Ob Hymnen, die etwa in Kol 1,15-20 und Phil 2,6-11 festgehalten wurden, im heutigen Sinne gesungen wurden, ist unklar. Vgl. Seidel 1994, S. 444.
- 41Zitiert in Bubmann 2012, S. 175.
- 42Walldorf 2010, S. 177.
- 43Baltes 2006, S. 104.
- 44Vgl. Baltes 2006, S. 113.
- 45Walldorf 2010, S. 187f.
- 46Baltes 2006, S. 107.
- 47Derzeit bekannte deutsche christliche Bands und Interpreten sind etwa GoodWeatherForcast, Sacrety, warumLila oder auch Samuel Harfst.
Bibliografie
Baacke, Dieter, Neue Ströme der Weltwahrnehmung und kulturellen Orientierung, in: Handbuch Jugend und Musik, Opladen 1998, S. 29-57
Baltes, Guido, „Praise & Worship“ – Musikstil oder mehr? Über Worte und Töne in einem wachsenden Randbereich der evangelischen Kirchenmusik, in: Kabus, Wolfgang (Hg.), Popularmusik und Kirche. Ist es Liebe? – Das Verhältnis von Wort und Ton, Frankfurt a. M. 2006, S. 99-120
Bubmann, Peter, Musik – Religion – Kirche. Studien zur Musik aus theologischer Perspektive, Beiträge zu Liturgie und Spiritualität Band 21, Leipzig 2009
Bubmann, Peter, Musik als Medium christlicher Lebenskunst, in: Müller, Wolfgang W. (Hg.), Musikalische und theologische Etüden. Zum Verhältnis von Musik und Theologie, Zürich 2012, S. 175-199
Calmbach, Marc, u. a., Wie ticken Jugendliche? 2012. Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, Verlag aus Altenberg 2011
Diederichsen, Diedrich, Über Pop-Musik, Köln 2014
Eulenbach, Marcel, Stars, Musikstars, Castingstars: Zum Verhältnis von medialen Starinszenierungen und Identitäts- und Entwicklungsprozessen im Jugendalter, in: Heyer, Robert/Wachs, Sebastian/Palentien, Christian (Hg.), Handbuch Jugend – Musik – Sozialisation, Wiesbaden 2013, S. 249-292
Ferchhoff, Wilfried, Musikalische Jugendkulturen in den letzten 65 Jahren: 1945-2010, in: Heyer, Robert/Wachs, Sebastian/Palentien, Christian (Hg.), Handbuch Jugend – Musik – Sozialisation, Wiesbaden 2013, S. 19-123
Großegger, Beate, „Musik ist Lebensgefühl und Statement zugleich“. Zur Bedeutung der Popularmusik im jugendlichen Alltag, in: Bailer, Noraldine/Huber, Michael (Hg.), Youth – Music – Socialization. Empirische Befunde und ihre Bedeutung für die Musikerziehung, Wien 2006, S. 29-38
Harring, Marius, Freizeit, Peers und Musik, in: Heyer, Robert/Wachs, Sebastian/Palentien, Christian (Hg.), Handbuch Jugend – Musik – Sozialisation, Wiesbaden 2013, S. 293-322
Hecken, Thomas, Pop. Geschichte eines Konzepts 1955-2009, Bielefeld 2009
Hoffmann, Dagmar, „Lost in Music“ oder „Musik für eine andere Wirklichkeit“? Zur Sozialisation Jugendlicher mit Musik und Medien, in: Weinacht, Stefan/Scherer, Helmut (Hg.), Wissenschaftliche Perspektiven auf Musik und Medien, Wiesbaden 2008, S. 155-176
Jeges, Oliver, Generation Maybe. Die Signatur einer Epoche, Berlin 2014
Kohli, M., Lebenslauftheoretische Ansätze in der Sozialisationsforschung, in: Hurrelmann, K./ Ulich, D. (Hg.), Neues Handbuch der Sozialisationsforschung, 4., völlig neubearb. Aufl., Weinheim/Basel 1991, S. 303-317
Maase, Kaspar, „Jugendkultur“, in: Hügel, Hans-Otto (Hg.), Handbuch Populäre Kultur, Stuttgart/Weimar 2003, S. 40-45
Medienpädagogischer Forschungsverband Südwest (Hg.), JIM 2014. Jugend, Information, (Multi-) Media, Stuttgart 2014
Müller, Renate, Musikalische Selbstsozialisation, in: Fromme, Johannes, u. a. (Hg.), Selbstsozialisation, Kinderkultur und Mediennutzung, Reihe Kindheitsforschung Band 12, Opladen 1999, S. 113-125
Müller, Renate, u. a., Zum sozialen Gebrauch von Musik und Medien durch Jugendliche. Überlegungen im Lichte kultursoziologischer Theorien, in: Ders. (Hg.), Wozu Jugendliche Musik und Medien gebrachen. Jugendliche Identität und musikalische und mediale Geschmacksbildung, Weinheim/München 2002, S. 9-26
Münch, Thomas, Musik, Medien und Entwicklung im Jugendalter, in: Müller, Renate, u. a. (Hg.), Wozu Jugendliche Musik und Medien gebrachen. Jugendliche Identität und musikalische und mediale Geschmacksbildung, Weinheim/München 2002, S. 70-83
Propkop, Dieter, Zum Problem von Konsumtion und Fetischcharakter im Bereich der Massenmedien, in: Ders., Massenkultur und Spontanität. Zur veränderten Warenform der Massenkommunikation im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. 1974, S. 102-132.
Reinhardt, Jan/Rötter, Günther, Musikpsychologischer Zugang zur Jugend-Musik-Sozialisation, in: Heyer, Robert/Wachs, Sebastian/Palentien, Christian (Hg.), Handbuch Jugend – Musik – Sozialisation, Wiesbaden 2013, S. 127-155
Schramm, Holger/Vorderer, Peter, Musikpräferenzen im Alltag, in: Müller, Renate, u. a. (Hg.), Wozu Jugendliche Musik und Medien gebrachen. Jugendliche Identität und musikalische und mediale Geschmacksbildung, Weinheim/München 2002, S. 112-125
Schramm, Holger, Rezeption und Wirkung von Musik in den Medien, in: Weinacht, Stefan/Scherer, Helmut (Hg.), Wissenschaftliche Perspektiven auf Musik und Medien, Wiesbaden 2008, S. 135-154
Schulze, Gerhard, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, 2. Aufl., Frankfurt a. M./New York 2005
Seidel, Hans, Musik und Religion. Altes und Neues Testament, in: Balz, Horst u.a. (Hg.), Theologische Realenzyklopädie, Band XXIII Minucius Felix – Name/Namensgebung, Berlin/New York 1994, S. 441-446
Shell Deutschland Holding (Hg.), Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich, Frankfurt a. M. 2010
Walldorf, Friedemann, „Why should the devil have all the good music“. Populäre evangelikale Musik als kultureller Dialog. Missionswissenschaftliche Perspektiven, in: Jahrbuch für evangelikale Theologie, 24. Jahrgang, Witten 2010, 175-193
Wicke, Peter, „Musik“, in: Hügel, Hans-Otto (Hg.), Handbuch Populäre Kultur, Stuttgart/Weimar 2003, S. 322-326