Die Critical Race Theory
Hintergrund - Anliegen - Beurteilung
1. Einleitung
Rassismus ist fraglos ein brisantes gesellschaftliches Phänomen. Spätestens seit der Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch weiße Polizisten im Februar 2021, die international Aufmerksamkeit erregte, ist das Thema auch in Deutschland vielen stärker ins Bewusstsein gedrungen. Während es bei den einen auf große Resonanz stößt, nimmt bei vielen zugleich die Verwirrung zu. Nicht selten kommt die Frage auf: „Soll denn jetzt alles und jeder rassistisch sein?“
Die in den letzten Jahren neu aufgekommene öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema verdankt sich zum großen Teil dem Einsatz einer linkspolitischen Bewegung, der sogenannten „Critical Social Justice“ (CSJ).1Auch identitätspolitische Linke, kultureller Marxismus oder Wokeismus genannt Wie der Name verrät, bemüht sich die CSJ, die ihren Ursprung in den USA hat, um „soziale Gerechtigkeit“ für verschiedene, als diskriminierte Minderheiten begriffene Gruppen. Dazu zählen neben ethnischen Minderheiten („People of Color“2Der im Wirkungsbereich der CSJ oft verwendete Begriff „People of Color“ bezieht sich nicht auf die Hautfarbe eines Menschen, sondern stellt die Selbstbezeichnung von Gruppen und Einzelpersonen dar, die die Erfahrung von Rassismus teilen (vgl. Diversity, PoC).) auch LGBTQ+ und Frauen3Heute ist meist nicht mehr von Frauen, sondern von FINTA-Personen (Frauen, Intersex, Nonbinäre, Trans, Asexuelle) die Rede Wo soziale Gerechtigkeit im Hinblick auf rassistische Diskriminierung erwirkt werden soll, ist von „Antirassismus“ die Rede.
Die theoretische Grundlage dieses (neuen) Antirassismus bildet die „Critical Race Theory“ (von hier an: CRT), ein Überbegriff für auf politischen Aktivismus angelegte Theorieansätze, die in den späten 80er-Jahren in den USA entwickelt wurden.4Vgl. Baucham, Lines, xi—xiii; crsucla, Race. Die CRT legt ein Verständnis von Rassismus zugrunde, das sich von dem unterscheidet, was im Alltagsgebrauch zumeist unter „Rassismus“ verstanden wird.5Vgl. Lindsay/Pluckrose, Theories, 15. Dies führt in der gesellschaftlichen Debatte immer wieder zu Missverständnissen zwischen Menschen, die die Ideen der CRT adaptiert haben und die aktuell den Diskurs über Rassismus stark bestimmen, und Menschen, die mit den Inhalten der CRT nicht näher vertraut sind.
Eine Beschäftigung mit der CRT aus Sicht christlicher Ethik ist relevant, weil es kaum ausgewogene Auseinandersetzungen mit ihr gibt, während sie zugleich den Diskurs über Rassismus sowohl in den USA als auch in Deutschland zunehmend prägt. In den USA ist CRT zum Kampfbegriff geworden, der die Bevölkerung (oft auch die Christen) in zwei Lager – Gegner und Befürworter – spaltet. Es fehlen in Deutschland an differenzierter Auseinandersetzung mit dem Konzept, gerade auch im christlichen Bereich.6Für den US-amerikanischen Raum vgl. vor allem Voddie T. Baucham, Fault Lines. The Social Justice Movement and Evangelicalism`s Looming Catastrophe, Washington D.C., 2022; Edward Feser, All One in Christ. A Catholic Critique of Racism and Critical Race Theory, San Francisco 2022; Robert Chao Romero / Jeff M. Liou, Christianity and Critical Race Theory. A Faithful and Constructive Conversation, Grand Rapids 2023. Sowie Neil Shenvi / Pat Sawyer, Critical Dilemma, Eugene 2023. Doch gerade junge Christen, die ein weites Herz für Gerechtigkeit haben, fühlen sich von diesen Ideen angezogen. Wenn sie aber nicht erkennen, dass CRT eine Ideologie bildet; und wenn sie die Unterschiede zu christlichen Grundüberzeugungen nicht erkennen, kann das den eigenen Glauben aushöhlen.
Was ist die Critical Race Theory? Und wie sollten Christen und Gemeinde mit ihr und ihrem Einfluss auf unsere Gesellschaft umgehen? Der Beantwortung dieser Fragen dient der vorliegende Artikel, dessen erster Hauptteil sich mit der Frage beschäftigt, was die CRT ist, also woher sie stammt, worin ihre Grundannahmen bestehen und inwiefern sich der Rassismusbegriff der CRT von der bislang gängigen Definition unterscheidet. Der zweite Hauptteil setzt sich mit den Kernthemen der CRT aus biblischer Sicht auseinander, wobei nach Anknüpfungspunkten aber auch nach Widersprüchen zum biblischen Zeugnis gefragt und Kritik geübt wird. An Hauptteil und Fazit schließen sich praktische Anregungen für Christen und Gemeinde angesichts der Chancen und Herausforderungen, die die CRT bietet, an.
2. Was ist die Critical Race Theory?
2.1 Quellen der CRT
Die CRT knüpft (wie der Name anklingen lässt) an die Kritische Theorie (von hier an: KT) an, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Wirkungskreis des Instituts für Sozialforschung der Goethe-Universität Frankfurt am Main entwickelt wurde.7Vgl. Baucham, Lines, xiii. Diese Denkschule übernahm das marxistische Gedankengut von der Befreiung der Gesellschaft aus unterdrückerischen Verhältnissen. Während Marx einzig die wirtschaftliche Marginalisierung als Ursache der Unterdrückung betrachtete, weitete die KT den Blick auf die viel breiteren hegemonialen Strukturen der Gesellschaft: Nicht nur das Kapital, sondern auch das Patriarchat, die Race, der (Neo-)Kolonialismus und die vorherrschende Heteronormativität würden es einigen Gruppen (vor allem weißen heterosexuellen Männern) ermöglichen, an der Macht zu bleiben, während andere Gruppen unter der Marginalisierung zu leiden hätten (z.B. Frauen, People of Colour, LGBTQ+ etc.). Um diese Machtsysteme zu durchbrechen, müssten hetero-patriarchale und rassistische Normen und Strukturen hinterfragt und zerstört werden.8Shenvi/Sawyer, Critical, 73. Weil in den Augen des „Poststrukturalismus“ Sprache die Welt nicht nur beschreibt, sondern erschafft (diesen Gedanken prägte insbesondere Michel Foucault), bildet die Sprache in den Augen der KT das wichtigste Werkzeug des hegemonialen Machterhalts: Wer an der Macht ist, kann seinen Worten Gehör verschaffen, sei es durch Politik oder die Massenmedien. Damit können Eliten ihre eigene Macht ständig legitimieren und festigen, bewusst oder unbewusst.9Vgl. Lindsay/Pluckrose, Theories, 35. Die einzige Möglichkeit, die strukturell gefestigten Machtverhältnisse aufzubrechen, bestehe daher in der Dekonstruktion von Strukturen, Werten und Normen, die den Eliten dienten. Mit anderen Worten: Strukturelle Machtsysteme wie das Patriarchat, die „White Supremacy“ („weiße Vorherrschaft“) sowie die Heteronormativität müssten hinterfragt und destabilisiert werden, damit alte Machtsysteme aufgebrochen und eine gerechtere Gesellschaft erreicht werden kann.10Vgl. Lindsay/Pluckrose, Theories, 41. Die rein intellektuelle Dekonstruktion wandelte sich in den 1980er-Jahren immer mehr zum Aktivismus in Gestalt der Critical Social Justice (CSJ).11Vgl. Lindsay/Pluckrose, Theories, 48. Einflussreiche Denkerinnen wie Kimberlé Crenshaw argumentierten, dass beispielweise die reine Dekonstruktion des Begriffes der Race den Betroffenen nicht helfe, da sie die Auswirkungen ihrer Hautfarbe doch tagtäglich spürten. Um politisch gegen Unterdrückung vorgehen zu können, müssten die Identitäten der Unterdrückten nicht dekonstruiert, sondern vielmehr gefestigt werden.12Crenshaw, Mapping, 1297. Außerdem begründete Crenshaw das Prinzip der Intersektionalität, die Überzeugung, dass alle Arten von Unterdrückung (seien es Rassismus, Sexismus, Homophobie etc.) tief ineinander verwoben seien. Eine lesbische Frau „of Color“ erfährt dieser Theorie zufolge nicht nur die Benachteiligungen, die für sie als Lesbe oder als „Nichtweiße“ zu erwarten seien, sondern zusätzliche ganz spezifische Diskriminierungen, die nur aus der Überlappung (Intersektion) mehrerer Unterdrückungsformen zu erklären seien. Daher ergibt es in den Augen von Aktivisten der CSJ keinen Sinn, ihren Aktivismus z.B. auf den Antirassismus zu beschränken. Dies erklärt Regenbogenfahnen (gegen das heteronormative Patriarchat) oder pro-palästinensische Flaggen (gegen den Kolonialismus) auf Demos der CRT.13Vgl. Lindsay/Pluckrose, Theories, 142f.
2.2 Entstehung der Critical Race Theory in den 1980er Jahren
Unmittelbarer Vorgänger der CRT sind die Critical legal studies (CLS), die die Linse der Dekonstruktion auf das US-amerikanische Rechtssystem anwenden.14Editors, race; crsucla, Race. Dieser „kritische“ Zweig der Rechtswissenschaften entstand aus der Beobachtung heraus, dass die Reform des Rechts im Nachgang der Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre nicht die erhofften Veränderungen in der Beseitigung von (sozialen, wirtschaftlichen und politischen) Ungleichheiten zwischen schwarzen und weißen Menschen hervorgebracht hatten – eine Unzufriedenheit, die auch die Vertreter der CRT um- und antreibt.15Vgl. Daub, Race Theory; crsucla, Race; Editors, race. Seit ihrer Gründung hat sich die CRT in den USA in zahlreiche Subdisziplinen ausdifferenziert, die sich mit der Analyse und Bekämpfung systemischer Benachteiligung auch nicht-schwarzer Minderheiten beschäftigt, etwa der lateinamerikanischen, der asiatischen oder der indigenen Minderheit.16Vgl. crsucla, Race. All diese als diskriminiert geltenden ethnisch-kulturellen Minderheiten werden unter dem Begriff „People of Color“ (PoC) zusammengefasst – ein Begriff, der mittlerweile auch in Deutschland etabliert ist.17Vgl. Diversity, PoC.
2.3 Definitionen der Critical Race Theory
Aber was ist nun Critical Race Theory? Der Begriff bezeichnet ein Rahmenkonzept zur kritischen Analyse (Dekonstruktion) des US-amerikanischen Rechtssystems, meint aber gleichzeitig auch die intellektuelle und soziale Bewegung, wie sie in Kapitel 2.1 beschrieben wurden.18Vgl. Editors, race. Die Grundannahme lautet, dass der Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft (bewusst oder unbewusst) verankert sei, und damit soziale, wirtschaftliche und politische Ungleichheiten zwischen Weißen und Nichtweißen, insbesondere Afroamerikanern, erschaffe und erhalte.19“Critical race theorists hold that racism is inherent in the law and legal institutions of the United States insofar as they function to create and maintain social, economic, and political inequalities between whites and nonwhites, especially African Americans” (Editors, race). Ereignisse wie der Tod von Georg Floyd infolge brutaler Polizeigewalt verleihen diesem Narrativ zudem deine große Plausibilität. Ziel der interdisziplinären Bewegung ist deshalb die Beseitigung aller rassebasierten ungerechten Hierarchien.20Vgl. Editors, race. Bei der CRT handelt es sich somit um einen Theorieansatz, der im Kontext der US-amerikanischen Gesellschaft entwickelt wurde. Nichtsdestotrotz erfährt die CRT insbesondere in den letzten Jahren auch in Westeuropa medialen Auftrieb, auch wenn der Begriff „Critical Race Theory“ selten fällt.21Das lässt sich u.a. daran ablesen, wie viele Beiträge in den letzten Jahren in den öffentlich-rechtlichen Medien veröffentlicht wurden, die sich mit strukturellem Rassismus oder „Alltagsrassismus“ beschäftigen. Die Kernthese, „dass Rassismus keineswegs eine Ausnahmeerscheinung, sondern alltäglich und strukturell“ und darüber hinaus „ein historisch gewachsenes und gesamtgesellschaftliches Phänomen [ist], das ein Machtverhältnis ausdrückt“, wird als auch für den deutschen Kontext anschlussfähig gesehen.22Barskanmaz, Race. Dabei wird die CRT sowohl auf die koloniale Vergangenheit Deutschlands angewandt (hier geht es um Ungleichheiten, die durch Reproduktion der Kategorien „Weiß“/„Schwarz“ aufrechterhalten werden sollen) als auch auf die nationalsozialistische (hier stehen die Kategorien „Deutsch“/„Ausländer“, „Westen“/„Islam“, „Deutsch“/„Jude“ etc. im Vordergrund).23Vgl. Barskanmaz, Race.
2.4 Grundannahmen der CRT
Um sich ein besseres Bild davon zu verschaffen, worum es in der CRT geht, ist es hilfreich, sich die Grundannahmen zu vergegenwärtigen, die bei allen unterschiedlichen Interpretationen und Schwerpunktsetzungen von den Protagonisten der CRT geteilt werden.24Vgl. Daub, Race. Richard Delgado und Jean Stefancic halten die folgenden fünf „Grundlehrsätze“ (basic tenets) als weitgehenden Konsens in der CRT fest.25Vgl. Editors, tenets.
- Rassismus als normalisierte ungerechte Machtstruktur
Die erste und wichtigste Grundannahme der CRT, die auch den größten Unterschied zum Alltagsverständnis von Rassismus kennzeichnet, ist die Annahme, dass Rassismus nicht in „individuellen Einstellungen und Handlungen einzelner Personen(-gruppen)“26Künne, Race, 92. bestehe, sondern viel grundsätzlicher und umfassender ein strukturelles Phänomen sei, das die gesamte (ursprünglich US-amerikanische) Gesellschaft durchziehe: ihre Institutionen (wie Schule, Polizei, Ämter) und Strukturen (allen voran das Gesetzeswesen) ebenso wie die Köpfe der „weißen Mehrheitsgesellschaft“, die sich selbst für überlegen halte.27Künne, Race, 92ff. Rassismus sei keine Haltung oder Handlung von „Einzeltätern“, sondern „the usual way society does business“28Richard Delgado, zitiert in: Baucham, Lines, xvi.. Demnach handle es sich bei Rassismus um ein Machtverhältnis, das für Benachteiligung nichtweißer Bevölkerungsgruppen sorge. Dabei lässt sich struktureller Rassismus nicht zwingend an einzelnen Praktiken festmachen, sondern erschließt sich anhand eines „insgesamt schlechteren Zugang[s] zu gesellschaftlichen Ressourcen“29PULS Reportage, Rassismus, 7:41-7:47. für Nichtweiße. Dabei stelle dieses Machtverhältnis (indem es sich eines „Wissensdiskurses“, wie Foucault ihn beschreibt, bedient) sich selbst als „normal“ dar, was es ihm erlaube, unhinterfragt und unentdeckt zu bleiben.
- "Rasse" als soziales Konstrukt zur Unterdrücker Nichtweißer
Eine zweite (wissenschaftlich belegte) Grundannahme der CRT ist, dass „Rasse“ („race“) keine biologisch-genetische Realität, sondern ein soziales Konstrukt darstellt.30Vgl. Editors, tenets. Genetische Studien haben gegen Ende des 20. Jahrhunderts endgültig belegt, dass ein Konzept von „Menschenrassen“, wie die neuzeitlichen Rassentheorien sie zu beschreiben versuchten, genetisch nicht zu rechtfertigen ist (vgl. ebd.). Ferner geht die CRT davon aus, dass das Konzept der Rasse von der dominanten Gruppe (d.h. Weiße europäischer Abstammung im Zuge der Kolonialisierung) erschaffen worden sei, um die Unterdrückung „nichtweißer“ Gruppen zu rechtfertigen.31Vgl. Editors, tenets. „Rasse“ sei daher sowohl die Ursache als auch das Produkt von Rassismus.32Vgl. Barskanmaz, Race. Nun strebt die CRT aber nicht die Abschaffung des Rassekonzepts an, im Gegenteil: Dem Konzept der „Farbenblindheit“ (engl. color blindness, d.i. der Standpunkt, dass Rasse keine Rolle spiele), steht sie kritisch gegenüber. Denn obwohl „Rasse“ tatsächlich ein soziales Konstrukt ist, spielt z.B. die Hautfarbe im alltäglichen Erleben von „People of Color“ tatsächlich immer noch eine große Rolle. Eine „farbenblinde“ Gesellschaft zu behaupten, helfe daher diesen Menschen nicht, ist die CRT überzeugt.33Vgl. Editors, tenets; Barskanmaz, Race. Daher brauche es vielmehr einen rassebewussten Ansatz (engl. race consciousness), um strukturellen Rassismus wahrnehmen und bekämpfen zu können.34Barskanmaz, Race. Diese Idee wird auch im deutschen Rassismus-Diskurs aufgenommen, obgleich der Begriff „Rasse“ aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit hierzulande ausgesprochen negativ besetzt und daher kaum gebräuchlich ist.35Vgl. Barskanmaz, Race; Kind, Formulierung.
- Interessenkonvergenz
Ausgehend von der Annahme, dass die „Weißen“ als dominante Gruppe immer danach streben würden, ihre Machtposition zu erhalten, nimmt die CRT drittens an, dass von weißer Seite nur dann gegen rassistische Verhältnisse angekämpft würde, wenn ihre Interessen mit den Interessen der Abolitionisten „konvergieren“ würden – wenn sie beispielsweise ökonomischen, politischen oder psychologischen Nutzen daraus ziehen könnten.36Vgl. Richard Delgado, wiedergegeben in: Baucham, Lines, xvi. Daraus aber leitet sich ab, dass Weiße auf dem Gebiet des Rassismus zu keiner Handlung aus „guter Motivation“ fähig sind.
- Machtsicherung durch "weiße Wissensproduktion"37Vgl. zu diesem Absatz auch Baucham, Lines, 100f.
Das Instrument zur Erhaltung „weißer Vorherrschaft“ (white supremacy) und „weißer Privilegien“ (white privilege) erkennt die CRT im Anschluss an Foucault in einer „weißen Wissensproduktion“.38Vgl. Aikins u.a., Afrozensus, 25. Oft ist in der CRT auch von „Erzählungen“ die Rede – ein Verweis darauf, dass wir nach Weltsicht der CKT keinen Zugang zu einer objektiven Wahrheit haben, sondern Wahrheit sich nur in Interpretationen ereignet.39Vgl. crsucla, Race. Somit wird eine „Erzählung“ aus der weißen Perspektive vor allem der eigenen Agenda dienen. Eine solche „Erzählung“, die zur Agenda der Weißen passe, sei beispielsweise die Idee des Liberalismus und der Leistungsgesellschaft (die das amerikanische Denken noch um einiges stärker prägt als das deutsche). Den American Dream – also das Credo, dass es in den USA jeder zu Reichtum und Einfluss bringen könne, wenn er nur hart dafür arbeite –, kritisiert die CRT scharf, denn nicht für alle Amerikaner gälten von Grund auf die gleichen Chancen.40Vgl. crsucla, Race. Schwarze Amerikaner hätten aufgrund von strukturellem Rassismus deutlich schlechtere „Startbedingungen“ als weiße. Diese Erzählung sei ein zentrales Werkzeug der Weißen, um Schwarze für ihr Unglück selbst verantwortlich zu machen („blaming the victim“) und so das System zu erhalten, das sie selbst begünstige.
- Erfahrungshermeneutik als einziger valider Zugang zur "Wahrheit"
Die CRT geht erkenntnistheoretisch davon aus, dass Wissen immer nur aus der eigenen Perspektive erlangt werden kann. Weil Weiße (unbewusst) immer ihren eigenen Machterhalt sichern wollen, wird der CRT zufolge, „schwarzes Wissen“ diskreditiert und ausgeklammert. Dem stellt sich die CRT entgegen, indem sie das „Erfahrungswissen“ („experiential knowledge“) von Nichtweißen zum (einzig angemessenen) Instrument erhebt, um Rassismus wahrnehmen, analysieren und verstehen zu können.“ Widerspruch oder Zweifel am „nichtweißen“ Erfahrungswissen wird oft als „whitesplaining“41Unter „42whitesplaining“ versteht man (analog zum neufeministischen Begriff „mansplaining“) in der CRT insbesondere den Versuch einer weißen Person, einer „Person of Color“ (d.h. einer Person, die Rassismus-Erfahrungen gemacht hat, kurz: PoC) zu erklären, was Rassismus sei (und was nicht). Der Begriff impliziert zugleich, dass die weiße Person dies, möglicherweise ohne dies wahrzunehmen, auf herablassende Weise tue, während sie die Situation der PoC aufgrund fehlender eigener Rassismus-Erfahrung nicht verstehen könne (wodurch sie nach CRT-Epistemologie kein „Rederecht“ in Sachen Rassismus hat) (vgl. Anders, Whitesplaining). gewertet, d.h. als Versuch, sich selbst moralisch zu entlasten und die eigene Weltsicht aufrechtzuerhalten.
2.5 Unterschiede zwischen dem "konventionellen" Rassismus-Verständnis und dem Rassismus-Verständnis der CRT
Die gegenwärtige Verwirrung in der Bevölkerung im Blick auf Rassismus, rührt u. a. daher, dass sich die CRT-Perspektive auf Rassismus von der konventionellen Sichtweise, die das hiesige Alltagsverständnis von Rassismus bisher prägte, unterscheidet. Um der Verwirrung ein wenig abzuhelfen, seien daher zwei wichtige Unterschiede benannt.
- Individuum versus System
Als Muster für den „konventionellen“ Rassismusbegriff kann die folgende Definition des Soziologen Johannes Zerger gelten: „Rassismus umfaßt Ideologien und Praxisformen auf der Basis der Konstruktion von Menschengruppen als Abstammungsgemeinschaften, denen kollektive Merkmale zugeschrieben werden, die implizit oder explizit gewertet und als nicht oder nur schwer veränderbar interpretiert werden."43Zerger, Rassismus, 81.
Den Kern des „konventionellen“ Rassismusbegriffs bilden „Zuschreibungen aufgrund kollektiver Merkmale“, kurzum: Vorurteile. Dieses Verständnis von Rassismus setzt auf der Ebene des Individuumsan, das als Träger von Rassismus verstanden wird. Nach dieser Logik werden Maßnahmen gegen Rassismus beim Individuum angesetzt: Indem man sich selbst reflektiert und auf Vorurteile gegenüber konstruierten Menschengruppen, denen eine gemeinsame Herkunft zugeschrieben wird, prüft, soll Rassismus vermieden werden. Anders verhält es sich beim Rassismus-Verständnis der CRT. Da Rassismus aus dieser Sicht grundsätzlich systemisch ist, ist der Träger von Rassismus nicht das Individuum, sondern das gesellschaftliche System. Die Essenz von Rassismus sieht die CRT in ungerechten Machtstrukturen, die Weiße begünstigen und People of Color benachteiligen. Rassismus ist damit in der CRT ein überindividuelles Phänomen, das aber zugleich (bestimmte) Individuen (die Weißen) einschließt. Barbara Applebaum, eine bekannte CRT-Vertreterin, beschreibt dies wie folgt: "[A]ll whites are complicit in systemic racial injustice; this sometimes takes the form of the mantra ‘all whites are racist’. When white complicity takes the latter configuration, it implies not that all whites are racially prejudiced, but rather that all whites participate in and, often unwittingly, maintain the racist system of which they are part and from which they benefit.”44Barbara Applebaum, zitiert in: Baucham, Lines, 76 (Hervorhebungen von der Autorin).
Die CRT sieht die Weißen als Teil des rassistischen Systems und spricht daher von „white complicity“ („weißer Mittäterschaft“). Weiße förderten „automatisch“ ein System, das für strukturelle Benachteiligung Nichtweißer sorge: im Rechtswesen, bei der Job- und Wohnungssuche, im Bildungsbereich usw. – selbst wenn sie dies nicht beabsichtigten. Da das eigentliche Problem der CRT zufolge jedoch nach wie vor nicht beim Individuum, sondern beim System liegt, setzen Maßnahmen gegen Rassismus nach dieser Logik nicht in erster Linie beim Individuum an, sondern an den gesellschaftlichen Strukturen. Die Forderung der „Neuen deutschen Medienmacher*innen“ nach Diversitätsquoten in Journalismus und Medien ist ein Beispiel hierfür.45Vgl. Medienmacher*innen, Prozent.
- Absicht vs. Auswirkung
Ein zweiter Unterschied: Während das Alltagsverständnis annimmt, dass Rassismus absichtlich ausgeübt werden muss, um als solcher gelten zu können, zählt für die CRT nicht, ob im Hintergrund eine bewusste Intention steht, eine bestimmte Bevölkerungsgruppe zu benachteiligen, sondern, ob diese im Ergebnis eine „Benachteiligung“ bewirkt.46Vgl. Barskanmaz, Race.
Dies lässt sich exemplarisch an einem Zitat aus dem Afrozensus 2020, der ersten umfassenden Studie über die Lebensrealitäten von Menschen afrikanischer und afrodiasporischer Herkunft in Deutschland, aufzeigen: „Ob ASR47Anti-Schwarzer Rassismus, Anm. d. Autorin. ausgeübt wird bzw. stattfindet, hängt weder vom expliziten Anwenden der beschriebenen Zuschreibungen noch von der Intention einzelner Personen oder Gruppen ab […]. […] Ob ASR stattfindet, bemisst sich somit nicht daran, ob Handlungen oder Unterlassungen bewusst und konkret auf Schwarze Menschen abgezielt haben, sondern daran, ob Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Menschen in besonderer Weise von einer Handlung, Regelung, Tat oder Unterlassung ungleich stärker betroffen sind bzw. diskriminiert werden.“48Aikins u.a., Afrozensus, 43-44.
Dieser Logik nach ist es ein Ausdruck von Rassismus, wenn in Führungsetagen, Politik und Medien nicht gleich viele Nichtweiße repräsentiert sind, wie es ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht, wenn es für sie im Dienstleistungsbereich und in Geschäften weniger Angebote gibt oder sie häufiger von Fahrkartenkontrollen betroffen sind, unabhängig davon, ob eine Diskriminierungsabsicht vorhanden ist oder nicht.
Halten wir fest: Das Verständnis von Rassismus, wie es die CRT impliziert, setzt nicht auf der Ebene von Bewusstsein, Absichten und Verhaltensweisen an, sondern sieht den Rassismus so tief in die gesellschaftlichen Strukturen eingeschrieben, dass Angehörige der historisch dominanten Gruppe, konkret: der Weißen, in diese von Ungerechtigkeit bestimmten Strukturen eingewoben sind, selbst wenn sie sich keiner rassistischen Vorurteile oder böser Absichten bewusst sind. Anliegen der CRT ist nicht das Herstellen von „Farbenblindheit“, sondern das Offenlegen und Verändern der vorherrschenden Machtstrukturen, die zugunsten bislang benachteiligter Gruppen überwunden werden müssen.
3. Die Critical Race Theory in theologischer und sozialethischer Perspektive
Nachdem wir uns nun ein recht gutes Bild davon verschafft haben, was die CRT ist, soll nun eine Auseinandersetzung mit ihr aus christlicher Sicht folgen. Dabei sollen zuerst die Anknüpfungspunkte gewürdigt werden, bevor kritische Aspekte zur Sprache kommen.
3.1 Würdigung
Auch liberale Kritiker würdigen gewisse Aspekte der CRT, beispielsweise die kritische Analyse der Gesetzgebung im Blick auf rassistische Vorurteile. An dieser Stelle soll jedoch eine Würdigung aus christlich-theologischer Perspektive erfolgen.
- Strukturelle Ungerechtigkeit und die Lehre von der Erbsünde
Wenn die CRT nach Schuldzusammenhängen fragt, die den Absichten und Handlungen Einzelner vorausliegen, rückt damit aus christlicher Perspektive die Lehre von der Erbsünde bzw. Grundsünde in den Blick. Der Antirassismus-Aktivist Ibram X. Kendi bezeichnet Rassismus sogar ausdrücklich als „original sin“.49Kendi, Amendment.
Der CRT zufolge werden Weiße ohne ihr eigenes Zutun in ein rassistisches System hineingeboren. Geschaffen wurde das System nicht von ihnen selbst, sondern von ihren „Vorvätern“, den Kolonialisten. Trotzdem „erben“ sie ihre Sünde, d.h. das rassistische System, sind automatisch in es „verstrickt“ und verfestigen es durch die Inanspruchnahme ihrer „weißen Privilegien“. Damit tritt auch die Frage der Schuld in den Raum, wie sie etwa Elisabeth von Thadden diskutiert. Sie kommt zu dem Schluss: Privilegierte weiße Europäer tragen, „obwohl sie nicht anders können“, also trotz ihrer Verstrickung in ein übermächtiges System, eine Mitschuld an dessen Erhaltung.50Vgl. von Thadden, Privilege.
Auch wenn sie von der Schuld einer privilegierten Gruppe spricht, ist entscheidend der von ihr anerkannte überindividuelle Schuldzusammenhang, von dem Paulus – bezogen auf alle Menschen – spricht, wenn er formuliert:
„Deshalb: Wie durch einen einzigen Menschen die Sünde in die Welt kam und durch die Sünde der Tod und auf diese Weise der Tod zu allen Menschen gelangte, weil alle sündigten – Sünde war nämlich schon vor dem Gesetz in der Welt, aber Sünde wird nicht angerechnet, wo es kein Gesetz gibt;dennoch herrschte der Tod von Adam bis Mose auch über die, welche nicht durch Übertreten eines Gebots gesündigt hatten wie Adam […].“ (Röm 5,12-14) Irenäus von Lyon versteht das so, dass die Menschheit schon aufgrund des Ungehorsams Adams eine geerbte Kollektivschuld trägt.51Vgl. Saarinen, Erbsünde, 1394-1397. Zugleich erbt der Mensch aber auch die sündige Natur Adams („Fleisch“) und wird in ein gefallenes System („Welt“) hineingeboren, weshalb er freilich nicht anders kann, als selbst zu sündigen (wodurch er auch selbst Schuld auf sich lädt). Einer liberalen Sicht auf das Individuum, wie sie den Westen über mehrere Jahrhunderte geprägt hat, fällt es schwer, eine Schuld anzuerkennen, die sich nicht dem Vorsatz einer Person zuweisen lässt, sondern ein Schuldverhängnis bezeichnet, in dem sich ein Mensch bereits vorfindet, wenn er das Licht der Welt erblickt. Umso dringlicher stellt sich die Frage, wie ein Mensch diesem Verhängnis entrinnen kann. Darauf geben die CRT und das Evangelium allerdings unterschiedliche Antworten.
- Die Sehnsucht nach Heimat und Zugehörigkeit
Sowohl die CRT als auch das Evangelium nehmen die menschliche Sehnsucht nach Heimat und Zugehörigkeit wahr. Viele Menschen, die einen (entfernten) Migrationshintergrund haben, selbst aber in Deutschland aufgewachsen sind, empfinden es als (vielleicht sogar die zentrale) Manifestation von strukturell verankertem Rassismus, dass sie aufgrund ihres Aussehens, ihres Namens etc. nicht als „deutsch“ wahrgenommen werden.
Dies entzündet sich immer wieder an der Frage „Wo kommst du her?“, die viele nichtweiße Menschen als verletzend empfinden. Sie wird als „symbolischer Ausschluss“ erlebt, der ein Dominanzverhältnis ausdrückt:52Vgl. Künne, Race, 92. „Deutsch“ werde gleichgesetzt mit „weiß“. Im Umkehrschluss bedeute das: Wer nicht weiß ist, kann nicht (selbstverständlich) zu Deutschland gehören. Hieran wird deutlich, dass sich viele nicht „biodeutsche“ Menschen danach sehnen, ohne Zweifel oder Widerspruch als Deutsche wahrgenommen zu werden, dazuzugehören, eine Heimat in Deutschland zu haben. Die Wandlung der öffentlichen Wahrnehmung, dass Menschen mit Migrationsgeschichte selbstverständlich Deutsche sein können, geschieht vielen zu langsam.53Zur Einordnung kann es hier hilfreich sein, den deutschen Soziologen Aladin El-Mafaalani zu Wort kommen zu lassen. El-Mafaalani erklärt in seinem Buch Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt, dass die Unzufriedenheit derer mit Migrationsgeschichte nicht daher rühre, dass die Integration scheitere, sondern – im Gegenteil – daher, dass sie gelinge. Denn je stärker Menschen mit Migrationsgeschichte integriert würden, desto mehr Teilhabe erhielten sie, und entsprechend mehr würden sie auch ihre Perspektive einbringen (vgl. El-Mafaalani, Integrationsparadox, 73-79). Angesichts zunehmender Konflikte ist er darum der Meinung, dass Deutschland „auf einem guten Weg zur offenen Gesellschaft“ sei (vgl. Ramadan, Integration).
Die Wurzel aller Heimatlosigkeit: Der christliche Glaube ist voller Sympathie für diese Sehnsucht. Allerdings lässt sich aus christlicher Perspektive die These formulieren: Selbst wenn es gelänge, die Norm in den Köpfen zu etablieren, dass jeder – unabhängig von Hautfarbe oder Herkunft – selbstverständlich zu Deutschland gehören kann, würde sich die Sehnsucht nach unangefochtener Heimat und Zugehörigkeit nicht vollständig erfüllen, das Gefühl, „fremd“ zu sein, sich nicht vollständig auflösen.
Der Grund für diese These ist, dass das Gefühl der Fremdheit nach christlicher Überzeugung nicht in der Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit wurzelt, die einem von anderen Menschen zugeschrieben wird (z.B. deutsch oder nichtdeutsch), sondern in erster Linie in der Entfremdung von Gott, von deren Wurzel die Bibel in Genesis Kap. 3 erzählt. Der Mensch kehrt sich ab von Gott und wird in der Folge aus Seiner Gegenwart vertrieben. Er lebt fortan in einer von Gott entfremdeten Welt, trägt aber die Sehnsucht nach seiner wahren Heimat weiterhin in sich.
Gleichzeitig bleibt die zwischenmenschliche Ebene von dieser Entfremdung nicht unberührt, denn nach christlichem Verständnis sind die vertikale (Mensch-Gott) und die horizontale Beziehungsdimension untrennbar miteinander verwoben. Deutlich wird dies daran, dass sich in den Folgekapiteln Menschen – bis hin zur Feindschaft – voneinander entfremden: der Bruder vom Bruder (Gen 4), der Vater vom Sohn (9,20ff.) (sowie auch) ein Volk vom anderen. Dies deutet sich bereits in Genesis 9,20ff. an, da von den Söhnen Noahs gesagt wird, dass sie die Stammväter aller Völker seien, und wird noch deutlicher in der Sprachenverwirrung in Genesis 11. Die Entfremdung von Menschen verschiedener ethnisch-kultureller Hintergründe lässt sich daher als Konsequenz der Entfremdung des Menschen von Gott einordnen.
Die Überwindung der Entfremdung: Die gute Nachricht ist, dass der christliche Glaube hier nicht stehen bleibt. Darauf weist auch C.S. Lewis hin, wenn er sagt: „Wenn wir nun in uns selbst ein Bedürfnis entdecken, das durch nichts in dieser Welt gestillt werden kann, dann können wir daraus doch schließen, daß wir für eine andere Welt geschaffen wurden."54Lewis, Pardon, ich bin Christ, 126.
Dies gilt auch für Sehnsucht nach Heimat und Zugehörigkeit. Der christliche Glaube besagt, dass uns diese „andere Welt“, von der Lewis spricht, zugänglich ist: Es ist die Gottesherrschaft bzw. das Reich Gottes, das im Kommen von Jesus angebrochen ist und dass er allen eröffnete, die durch den Glauben zu ihm gehören. In dem, was Jesus lebte, wie er starb und von Gott auferweckt wurde, überwand er die Entfremdung und die Feindschaft des Menschen gegenüber Gott. In Epheser 2,13-16 (EÜ) wird deutlich, dass dies nicht zu trennen ist von der Überwindung der Fremdheit und Feindschaft zwischen den Menschen:
„Jetzt aber seid ihr, die ihr einst in der Ferne wart, in Christus Jesus, nämlich durch sein Blut, in die Nähe gekommen. Denn er ist unser Friede. Er vereinigte die beiden Teile und riss die trennende Wand der Feindschaft in seinem Fleisch nieder. Er hob das Gesetz mit seinen Geboten und Forderungen auf, um die zwei in sich zu einem neuen Menschen zu machen. Er stiftete Frieden und versöhnte die beiden durch das Kreuz mit Gott in einem einzigen Leib. Er hat in seiner Person die Feindschaft getötet.“
Das Ergebnis dessen, was Jesus getan hat, beschreibt Paulus einige Verse später:
„Ihr seid also jetzt nicht mehr Fremde und ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes.“ (Eph 2,19; EÜ)
Für Christen ist dies gute Nachricht für alle, die sich nach vollständiger Zugehörigkeit sehnen.
Mitgefühl mit denen, die sich fremd fühlen: Die Welt, in der wir leben, ist nach der Bibel durch Jesus Christus mit Gott versöhnt, doch wird diese Realität erst vollends enthüllt, wenn die Geschichte an ihr Ende kommt und Jesus als Sieger über die Mächte der Ungerechtigkeit und des Bösen wiederkommt. Bis dahin trägt die Welt um uns herum die Spuren von Unrecht und Gewalt.
Für Christen nimmt daher das Gefühl, „nicht hierher zu gehören“, eher noch zu. Sie verstehen sich als „Fremde und Gäste auf Erden“ (Hebräer 11,14), denn sie sind hier nicht zu Hause, sondern befinden sich auf einer Pilgerreise durch die Fremde, hin auf ihre wahre Heimat, die bei Gott ist (vgl. Hebräer 13,14; 2Kor 5,6). Mit dieser Perspektive können Christen mit jenen mitempfinden, die sich in ihrem Land fremd fühlen.
Gemeinde als Heimat für alle Nationen: Christliche Gemeinden sind dazu berufen, ein Ort zu sein, an dem sich die künftige Welt bereits ankündigt, d.h. etwas von der Wirklichkeit der Versöhnung erfahrbar wird. Denn wo die Gemeinschaft mit Gott wiederhergestellt ist, entsteht eine neue Gemeinschaft zwischen zuvor voneinander entfremdeten Menschen. Das gilt auch für Menschen unterschiedlicher ethnisch-kultureller Hintergründe, wie der Apostel Paulus schreibt: „Da gibt es dann nicht mehr Griechen und Juden, Beschnittene und Unbeschnittene, Barbaren, Skythen, Sklaven, Freie, sondern Christus ist alles und in allen.“ (Kolosser 3,11).
Christliche Gemeinden sollen eine (vorläufige) Heimat für Menschen aller ethnisch-kulturellen Hintergründe sein und damit die kommende Welt antizipieren, in der Menschen aller Nationen, Sprachen und Kulturen Gott anbeten werden (Off 7,9). Leider neigen Gemeinden (in Deutschland) dazu, sich nach Herkunft und Sprache zu versammeln, weshalb ethnisch-kulturell durchmischte Kirchen die Ausnahme sind.
3.2 Kritik
- Exklusive Zugehörigkeiten auf Basis der "race"
Der oben angesprochenen Sehnsucht nach Zugehörigkeit begegnet die CRT auf eigene Weise, indem sie neue Zugehörigkeiten schafft. Weil sie das Augenmerk auf „race“ als ein die gesamte Lebenserfahrung bestimmendes Identitätsmerkmal legt, etabliert sie exklusive Identitäten, die das Potential haben, nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Kirche tief zu spalten.
Sarah Wagenknecht beschreibt in ihrem Buch Die Selbstgerechten die Logik der Identitätspolitik, deren sich der deutsche Linksliberalismus – der sich auch den Zielen der CRT weitgehend verschrieben hat – bedienen würde.55Vgl. für den folgenden Absatz: Wagenknecht, Selbstgerechten, 102-103. Diese Logik bestehe darin, die Gesellschaft in die „Mehrheitsgesellschaft“ und in eine stetig wachsende Zahl immer kleinerer „Minderheiten“ aufzuspalten, die sich jeweils über ein bestimmtes Merkmal definieren, das vom Linksliberalismus bzw. von der Critical-Social-Justice-Bewegung als „Diskriminierungsmerkmal“ anerkannt ist – woraus die jeweiligen Minderheiten ihren Opferstatus ableiten. Als anerkanntes „Diskriminierungsmerkmal“ würden z.B. die ethnisch-kulturelle Herkunft bzw. die „race“, aber auch das Geschlecht oder die sexuelle Orientierung gelten.
Dieses Diskriminierungsmerkmal wird in der Logik des Linksliberalismus zum primären Identitätsmerkmal, das die gesamte Lebensrealität des betroffenen Menschen durchdringe und forme. Kombiniert mit Derridas hermeneutischen Überlegungen – die besagen, dass Menschen einander nie völlig verstehen können, da ein „Text“ immer vom Empfänger in dessen Kontext neu interpretiert wird, wodurch sich auch die Bedeutung des Textes verändere – führt das zu der Haltung: Wer mein primäres Identitätsmerkmal nicht teilt, kann mich sowieso niemals verstehen, denn seine Lebensrealität, sprich: sein „Kontext“ ist ein ganz anderer.
Daraus folgt: Wagt ein Mitglied der dominanten Mehrheitsgesellschaft (im Falle der CRT ein/e Weiße/r) den Versuch, sich in die Weltsicht eines „Minderheitsmitglieds“ (d.h. einer Person of Color) hineinzuversetzen und mit ihr in ein Gespräch über ihre jeweiligen Wahrnehmungen der sozialen Realität einzutreten, wird dies als Angriff auf die Identität aufgefasst. Sarah Wagenknecht fasst die Logik der Identitätspolitik wie folgt zusammen:
„[…] Mehrheitsmenschen [können] sich per se nicht in das Innenleben und die Weltsicht einer Minderheit hineinversetzen […], weil sie lebenslang ganz andere Erfahrungen gemacht haben und daher zwischen ihrer Gefühlswelt und jener der diversen Minderheiten unüberwindbare Mauern existieren. Der Versuch, solche Mauern einzureißen, gilt nicht nur als aussichtslos, sondern als aggressiver Akt, den es unbedingt zu vermeiden gilt.“56Wagenknecht, Selbstgerechten, 102-103.
Der Versuch, Gemeinsinn und Empathie zwischen Mehrheits- und Minderheitengruppen zu erzeugen, indem man von einem gemeinsamen Erfahrungshorizont ausgeht, wird verworfen. So betrachten etwa die Autoren des Afrozensus den Verweis auf die Möglichkeit gemeinsamer Erfahrungen über die Grenzen von Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft hinweg („Ich bin zwar nicht schwarz, aber mir ist sowas ähnliches auch schon mal …“) als Relativierung von Rassismus-Erfahrungen schwarzer Menschen.57Aikins u.a., Afrozensus, 43. Dazu sollte ergänzt werden, dass eine solche Bemerkung, wenn sie vorschnell und aus mangelndem Interesse an der tatsächlichen Lebensrealität des Gegenübers ausgesprochen wird, nicht gutzuheißen ist. Dieser Artikel plädiert für aufrichtiges Interesse am anderen und für gründliches Zuhören und Verstehenwollen. Das Problem an der hier aufgezeigten Einstellung ist jedoch, dass sie von vornherein jede Möglichkeit, dass jemand, der „weiß“ ist, jemanden verstehen könnte, der „schwarz“ ist, ausschließt.
Die fatale Konsequenz dieser Logik besteht darin, dass der Empathie und dem Dialog der Boden entzogen wird. Dies führt zu einer wachsenden Distanz zwischen jenen Gruppen, die als „privilegiert“, und jenen, die als „deprivilegiert“ gelten. Schon jetzt deutet sich eine „neue Segregation“ an58Vgl. Eberstadt (2019): Primal Screams, 48f. – nur dass das Argument genau entgegengesetzt zur Begründung der Segregation des 19. und 20. Jahrhunderts verläuft: PoC werden nicht von Weißen aus ihrer Gegenwart verbannt, vielmehr isolieren sie sich selbst von den öffentlichen Räumen der weißen Mehrheitsgesellschaft und flüchten sich in sogenannte „safe spaces“,59„Safe spaces“ sind „Räume, in denen die Angehörigen von Minderheiten vor verbalen Übergriffen sicher sind, weil Männer oder Heteros oder Weiße keinen Zutritt haben“ (Wagenknecht, Selbstgerechten, 101). an denen sie sich vor der Bedrohung durch Weiße sicher fühlen können.60Ein Beispiel für diese Tendenz ist z.B. die Einführung von Filmrubriken bei Online-Streamingdiensten, die nur Filme und Serien zeigen, in denen Schwarze die Hauptrolle oder die Regie übernehmen
Die CRT erzeugt mit ihrer Identitätspolitik Antagonismen zwischen Weißen und Nichtweißen, indem sie sie in „Täter“ und „Opfer“, „Unterdrücker“ und „Unterdrückte“ einteilt. Sie schürt damit nach meiner Beobachtung ein Klima gegenseitigen Verdachts, welches Kontakt und gegenseitiges Verständnis zunehmend erschweren.
Eine christliche Reaktion auf diese Problematik muss sich aus dem Evangelium ableiten. Es antwortet in dreifacher Weise auf die eben beschriebene Tendenz der Segregation: Erstens ist jeder Mensch als Ebenbild Gottes wunderbar und einzigartig geschaffen. Jeder Mensch ist sehr viel mehr als nur seine „race“, sein Geschlecht oder seine sexuelle Orientierung. Zweitens betont das Evangelium den gemeinsamen Erfahrungshorizont aller Menschen in der universalen Realität der Sünde. Demnach erfährt jeder Mensch Unterdrückung, da jeder Mensch unter der tyrannischen Herrschaft der Sünde steht (vgl. Röm 1,16; 3,9). Damit durchbricht die biblische Sicht die Dichotomie der CRT, nach der sie die Menschen „Täter“ und „Opfer“ einteilt. Nach christlicher Sicht sind alle Menschen sowohl Opfer als auch Täter, nämlich der Sünde. Sie nimmt die Idee der CRT, dass „Unterdrückung“ das primäre Problem der Welt sei, auf, doch rückt sie in ein neues Licht: Statt, dass eine Gruppe von Menschen pauschal für die Unterdrückung der anderen verantwortlich sein soll, ist es die Macht der Sünde, die alle Menschen unterdrückt. Die Erfahrung der Sünde gilt daher für alle Menschen und ist nicht abhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten „race“.
Drittens macht das Evangelium deutlich, dass für die Erlösten gilt: Ihre Identität zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, dass sie zu Christus gehören (und dadurch auch zueinander); ihre gesellschaftlichen Identitätsmarker sind daher zweitrangig (wenn auch nicht irrelevant) und dürfen der Einheit nicht im Wege stehen (vgl. Galater 3,26-28; Kol 3,11). Viertens ist die Einheit der Gemeinde Jesu ein sichtbarer Ausdruck des Versöhnung schaffenden Erlösungswerks Jesu Christi (Epheser 2,14-21; 4,1-6). Darum ist Einheit nicht nur möglich, sondern auch unabdingbar für das Wesen der Kirche. Christliche Gemeinden sind daher berufen, entgegen der gesellschaftlichen „Segregation“ in immer mehr Identitätsgruppen ein Gegenbild von Dialog und Empathie, Versöhnung und Einheit zu sein.
- Die Unmöglichkeit der Versöhnung
Das Dilemma der Versöhnung: Wie kann Entfremdung überwunden werden? Der Vorschlag, Wiedergutmachung für in der Vergangenheit getanes Unrecht zu leisten, greift jedenfalls zu kurz, denn selbst in weniger extremen Fällen reichen Wiedergutmachungsleistungen sehr selten aus, um ein schuldhaft gestörtes Beziehungsgefüge wiederherzustellen. Das gilt umso mehr, wo Güter beschädigt oder zerstört wurden, die prinzipiell unersetzbar sind – wie zum Beispiel Menschenleben.61Vgl. Stroh, Wiedergutmachung, 1535. Das trifft auf die historischen Verbrechen des transatlantischen Sklavenhandelns, der US-amerikanischen Sklaverei und des Kolonialismus zu.
Zur Versöhnung kann es nur kommen, wenn es Reue seitens des Schädigers und Vergebung seitens des Geschädigten gibt. Dabei stellt sich die Frage, wie es angesichts tiefgreifenden Unrechts zur Vergebungsbereitschaft kommen, anders gesagt: wie das scheinbar Unvergebbare vergeben werden kann. Erschwerend kommt hinzu, dass die Schädiger der Vergangenheit längst tot sind, selbst also keine Reue mehr zeigen können.
Das Scheitern menschlicher Lösungsansätze: Wenn Reue und Vergebungsbereitschaft fehlen, hat dies Konsequenzen für das Miteinander. Hat der Geschädigte den Eindruck, dass der Schädiger seine Schuld nicht eingesteht und nicht zur Umkehr bereit ist, kann das dazu führen, dass er selbst Vergeltung übt. Solche Tendenzen der Vergeltung lassen sich insbesondere in den USA wahrnehmen. Ein Beispiel hierfür ist ein Zitat von Ibram X. Kendi aus seinem Buch How to Be an Antiracist: "The only remedy to racist discrimination is antiracist discrimination“62Ibram X. Kendi aus How to Be an Antiracist zitiert in: Paul, Antiracism.. In anderen Worten: Um Rassismus wiedergutzumachen, muss das Machtverhältnis umgedreht werden, indem Nichtweiße die Weißen unterdrücken. Solche Strategien, den Schaden auszugleichen, führen jedoch nicht zur Wiederherstellung, sondern vielmehr zur Verschlimmerung der Beziehung, die schlimmstenfalls in einen Kreislauf der Vergeltung münden könnte.
Wo Reue zwar vorhanden ist, aber keine Vergebung gewährt wird, kann das Bestreben nach Wiedergutmachung auf Seiten der Weißen zu einem Versuch der Selbsterlösung werden. Diese Tendenz erkennt der amerikanische Theologe Voddie Baucham im „Kult des Antirassismus“, den er als „Ausdruck legalistischer Religion“ bezeichnet:63Vgl. Baucham, Lines, 88. Seiner Wahrnehmung nach versuchen manche Weiße sich von der Schuld, die ihnen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der „Schädiger“ anhaftet, dadurch zu erlösen, dass sie selbst „Antirassisten“ (oder sogenannte „Allies“ von PoC) werden.
Versöhnung durch das Evangelium: Im Evangelium von Jesus Christus finden wir eine Antwort auf dieses Problem, die Versöhnung ermöglicht. Es befähigt sowohl den Schädiger zu Umkehr als auch den Geschädigten zur Vergebung: Der Schädiger wird im Evangelium dazu befähigt, sich seinen Verfehlungen am anderen bzw. den Verfehlungen seines Volkes an einem anderen Volk zu stellen, weil er weiß: „Mir ist schon vergeben. Meine Sünde wird mir von Gott nicht mehr zur Last gelegt.“ Aus dieser Gewissheit heraus kann er seine Schuld eingestehen und den anderen um Vergebung bitten. Der Geschädigte hört dagegen im Evangelium den Aufruf zu vergeben, weil ihm von Gott eine viel größere Schuld erlassen worden ist (vgl. Mt 18,21-35). Er ist sich bewusst: Obwohl sich der andere an mir versündigt hat, starb Jesus für des anderen wie auch für meine Sünde; Schädiger und Geschädigter haben beide Vergebung nötig. So kann es – durch das Evangelium – zu echter Reue und Vergebung kommen, sodass (in konzentrischen Kreisen vom Individuum über Freundschaften und Bekanntschaften, Gemeinde bis hin zur Gesellschaft) die zerbrochenen Beziehungen zwischen verschiedenen ethnisch-kulturellen Gruppen zu heilen beginnen können.
4. Fazit
Wie sollen Christen nun praktisch mit der CRT und ihrem Einfluss auf den öffentlichen Diskurs über die Beziehung verschiedener ethnisch-kultureller Gruppen umgehen? Meine Erachtens sind drei Dinge besonders wichtig.
4.1 Den spezifischen Kontext beachten
Wir sollten unseren spezifischen Kontext beachten. Da die CRT ursprünglich mit Blick auf die US-amerikanische Gesellschaft entwickelt wurde, besteht die Gefahr einer unreflektierten Übertragung des Konzepts auf die deutsche Gesellschaft. Deutschland ist nicht die USA: Der hiesige historische und kulturelle Kontext ist ein anderer. Um nicht an den Konfliktfeldern vorbeizugehen, die in unserem spezifischen Kontext relevant sind, sollten wir uns daher die Mühe machen, unser lokales Umfeld unter die Lupe zu nehmen. Dies kann jeder Christ und jede Gemeinde (egal welchen Hintergrundes) selbst tun, indem sie sich fragt: Welche ethnisch-kulturellen Gruppen gibt es in meiner Stadt, meinem Dorf, meinem Stadtviertel? Wo existieren Konfliktfelder? Wer wird ausgegrenzt, wer lebt unter schlechteren Bedingungen als ich? Hierbei können Erkenntnisse der empirische Sozialforschung zum Einsatz kommen.64Eine praxisorientierte Einführung in die Kontextanalyse speziell für Gemeinden bietet der Band Die Welt verstehen. Kontextanalyse als Sehhilfe für die Gemeinde, herausgegeben von Tobias Faix und Johannes Reimer.
4.2 Einheit in Vielfalt leben
Ist das gelungen, sollten Christen und Gemeinden zweitens entgegen den Tendenzen der Segregation und Feindseligkeit, die von den Ideen der CRT (unabsichtlich) geschürt und verstärkt werden, ihren Versöhnungsauftrag wahrnehmen, indem sie bewusst jene Gruppen aufsuchen, zu denen gesellschaftliche Barrieren und Spannungen bestehen – nach dem Vorbild von Jesus, der entgegen dem Hass zwischen Juden und Samaritanern der samaritanischen Frau am Brunnen begegnete (vgl. Joh 4). Das kann bedeuten, auf der Arbeit bewusst auf den türkischen Kollegen zuzugehen und eine Freundschaft aufzubauen oder anzufangen, sich im Dönerladen freundlich mit dem Besitzer zu unterhalten. Es kann bedeuten, als „biodeutsche“ Gemeinde zu beginnen, auf die Leiter der eritreischen Gemeinde, die am Nachmittag das Gemeindehaus nutzt, zuzugehen und vorzuschlagen, gemeinsame Gottesdienste zu feiern. Es kann bedeuten, sich als Gemeinde besonders auf die chinesische Community im Stadtviertel auszurichten und Strategien zu entwickeln, um in einen guten Kontakt mit ihr zu kommen.
Indem wir ethnisch-kulturelle Grenzen nicht nur zu denen überwinden, die schon Christen sind, sondern auch zu denen, die es noch nicht sind, verkörpern wir das Evangelium für sie auf erfahrbare Art und Weise. Nicht selten führt dies dazu, dass auch sie Jesus nachfolgen wollen. So kommen wir dem Bild der ethnisch-kulturellen „Einheit in Vielfalt“, das uns die Bibel als Vision für die Gemeinde als Antizipation des Gottesreiches vor Augen malt (vgl. Gal 3,28, Kol 3,11, Off 7,9-10),65Vgl. Hays, People, 199f.; 205. näher und repräsentierten eine Kontrastkultur gegenüber den separatistischen Tendenzen unserer Gesellschaft.
4.3 Eine Ethik der Verantwortung statt der Wiedergutmachung
Tatsächliche historische Schuld, die nicht bereut und vergeben wird, steht der Versöhnung und Einheit im Weg. Dies trifft zum Beispiel auf das Verhältnis zwischen „Biodeutschen“ und Menschen aus ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika zu. Hier wie in ähnlichen Konstellationen braucht es Versöhnung, indem die Seite der Schädiger für die historische Schuld um Vergebung bittet und von der Seite der Geschädigten Vergebung gewährt wird. Wichtig ist, dass dies nicht im Verborgenen, sondern öffentlich geschieht.
Hilfreich ist dabei, wenn beide Seiten darum wissen, dass sie selbst der Vergebung bedürfen, die Gott schenkt. Denn keine menschliche Wiedergutmachungsleistung wäre genug, um Gerechtigkeit zu schaffen. Reue und Vergebungsbereitschaft können am ehesten aus der Vergebung erwachsen, die Gott im Evangelium von Jesus Christus anbietet. Die Bibel verweist damit auf die Grundsünde, in die alle Menschen verwickelt sind und der sie ohne den Freispruch Gottes nicht entkommen können.
Eine christliche Ethik stellt die Verantwortung für den anderen ins Zentrum. Als Orientierungspunkt christlich-ethischen Handelns dient die Vision, die uns in der Bibel von Augen gestellt ist: eine neue Gesellschaft unter der Regentschaft Gottes, in der Menschen aller ethnisch-kulturellen Hintergründe einander nicht unterwerfen, sondern, befreit von der Verstrickung in das Böse, versöhnt mit Gott und miteinander leben.
5. Praktische Anregungen
Diese neue Gesellschaft, das Reich Gottes, wird in der Gemeinde Jesu antizipiert. Die folgenden praktischen Anregungen, die als Wegweiser dienen sollen, wie eine christliche Ethik der Verantwortung im Blick auf Rassismus aussehen kann, konzentrieren sich daher auf die Gemeinde sowie die einzelnen Christen als „Glieder“ der Gemeinde.
5.1 Wertschätzender Umgang und gegenseitiges Zuhören
Inmitten einer Gesellschaft, in der über Rassismus oft sehr polarisierend diskutiert wird, sollten Christen aller Hintergründe sowohl innerhalb der Gemeinde als auch mit ihren nichtgläubigen Mitmenschen eine Diskussionskultur pflegen, in der das Gegenüber geschätzt wird. Egal, welchen Standpunkt die oder der andere hat: Jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes, das es verdient, entsprechend seiner Würde behandelt zu werden. Zu einer christlichen Diskussionskultur gehört auch ernsthaftes Zuhören und Verstehen-wollen. Beide Seiten sollen einander zu Wort kommen lassen und sich auf die Perspektive des Gegenübers einzulassen versuchen, ohne vorschnelle Urteile zu fällen. Leiten kann uns hier Jakobus 1,19 (NGÜ): „Denkt daran, meine lieben Geschwister: Jeder sei schnell bereit zu hören, aber jeder lasse sich Zeit, ehe er redet, und erst recht, ehe er zornig wird.“
5.2 Interkulturelle und -ethnische Freundschaft
Eine zweite Sache, die Christen (egal welchen Hintergrundes) tun können, ist der bewusste Aufbau von Freundschaften zu Menschen, die einen anderen ethnisch-kulturellen Hintergrund haben als sie selbst. So wie Jesus es tat, können auch wir auf Menschen in unserem Umfeld zugehen, die einer Gruppe angehören, zu der wir unserer Herkunft nach auf Distanz sind, und so ein Zeichen für Versöhnung setzen. Die sozialpsychologische Forschung hat gezeigt, dass freundschaftlicher Kontakt eines der effektivsten Mittel zum Abbau von Vorurteilen ist und sich positiv auf das gesellschaftliche Miteinander auswirkt.66Vgl. Aydin u.a. Kontakthypothese; Landhäußer, Vorurteile.Das Evangelium gibt uns den entscheidenden Impuls, auf Menschen zuzugehen, die uns „fremd“ erscheinen: Wenn Gott in Jesus die größte Kluft zu uns Menschen überwunden hat, die wir ihm so fremd und sogar feind waren (vgl. Eph 2,17-19; Röm 5,10), wie viel mehr werden wir, in der Kraft des Heiligen Geistes, fähig sein, die ungleich kleinere Kluft zu unseren Mitmenschen überwinden.
5.3 Multikultureller und -ethnischer Gemeindebau
Ein komplexes Vorhaben, das die Mitarbeit vieler erfordert, meines Erachtens aber unabdingbar ist angesichts der immer vielfältigeren Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung672021 hatten 27,2% der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund, 2022 waren es 28,7% (vgl. Bundeszentrale, Bevölkerung; Statistisches Bundesamt, Migrationshintergrund). Migrationshintergrund wurde dabei bis in die zweite Generation statistisch erfasst, d.h. Migrationshintergrund hat jemand, wenn er oder sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde (vgl. Statistisches Bundesamt, Migrationshintergrund). Die Erhebungen zeigten auch: „[J]e größer die Einwohnerzahl der Gemeinde ist, desto größer ist tendenziell auch der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung“ (Bundeszentrale, Bevölkerung). ist das Streben nach multikulturellem und multiethnischem Gemeindebau. Wie in neutestamentlicher Zeit soll Gemeinde auch heute die ethnisch-kulturelle Vielfalt ihres spezifischen Umfelds widerspiegeln, statt sich in weitgehend ethnisch-kulturell homogene Gemeinden einzurichten.68Zur Auseinandersetzung mit der multikulturellen und multiethnischen Zusammensetzung der neutestamentlichen (und übrigens in Ansätzen auch bereits der alttestamentlichen) Gemeinde, empfehle ich Daniel J. Hays, From Every People and Nation. A biblical theology of race, insbesondere die Kapitel 7-9. Damit nimmt multikulturelle bzw. multiethnische Gemeinde auch einen wichtigen gesellschaftlichen Auftrag wahr und begegnet der Sehnsucht nach Zugehörigkeit, indem sie Menschen aller Hintergründe willkommen heißt und ihnen eine Heimat bietet. Vor allem aber bedarf es einer Vision dazu: Dass nämlich durch die Liebe, wie sie sich in einer multiethnischen Gemeinde zeigt, Christus selbst sichtbar wird (Joh 17,23). Damit dies gelingt, braucht es auch auf Leitungsebene Menschen unterschiedlicher ethnisch-kultureller Hintergründe, die die Perspektiven und Anliegen ihrer Gruppen in die Art, wie Gemeinde gestaltet wird, einbringen können. Zur vertiefenden Lektüre empfehle ich:
- Johannes Reimer, Multikultureller Gemeindebau. Versöhnung leben
- Stephen Beck, Mission Mosaikkirche. Wie Gemeinden sich für Migranten und Flüchtlinge öffnen
- Mark DeYmaz, Building a Healthy Multi-ethnic Church: Mandate, Commitments and Practices of a Diverse Congregation
- Ajith Fernando, Discipling in a Multicultural World
- David J. Hesselgrave, Missionarische Verkündigung im kulturellen Kontext
Autorin
Madita Engel
Endnoten
- 1Auch identitätspolitische Linke, kultureller Marxismus oder Wokeismus genannt
- 2Der im Wirkungsbereich der CSJ oft verwendete Begriff „People of Color“ bezieht sich nicht auf die Hautfarbe eines Menschen, sondern stellt die Selbstbezeichnung von Gruppen und Einzelpersonen dar, die die Erfahrung von Rassismus teilen (vgl. Diversity, PoC).
- 3Heute ist meist nicht mehr von Frauen, sondern von FINTA-Personen (Frauen, Intersex, Nonbinäre, Trans, Asexuelle) die Rede
- 4Vgl. Baucham, Lines, xi—xiii; crsucla, Race.
- 5Vgl. Lindsay/Pluckrose, Theories, 15.
- 6Für den US-amerikanischen Raum vgl. vor allem Voddie T. Baucham, Fault Lines. The Social Justice Movement and Evangelicalism`s Looming Catastrophe, Washington D.C., 2022; Edward Feser, All One in Christ. A Catholic Critique of Racism and Critical Race Theory, San Francisco 2022; Robert Chao Romero / Jeff M. Liou, Christianity and Critical Race Theory. A Faithful and Constructive Conversation, Grand Rapids 2023. Sowie Neil Shenvi / Pat Sawyer, Critical Dilemma, Eugene 2023.
- 7Vgl. Baucham, Lines, xiii.
- 8Shenvi/Sawyer, Critical, 73.
- 9Vgl. Lindsay/Pluckrose, Theories, 35.
- 10Vgl. Lindsay/Pluckrose, Theories, 41.
- 11Vgl. Lindsay/Pluckrose, Theories, 48.
- 12Crenshaw, Mapping, 1297.
- 13Vgl. Lindsay/Pluckrose, Theories, 142f.
- 14Editors, race; crsucla, Race.
- 15Vgl. Daub, Race Theory; crsucla, Race; Editors, race.
- 16Vgl. crsucla, Race.
- 17Vgl. Diversity, PoC.
- 18Vgl. Editors, race.
- 19“Critical race theorists hold that racism is inherent in the law and legal institutions of the United States insofar as they function to create and maintain social, economic, and political inequalities between whites and nonwhites, especially African Americans” (Editors, race).
- 20Vgl. Editors, race.
- 21Das lässt sich u.a. daran ablesen, wie viele Beiträge in den letzten Jahren in den öffentlich-rechtlichen Medien veröffentlicht wurden, die sich mit strukturellem Rassismus oder „Alltagsrassismus“ beschäftigen.
- 22Barskanmaz, Race.
- 23Vgl. Barskanmaz, Race.
- 24Vgl. Daub, Race.
- 25Vgl. Editors, tenets.
- 26Künne, Race, 92.
- 27Künne, Race, 92ff.
- 28Richard Delgado, zitiert in: Baucham, Lines, xvi.
- 29PULS Reportage, Rassismus, 7:41-7:47.
- 30Vgl. Editors, tenets. Genetische Studien haben gegen Ende des 20. Jahrhunderts endgültig belegt, dass ein Konzept von „Menschenrassen“, wie die neuzeitlichen Rassentheorien sie zu beschreiben versuchten, genetisch nicht zu rechtfertigen ist (vgl. ebd.).
- 31Vgl. Editors, tenets.
- 32Vgl. Barskanmaz, Race.
- 33Vgl. Editors, tenets; Barskanmaz, Race.
- 34Barskanmaz, Race.
- 35Vgl. Barskanmaz, Race; Kind, Formulierung.
- 36Vgl. Richard Delgado, wiedergegeben in: Baucham, Lines, xvi.
- 37Vgl. zu diesem Absatz auch Baucham, Lines, 100f.
- 38Vgl. Aikins u.a., Afrozensus, 25.
- 39Vgl. crsucla, Race.
- 40Vgl. crsucla, Race.
- 41Unter
- 42whitesplaining“ versteht man (analog zum neufeministischen Begriff „mansplaining“) in der CRT insbesondere den Versuch einer weißen Person, einer „Person of Color“ (d.h. einer Person, die Rassismus-Erfahrungen gemacht hat, kurz: PoC) zu erklären, was Rassismus sei (und was nicht). Der Begriff impliziert zugleich, dass die weiße Person dies, möglicherweise ohne dies wahrzunehmen, auf herablassende Weise tue, während sie die Situation der PoC aufgrund fehlender eigener Rassismus-Erfahrung nicht verstehen könne (wodurch sie nach CRT-Epistemologie kein „Rederecht“ in Sachen Rassismus hat) (vgl. Anders, Whitesplaining).
- 43Zerger, Rassismus, 81.
- 44Barbara Applebaum, zitiert in: Baucham, Lines, 76 (Hervorhebungen von der Autorin).
- 45Vgl. Medienmacher*innen, Prozent.
- 46Vgl. Barskanmaz, Race.
- 47Anti-Schwarzer Rassismus, Anm. d. Autorin.
- 48Aikins u.a., Afrozensus, 43-44.
- 49Kendi, Amendment.
- 50Vgl. von Thadden, Privilege.
- 51Vgl. Saarinen, Erbsünde, 1394-1397.
- 52Vgl. Künne, Race, 92.
- 53Zur Einordnung kann es hier hilfreich sein, den deutschen Soziologen Aladin El-Mafaalani zu Wort kommen zu lassen. El-Mafaalani erklärt in seinem Buch Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt, dass die Unzufriedenheit derer mit Migrationsgeschichte nicht daher rühre, dass die Integration scheitere, sondern – im Gegenteil – daher, dass sie gelinge. Denn je stärker Menschen mit Migrationsgeschichte integriert würden, desto mehr Teilhabe erhielten sie, und entsprechend mehr würden sie auch ihre Perspektive einbringen (vgl. El-Mafaalani, Integrationsparadox, 73-79). Angesichts zunehmender Konflikte ist er darum der Meinung, dass Deutschland „auf einem guten Weg zur offenen Gesellschaft“ sei (vgl. Ramadan, Integration).
- 54Lewis, Pardon, ich bin Christ, 126.
- 55Vgl. für den folgenden Absatz: Wagenknecht, Selbstgerechten, 102-103.
- 56Wagenknecht, Selbstgerechten, 102-103.
- 57Aikins u.a., Afrozensus, 43. Dazu sollte ergänzt werden, dass eine solche Bemerkung, wenn sie vorschnell und aus mangelndem Interesse an der tatsächlichen Lebensrealität des Gegenübers ausgesprochen wird, nicht gutzuheißen ist. Dieser Artikel plädiert für aufrichtiges Interesse am anderen und für gründliches Zuhören und Verstehenwollen. Das Problem an der hier aufgezeigten Einstellung ist jedoch, dass sie von vornherein jede Möglichkeit, dass jemand, der „weiß“ ist, jemanden verstehen könnte, der „schwarz“ ist, ausschließt.
- 58Vgl. Eberstadt (2019): Primal Screams, 48f.
- 59„Safe spaces“ sind „Räume, in denen die Angehörigen von Minderheiten vor verbalen Übergriffen sicher sind, weil Männer oder Heteros oder Weiße keinen Zutritt haben“ (Wagenknecht, Selbstgerechten, 101).
- 60Ein Beispiel für diese Tendenz ist z.B. die Einführung von Filmrubriken bei Online-Streamingdiensten, die nur Filme und Serien zeigen, in denen Schwarze die Hauptrolle oder die Regie übernehmen
- 61Vgl. Stroh, Wiedergutmachung, 1535.
- 62Ibram X. Kendi aus How to Be an Antiracist zitiert in: Paul, Antiracism.
- 63Vgl. Baucham, Lines, 88.
- 64Eine praxisorientierte Einführung in die Kontextanalyse speziell für Gemeinden bietet der Band Die Welt verstehen. Kontextanalyse als Sehhilfe für die Gemeinde, herausgegeben von Tobias Faix und Johannes Reimer.
- 65Vgl. Hays, People, 199f.; 205.
- 66Vgl. Aydin u.a. Kontakthypothese; Landhäußer, Vorurteile.
- 672021 hatten 27,2% der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund, 2022 waren es 28,7% (vgl. Bundeszentrale, Bevölkerung; Statistisches Bundesamt, Migrationshintergrund). Migrationshintergrund wurde dabei bis in die zweite Generation statistisch erfasst, d.h. Migrationshintergrund hat jemand, wenn er oder sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde (vgl. Statistisches Bundesamt, Migrationshintergrund). Die Erhebungen zeigten auch: „[J]e größer die Einwohnerzahl der Gemeinde ist, desto größer ist tendenziell auch der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung“ (Bundeszentrale, Bevölkerung).
- 68Zur Auseinandersetzung mit der multikulturellen und multiethnischen Zusammensetzung der neutestamentlichen (und übrigens in Ansätzen auch bereits der alttestamentlichen) Gemeinde, empfehle ich Daniel J. Hays, From Every People and Nation. A biblical theology of race, insbesondere die Kapitel 7-9.