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Transsexualität

Versuch einer ethischen Orientierungshilfe

Vorbemerkung

Ich schreibe diesen Artikel als Theologin. Obwohl ich mich mit den medizinischen und psychologischen Aspekten des Themas auseinandergesetzt habe, bin ich bei weitem keine Expertin auf diesem Gebiet.

Ich bin selbst in meinem Umfeld mit dem Phänomen „Transsexualität“ und dem Bemühen bzw. der Notwendigkeit konfrontiert, eine ethische Einordnung dafür zu finden. Aus dieser Erfahrung und den daraus entstandenen Überlegungen heraus möchte ich versuchen, anderen Laien eine Orientierungshilfe aus christlicher Sicht an die Hand zu geben.

Dabei bin ich mir bewusst, dass es sich um ein sowohl medizinisch-psychologisch als auch ethisch derart komplexes Thema handelt, dass es unmöglich in einem kurzen Essay abgedeckt werden kann. Darum kann dieses Essay nur ein Versuch einer Standortbestimmung und ein Anstoß zu weiterem eigenen Nachdenken über die Thematik sein.

Es ist meine Hoffnung, mit diesem Text ein Bewusstsein für eine in unserer Gesellschaft und auch in unseren christlichen Gemeinden zunehmende Problematik und die daraus resultierenden Fragestellungen zu schaffen. Dabei sollen sowohl ethische als auch seelsorgerliche Aspekte für den Umgang mit Betroffenen berücksichtigt werden.

Begriffsklärung: Transsexualität / Transidentität

Die Diagnose „Transsexualität“ bezeichnet nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) den „Wunsch, als Angehöriger des anderen Geschlechtes zu leben und anerkannt zu werden. Dieser geht meist mit Unbehagen oder dem Gefühl der Nichtzugehörigkeit zum eigenen anatomischen Geschlecht einher. Es besteht der Wunsch nach chirurgischer und hormoneller Behandlung, um den eigenen Körper dem bevorzugten Geschlecht soweit wie möglich anzugleichen.“1ICD-10: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, Bd. 1: Systematisches Verzeichnis, Hg. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, DIMDI, Bern u.a.: Huber, 2000, S. 290.

In diesem Essay soll es dementsprechend allein um Transsexualität, wie sie in dieser Diagnostik beschrieben ist, gehen, ohne weitere Phänomene wie Transvestitismus o.ä. zu beleuchten. Auch den noch weit komplexeren Fall der Intersexualität – also des Vorhandenseins von Merkmalen beider Geschlechter an einem Menschen – klammere ich für diesen Artikel bewusst aus.

Wichtig ist dabei – vor allem, wenn es darum geht, innerhalb einer christlichen Gemeinde Wege zum Umgang mit Betroffenen zu finden – , dass es sich bei Transsexualität nicht in erster Linie um eine Frage der sexuellen Orientierung, sondern um eine Frage der persönlichen Identität handelt (aus diesem Grund wäre eigentlich der Begriff „Transidentität“ vorzuziehen, der bisher jedoch weniger gebräuchlich ist). Bei den Betroffenen kommen sowohl hetero- als auch bi- und homosexuelle Orientierung vor. Inwieweit sexuelle Identität und Orientierung in der Frage der Transsexualität doch miteinander verknüpft sein sollten, kann hier nicht diskutiert werden.

Vom Blickwinkel der Identitätsfrage kann hier nur festgehalten werden, dass bei dem Versuch, eine Bewertung der Thematik aus biblisch-ethischer Sicht vorzunehmen, berücksichtigt werden muss, dass es sich bei Transsexualität nicht um sündhaftes sexuelles Verhalten im biblischen Sinn handelt.

Mögliche Ursachen für transsexuelles Empfinden

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass mehr männliche als weibliche Patienten transsexuell empfinden. Die Zahlen, die das Männer-Frauen-Verhältnis bestimmen sollen, schwanken je nach Studie erheblich, aber es lässt sich wohl generell feststellen, dass die männliche Geschlechtsidentität fragiler ist als die weibliche2Vgl. dazu Uwe Hartmann und Hinnerk Becker, Störungen der Geschlechtsidentität: Ursachen, Verlauf, Therapie, Wien: Springer, 2002, S. 16f.

Die Ursachen für die Entstehung von transsexuellem Empfinden sind bisher trotz einer Vielzahl diesbezüglicher Theorien ungeklärt.
Es besteht die Möglichkeit, dass transsexuelles Empfinden genetisch bedingt ist. Studien dazu sind jedoch sehr umstritten. Auch psychoanalytische Deutungsmuster bringen keine eindeutigen Ergebnisse.3Für einen Überblick der aktuellen Forschungslage vgl. Hartmann / Becker, ebd., S. 17ff.

Bisher lässt sich lediglich feststellen, dass es sich um ein komplexes, multikausales Phänomen handelt.

Für den konkreten, auch seelsorgerlichen, Umgang mit Betroffenen und ihren Familien ist es in jedem Fall wichtig zu wissen, dass keinesfalls zwangsläufig eine traumatische Erfahrung dem Entstehen von Transsexualität zugrunde liegen muss.

„Geschlechtsumwandlung“: medizinische und juristische Voraussetzungen

Juristische Leitlinien für den Umgang mit Transsexuellen sind im Transsexuellengesetz (TSG) festgehalten4Das aus 1980 stammende „Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz – TSG)“ ist als ergänzendes Gesetz zum Personenstandsgesetz im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert. Es hat keinen direkten Bezug zur psychischen und somatischen Behandlung Transsexueller. Der Wortlaut des TSG findet sich z.B. auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Transsexualität und Intersexualität e.V.: https://dgti.org/2021/11/06/das-transsexuellengesetz/. Im Allgemeinen laufen die Vorbereitungen für eine geschlechtsangleichende Operation folgendermaßen ab:

Für die geschlechtsangleichende Operation, wie sie von den meisten transsexuell Empfindenden gewünscht wird, ist zunächst eine gesicherte Diagnose erforderlich. In der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung und Begleitung sollen der Verlauf beobachtet und eventuelle psychische Begleiterkrankungen oder psychische Probleme erkannt und behandelt werden. Ziel der psychiatrisch-psychotherapeutischen Begleitung ist es, eine individuelle Lösung für das spezifische Identitätsproblem zu finden und zu einer reifen und abgewogenen Entscheidung im Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen der körperlichen Behandlung zu verhelfen.

Eine weitere Voraussetzung für die Operation ist die Durchführung eines so genannten „Alltagstests“, während dessen der / die Betroffene über mindestens 12 bis 18 Monate bereits im empfundenen Geschlecht lebt. Ziel dieser Alltagserprobung ist es, auf die Umstellung vorzubereiten, die mit dem Geschlechtswechsel zwangsläufig einhergeht, und bei der Entscheidung bezüglich einer Operation zu helfen. Außerdem soll es bereits zu einer wachsenden Lebenszufriedenheit führen, wenn der / die Betroffene bereits weitgehend im empfundenen Geschlecht leben kann.

Darüber hinaus wird der Körper durch eine gegengeschlechtliche Hormonbehandlung über mindestens 6 bis 12 Monate auf die Operation vorbereitet.

Eine Änderung des Vornamens kann bereits vor der Operation erfolgen.

Langzeitverlauf

Betrachtet man die Darstellung der Thematik „Transsexualität“ im Internet, vor allem auf Seiten der Betroffenen, so wird generell das Bild vermittelt, dass durch den Geschlechtswechsel die erhoffte Veränderung und Lebensqualität erreicht worden sei und die Identitätsproblematik mit all ihren negativen Begleiterscheinungen endgültig der Vergangenheit angehöre.

Dem steht allerdings die Beobachtung entgegen, dass der Langzeitverlauf stark von Begleitumständen wie dem psychosozialen Umfeld etc. abhängig ist. Eine von Hartmann und Becker beschriebene Studie zeigte, dass sich bei den meisten der in dieser Studie nach fünf bis zwanzig Jahren nachuntersuchten Mann-zu-Frau-Transsexuellen „das Befinden und insbesondere die soziale Situation signifikant verschlechtert [hatte], wobei ihre subjektiven Angaben z.T. deutlich mit ihrer realen Situation kontrastierte, was als Ausdruck von massiven Verleugnungs- und Spaltungstendenzen interpretiert wurde.“5Hartmann / Becker, S. 194.

Die erwähnten Verleugnungstendenzen sind durchaus nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass sich für Betroffene nach einem langen Leidensweg, der häufig von Depressionen bis hin zur Suizidgefahr geprägt ist, die Operation als endgültige Lösung ihrer Schwierigkeiten und Lebensprobleme darstellt. Wenn diese „Lösung“ mit all den Hoffnungen, die daran geknüpft waren, sich als Enttäuschung herausstellt, ist es schwierig bis unmöglich, sich diese Enttäuschung auch einzugestehen.

Biblisch-Theologische Aspekte

Die biblisch-theologische Auseinandersetzung mit dem Phänomen Transsexualität kann nicht auf eine Ansammlung von Bibelstellen zurückgreifen, die sich eindeutig mit dem Phänomen Transsexualität beschäftigen. Ziel muss vielmehr eine theologische Einordnung sein, die gesamtbiblische Aussagen zum Thema „Identität“ in den Blick nimmt.

Sucht man nach einem Text, der speziell für Aussagen zur Identität als Mann bzw. als Frau herangezogen werden kann, liegt es nahe, sich zunächst mit dem Bericht über die Erschaffung von Mann und Frau zu beschäftigen:

„Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land.
Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.”

1. Mose 1,26.27

Dieser Text macht deutlich, dass die Unterscheidung zwischen zwei Geschlechtern mehr ist als nur eine „soziale Konstruktion“, wie es in der soziologischen Diskussion gelegentlich postuliert wird. Gott will den Menschen in seiner Zweigeschlechtlichkeit als Mann oder Frau. Keine Aussagen macht der Schöpfungsbericht jedoch über stereotype Identitätsmerkmale des Mann- oder Frauseins oder bestimmte Rollenzuordnungen. Diese können durchaus kulturell extrem variieren, ohne dass es dafür in jedem Fall klare schöpfungstheologische Leitlinien gäbe.

Der Schöpfungsbericht berichtet von einer Welt vor dem Sündenfall. Es ist nicht auszuschließen, dass in einer gefallenen Welt, ebenso wie Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen zur Welt kommen, auch Menschen mit einer „falschen“ Geschlechtsidentität geboren werden.

Sicher kann der Verweis auf Gottes Schöpferhandeln Anlass sein, Menschen zu ermutigen, ihr von Gott geschaffenes Geschlecht anzunehmen. Es wird allerdings weder dem biblischen Text noch dem Empfinden der Betroffenen gerecht, allein aufgrund dieser Stelle von Sünde zu sprechen, wenn jemand den Wunsch empfindet, sein körperliches Geschlecht zu wechseln.

Eine Stelle, die sich mit den äußeren Merkmalen von Mann und Frau beschäftigt und die auf den ersten Blick sehr eindeutig wirkt, ist 5. Mose 22,5:

„Eine Frau soll nicht die Ausrüstung eines Mannes tragen, und ein Mann soll kein Frauenkleid anziehen;
denn jeder, der das tut, ist dem Herrn, deinem Gott, ein Gräuel.“

Dieses Gebot steht innerhalb des umgebenden Kapitels relativ zusammenhanglos. Es gibt Ausleger, die hier eine Verbindung zu bestimmten heidnischen Kulten in der Umwelt Israels sehen, in deren Ausübung Geschlechterunterschiede verwischt wurden und von denen Israel als Gottes Volk sich deutlich unterscheiden sollte. Dies ist durchaus möglich, gleichzeitig muss jedoch bedacht werden, dass der Vers nicht in einem Zusammenhang von Kultanweisungen oder Verboten des Götzendienstes steht.

Gerade die Stellung ohne erkennbaren Kontext kann einerseits als Hinweis gedeutet werden, dass eine Verwischung gottgegebener Geschlechtsunterschiede von Gott nicht gewollt ist. Andererseits muss diese Stellung uns auch vorsichtig machen im Blick auf vorschnelle Urteile, zumal ein transsexuell empfindender Mensch sich ja nicht als jemand erlebt, der dem einen Geschlecht angehört und die Kleider des anderen trägt, sondern gerade durch die Wahl von Kleidung des anderen Geschlechts seiner „wahren“ Identität Ausdruck verleihen möchte.

Ein Text, der darüber spricht, wie Menschen jenseits der gewöhnlichen Geschlechterkategorien Zugang zur Gemeinschaft mit Gott erhalten, ist Jesaja 56,3b-5:

„Der Verschnittene soll nicht sagen: Ich bin nur ein dürrer Baum. Denn so spricht der Herr: Den Verschnittenen, die meine Sabbate halten, die gerne tun, was mir gefällt, und an meinem Bund festhalten, ihnen allen errichte ich in meinem Haus und in meinen Mauern ein Denkmal, ich gebe ihnen einen Namen, der mehr wert ist als Söhne und Töchter: Einen ewigen Namen gebe ich ihnen, der niemals ausgetilgt wird.”

Eunuchen („Verschnittene“) waren nach 5.Mose 23,2 vom Tempelgottesdienst ausgeschlossen. Hier verheißt Jesaja, dass Gottes Zuwendung auch ihnen gilt, wenn sie ihm wirklich dienen wollen. Die Verheißung wird konkret am Beispiel des äthiopischen Kämmerers erfüllt, der ebenfalls ein Eunuch war und durch Christus zum neutestamentlichen Gottesvolk gehört (Apostelgeschichte 8).

Es ist hier jedoch zu beachten, dass es sich bei den Eunuchen, von denen hier die Rede ist, wohl kaum um Menschen handelt, die freiwillig diese Stellung „zwischen den Geschlechtern“ eingenommen haben (auch wenn sie aufgrund dieser Stellung in der Antike in einflussreiche Positionen aufsteigen konnten). Vielmehr öffnet sich hier ein Zugang zu Gott für Menschen, die ohne ihr eigenes Zutun vom Gottesdienst ausgeschlossen waren.

Inwieweit diese Stelle also auf Menschen übertragbar ist, die sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterziehen, bleibt fraglich.

Seine Relevanz für die Thematik erhält der Text allerdings aus der Realität, dass es tatsächlich transsexuell Empfindende gibt, die sich aufgrund des großen psychischen Drucks, den ihr Empfinden ihnen bereitet, nicht in der Lage sehen, in ihrem Geburtsgeschlecht zu leben, die aber dennoch ernsthaft in einer Beziehung zu Gott leben möchten.

Aus dieser seelsorgerlichen Perspektive erhält auch der letzte Text, den ich hier nennen möchte, eine besondere Bedeutung:

„Es gibt nicht mehr Juden und Griechen,
nicht Sklaven und Freie,
nicht Mann und Frau;
denn ihr alle seid «einer» in Christus Jesus.“ (Galater 3,28)

Die tiefste Identität eines Christen liegt nicht mehr in seinem Geschlecht begründet, sondern in seiner Zugehörigkeit zu Jesus Christus. Hier könnte ein Ansatzpunkt für Menschen sein, die jenseits von – auch gesellschaftlich begründeten – Geschlechterrollen auf der Suche nach ihrer „wahren“ Identität sind.

Fazit

Der biblische Befund ist, zumindest wenn man an ihn die Fragestellung heranträgt, ob denn Transsexualität nun Sünde sei oder nicht, weit weniger eindeutig, als man es vielleicht erwarten würde.

Dass ich die aktuelle Praxis des Umgangs mit Transsexualität dennoch kritisch bewerte, hat also nicht in erster Linie biblisch-theologische Gründe – auch wenn in der Frage, inwieweit es berechtigt ist, derart massiv in einen biologisch gesunden Körper einzugreifen, wie dies bei einer geschlechtsangleichenden Operation der Fall ist, durchaus auch der Aspekt der Verantwortung vor Gott als dem Schöpfer eine wichtige Rolle spielt.

In jedem Fall ist unabhängig vom persönlichen Umgang mit Betroffenen dem soziologischen Trend, eine Festlegung auf Zweigeschlechtlichkeit als „Diskriminierung“ völlig zurückzuweisen, von schöpfungstheologischer Seite einiges entgegenzuhalten.6Dass es durchaus (auch aus biblisch-theologischer Sicht) sinnvoll sein kann, bestimmte stereotype Rollenklischees zu hinterfragen, soll hier keinesfalls in Abrede gestellt werden. Nicht die Hinterfragung kulturell bestimmter Geschlechterrollen, sondern die grundlegende Kritik an der Zweigeschlechtlichkeit als solcher ist hier kritisch zu werten. Darüber hinaus ist allein das Empfinden der meisten Transsexuellen, wirklich dem anderen Geschlecht (und eben gerade nicht einer „Zwischenstufe“ oder einem „dritten“ Geschlecht) anzugehören, ein Hinweis darauf, dass die Berufung auf das Phänomen Transsexualität zur Untermauerung soziologischer Thesen wenig tragfähig ist.

Auch ist darauf hinzuweisen, dass durch die zunehmende Popularität der Thematik – sowie der Möglichkeit einer geschlechtsangleichenden Operation als „Lösungsmethode“ - viele Menschen hier einen Weg aus ihren Identitätskonflikten sehen, der letztendlich ihrer individuellen Situation nicht angepasst ist, vor allem, wenn man bedenkt, dass Therapie im Sinne einer Psychotherapie mit dem Ziel, die eigene – auch biologische – Identität anzunehmen, kaum stattfindet.

Uwe Hartmann und Hinnerk Becker stellen hierzu fest:

„In den vergangenen 25 Jahren sind Transsexualität und Geschlechtsumwandlung immer mehr zu einer (vermeintlichen) Lösungsschablone für vielfältige Probleme mit der eigenen Identität geworden und dies unter Mitwirkung aller hieran beteiligten Professionellen, d.h. der verschiedenen medizinischen Disziplinen, Psychologen sowie der gesetzgebenden Juristen.“7Hartmann / Becker, S. 199. 

Dieser Umgang mit Geschlechtsumwandlung als „Lösungsschablone“ wird also der individuellen Situation von Betroffenen nicht gerecht, zumal transsexuelles Empfinden häufig nur eine Facette einer tieferliegenden Identitätsstörung ist.8Vgl. ebd., S. 197.

Auch wenn Betroffene sich selbst als psychisch gesund und lediglich „im falschen Körper“ lebend empfinden, zeichnet die medizinisch-psychologische Erfahrung doch ein anderes Bild.9Vgl. z.B. ebd., S. 196ff.

Für die Praxis

In dieser Spannung zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung der Betroffenen stellt sich nun die Frage, welches der richtige seelsorgerliche Umgang mit Transsexualität ist.

In der Praxis erfordert der Umgang mit transsexuell Empfindenden viel Geduld und Feingefühl. Im Allgemeinen ist nicht damit zu rechnen, dass der Wunsch besteht, sich einer Therapie mit dem Ziel zu unterziehen, die ursprüngliche Geschlechtsidentität anzunehmen. Dennoch sollte zu einer solchen Therapie zumindest vorsichtig ermutigt werden.

Dabei muss die grundlegende Haltung dem / der Betroffenen immer Respekt und Annahme signalisieren. Die Erfahrung zeigt, dass transsexuell Empfindende auf alles, was von ihnen als Konfrontation empfunden wird, außerordentlich sensibel reagieren und sich in der Folge dem anderen gegenüber möglicherweise völlig verschließen.

Um Annahme zu signalisieren, kann es ratsam sein, den von dem / der Betroffenen gewünschten Vornamen zur Anrede zu benutzen.

Im Gemeindekontext ist damit zu rechnen, dass ein „Coming Out“ eines / einer Transsexuellen zu Verwirrung und Ratlosigkeit im Umgang mit dem / der Betroffenen führt. Hier ist es wichtig, die Gemeinde so weit wie möglich über die Thematik aufzuklären. Vor allem der Hinweis, dass es sich in erster Linie um eine Identitätsfrage und nicht um eine Frage sexueller Neigungen handelt, wird für viele Gemeindeglieder wichtig sein.

So wie von der Gemeinde Rücksicht auf die sensiblen Gefühle des / der Betroffenen genommen werden muss, so kann ebenso auch von dem / der Transsexuellen Rücksicht auf die Gefühle der anderen Gemeindeglieder erwartet werden, was z.B. den Verzicht auf bewusst provokative Kleidung angeht.

Für Seelsorger und Gemeindeleiter empfiehlt es sich, sich um Informationen oder Schulung durch erfahrene Fachleute, wie z.B. von wuestenstrom e.V., zu bemühen, um der Herausforderung, einen angemessenen Umgang mit einem / einer transsexuell Empfindenden zu finden, begegnen zu können.

Weiterführende Literatur zum Thema:

  • DSM-IV-TR: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – Textrevision, dt. Bearbeitung und Einführung von Henning Saß / Hans-Ulrich Wittchen u.a., Göttingen u.a.: Hogrefe, 2003, S. 636ff.
  • Eicher, Wolf, Transsexualismus: Möglichkeiten und Grenzen der Geschlechtsumwandlung, 2., bearbeitete Auflage Stuttgart u.a.: G. Fischer, 1992.
  • Hartmann, Uwe und Hinnerk Becker, Störungen der Geschlechtsidentität: Ursachen, Verlauf, Therapie, Wien: Springer, 2002.
  • Hirschauer, Stefan, Die soziale Konstruktion der Transsexualität, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993.
  • ICD-10: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, Bd. 1: Systematisches Verzeichnis, Hg. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, DIMDI, Bern u.a.: Huber, 2000, S. 290.

Links (in Auswahl):

  • http://www.dgti.org/ - Homepage der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V.
  • www.genderwunderland.de – enthält einige relativ fundierte Artikel zu Transgender und Christentum, u.a. Stellungnahmen evangelischer und katholischer Kirchenvertreter. 
  • „Grace and Lace Newsletters“ – evangelikaler Newsletter für Crossdresser, Transgender und Transsexuelle. (leider nicht mehr online verfügbar)
  • https://queer-christ-berlin.jimdofree.com – Gemeinde für Homo-, Bi- und Transsexuelle in Berlin, theologisch relativ konservativ.
  • www.whosoever.org – englischsprachiges Magazin für homo- und transsexuelle Christen. Teilweise interessante theologische Betrachtungen.
  • www.wuestenstrom.de – Seelsorge, Beratung und Schulung in den Bereichen Sexualität und Identität.
  • https://www.zwischenraum.net – christliche Seite für Homo-, Bi- und Transsexuelle.

Stefanie Seibel

Endnoten

  • 1
    ICD-10: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, Bd. 1: Systematisches Verzeichnis, Hg. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, DIMDI, Bern u.a.: Huber, 2000, S. 290.
  • 2
    Vgl. dazu Uwe Hartmann und Hinnerk Becker, Störungen der Geschlechtsidentität: Ursachen, Verlauf, Therapie, Wien: Springer, 2002, S. 16f.
  • 3
    Für einen Überblick der aktuellen Forschungslage vgl. Hartmann / Becker, ebd., S. 17ff.
  • 4
    Das aus 1980 stammende „Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz – TSG)“ ist als ergänzendes Gesetz zum Personenstandsgesetz im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert. Es hat keinen direkten Bezug zur psychischen und somatischen Behandlung Transsexueller. Der Wortlaut des TSG findet sich z.B. auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Transsexualität und Intersexualität e.V.: https://dgti.org/2021/11/06/das-transsexuellengesetz/
  • 5
    Hartmann / Becker, S. 194.
  • 6
    Dass es durchaus (auch aus biblisch-theologischer Sicht) sinnvoll sein kann, bestimmte stereotype Rollenklischees zu hinterfragen, soll hier keinesfalls in Abrede gestellt werden. Nicht die Hinterfragung kulturell bestimmter Geschlechterrollen, sondern die grundlegende Kritik an der Zweigeschlechtlichkeit als solcher ist hier kritisch zu werten.
  • 7
    Hartmann / Becker, S. 199. 
  • 8
    Vgl. ebd., S. 197.
  • 9
    Vgl. z.B. ebd., S. 196ff.