Ist Selbstbefriedigung Sünde?
Ehrliche Bestandsaufnahme – notwendige Unterscheidungen – seelsorgliche Klärungen
Sich selbst befriedigen – viele tun es, aber niemand möchte darüber sprechen. Das dürfte die Situation in christlichen Gemeinden wie auch in der Gesellschaft insgesamt gut beschreiben.
Die Auseinandersetzung mit dem Thema ist ein Ringen um den richtigen Umgang mit dem eigenen Körper und der eigenen Sexualität einer hochgradig sexualisierten Umgebung. Für (einige) Christen geht es bei diesem Ringen auch um die Frage, ob Selbstbefriedigung Sünde ist oder – vielleicht unter bestimmten Umständen – auch nicht.
Im neuen Text des Ethikinstituts beschäftigt sich der Autor Matthias Burhenne mit genau diesen Fragen. Seine differenzierten Ausführungen orientieren im Umgang mit diesem sehr persönlichen Themenfeld, geben aber auch Impulse für Gemeinden und sowie Einzelpersonen, die Menschen in dieser Thematik begleiten.
Die Situation1Einzelne Abschnitte dieses Textes sind dem Buch: Burhenne, Matthias. Sexualität & Seelsorge. Holzgerlingen: SCM Hänssler im SCM-Verlag 2011, S. 155-168 entnommen.
Selbstbefriedigung – ein Thema, das in kaum einer Gemeinde offen angesprochen wird und im gesellschaftlichen Bereich ebenfalls eher selten. Ein Tabu-Thema, das Menschen in unterschied-lichsten Lebensphasen sehr beschäftigt.
Sven ist 12, er ist heute Nacht aufgewacht. Er erinnert sich noch an ein seltsames, aber schönes intensives Gefühl. Die Hose ist feucht, er erschrickt, dann wird es ihm klar: „Mein erster Orgasmus.“ Heimlich wirft er die Unterhose in den Müll. Irgendwie ist es ihm peinlich. Seine Eltern haben das Thema nie mit ihm angesprochen. In der Schule hatten sie es vor einiger Zeit im Unterricht, und einige Kumpels gaben schon damit an, dass sie sich schon einen „runtergeholt haben“. Es soll genial sein. Am Nachmittag ist er allein zu Hause. Er erinnert sich an das schöne Gefühl in der Nacht. Er weiß, dass man den Orgasmus irgendwie mit reiben erzeugen kann. Neugierig ist er schon. Soll er es probieren? Freunde haben ihm von Pornos im Internet erzählt und dass man sich damit ganz schnell in Stimmung bringt. Ohne Pornos soll es wohl nicht klappen. Er denkt an seine Gemeinde. Wurde da nicht mal gesagt, dass Selbstbefriedigung Sünde ist?
Niko, 27 Jahre alt, ist verzweifelt. Er liebt seine Frau, ist superglücklich über die Beziehung. Ein ganzes Jahr sind sie nun schon verheiratet. Doch eine alte Angewohnheit hat ihn wieder eingeholt. Mit 14 Jahren fing es an, dass er zunehmend Pornos schaute. Fast jeden Tag praktizierte er dabei Selbstbefriedigung. Erst Softpornos, dann wurden es immer heftigere Clips. Als Pornos mit Auspeitschen etc. ins Spiel kamen, war er so frustriert und schockiert über sich, dass er eine Zeit lang ganz aufhören konnte. Ein halbes Jahr später fing er wieder an, Softpornos zu schauen, ca. alle vier bis fünf Wochen. Als er dann Ann kennenlernte, war die Motivation sehr groß, nicht mehr „zu fallen“. Dies gelang auch fast. Zweimal im Freundschaftsjahr gab es einen Rückfall. In der Ehe hätte sich das Problem dann endlich gelöst, dachte er. Und wirklich, die ersten Ehemonate waren wunderschön, auch sexuell klappte es super. Doch in der Schwangerschaft war Ann häufig schlecht. Im achten Monat musste sie bis zur Geburt ins Krankenhaus. An den langen Abenden allein zu Hause war er gleich mehrmals „gefallen“. Er schämte sich unendlich, war wütend auf sich. Oft hatte er zu Gott gebetet, dass er ihm Kraft gibt, der Versuchung aus dem Internet zu widerstehen. Aber nur sehr selten war es gelungen. Nun waren Ann und das Baby schon ein paar Wochen zu Hause. Aber die Nächte waren total zerstückelt und Ann sehr müde und angespannt. Klar hatte sie keine Lust auf Sex, das verstand er, aber sein sexuelles Bedürfnis war inzwischen enorm hoch. Immer wieder grübelte er: „Wie soll ich nur durch die nächsten Wochen, vielleicht Monate kommen? Ich will Ann nicht weiter mit Internetpornografie betrügen.“ Einem Freund hatte er sich letzte Woche anvertraut. Der hatte gemeint: „Denk’ doch einfach an Ann, an euren gemeinsamen Sex und befriedige dich dabei.“ Niko kam dies komisch vor. Selbstbefriedigung war bei ihm immer mit Pornos verbunden gewesen, und jetzt sollte er dabei an Ann denken?
Uwe ist 55 Jahre alt. Er ist Single und hat diesen Weg von Gott angenommen. Er kennt die Herausforderung des Internets im Blick auf Pornografie und hat sich deshalb eine Sicherheitssoftware gegen Pornografie aufgespielt. Ohne diese Hilfe ist er immer wieder auf Pornoseiten gelandet. Das Codewort hat ein Freund, mit dem er alle ein bis zwei Wochen über das Thema redet und betet. Dadurch konnte er seinen Pornografie-Konsum von zwei- bis dreimal pro Woche auf ein- bis zweimal im Jahr reduzieren. Manchmal kämpft er noch mit dem „Kopfkino“ und denkt an Bilder aus den Pornostreifen. Doch er hat gemerkt, dass er sich auch ohne pornografische Bilder anzuschauen selbst befriedigen kann. Dies gelingt besonders dann, wenn sein Glied schon etwas steif ist (zum Beispiel die sogenannte „Morgenlatte“ oder beim Duschen). Dann ist es nicht mehr weit bis zum Orgasmus. Er kann ehrlich sagen, dass er keine Pornobilder dabei im Kopf hat. Alle zwei bis drei Wochen praktiziert er diese Selbstbefriedigung und kann seitdem auch viel besser der Versuchung von Pornofilmen widerstehen. Aber er ist sich unsicher. Ist das vor Gott in Ordnung – Selbstbefriedigung ohne Pornografie? Ist der Orgasmus nicht nur für die Ehe gedacht? Aber wenn er nie eine Frau findet, was dann? Darf er denn als Single die schönen Gefühle eines Orgasmus nicht erleben?
Drei Männer, drei unterschiedliche Lebensphasen, alle in unterschiedlichen sexuellen Herausforderungen und alle mit Überlegungen beschäftigt, wie Selbstbefriedigung aus biblischer Sicht in ihren Lebensphasen zu bewerten ist. Sind die drei Männer Ausnahmen?
Was wissen wir über die Häufigkeit von Selbstbefriedigung in der Gesellschaft? Wie viele Menschen praktizieren sie wirklich? Und hängt es mit dem Alter oder dem Geschlecht zusammen? Masturbation ist ein weit verbreitetes Phänomen. In Studien geben fast alle männlichen Jugendlichen an, Erfahrungen mit Selbstbefriedigung zu haben und dass diese für die meisten zur Gewohnheit wird.2Hoyndorf, Stephan / Reinhold, Marion / Christmann, Fred. Behandlung sexueller Störungen. Weinheim: Beltz PsychologieVerlagsUnion, 1995. Das Interesse an Sexualität wird besonders dann geweckt, wenn die nächtlichen „feuchten Träume“ – auch Pollutionen genannt – beginnen. 80 bis 90 Prozent der männlichen Jugendlichen erleben diese Form von Sexualität. Leider wird im Zeitalter des Internets und internetfähiger Handys das sexuelle Interesse durch Pornoclips oft schon weit vor den ersten feuchten Träumen geweckt. Ist Selbstbefriedigung eine reine Männerdomäne? Ganz sicher nicht. Wenn auch die Zahlen bei Männern mit 90-95 Prozent höher liegen, so zeigen doch Studien, dass 60-80 Prozent der Frauen Erfahrung mit Selbstbefriedigung haben.3http://de.statista.com/statistik/daten/studie/276/umfrage/selbstbefriedigung-bei-frauen/; 10.07.2012, vergl. auch neuere Zahlen zu Christen in Künkler, Tobias / Faix, Tobias u.a. Christliche Singles. Wie sie leben, glauben und lieben. Holzgerlingen: SCM R.Brockhaus, 2020, S.114ff. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Autoren ausschließlich unter Singles geforscht haben.
Was wissen wir aber über die christliche Szene im Blick auf das Thema Selbstbefriedigung? 2010 erschien das Buch „Mit Teens über Sex reden“4Baum, Rainer und Katrin. Mit Teens über Sex reden. Dillenburg: Christliche Verlagsgesellschaft, 2010, S. 80.. Es stellt eine Umfrage unter evangelikalen Jugendlichen und jungen Erwachsenen (12-29 Jahre, knapp 1.300 Befragte, 47,3 Prozent Männer und 52,7 Prozent Frauen) vor. Das Ergebnis: 70 Prozent der Männer befriedigen sich selbst, und 22 Prozent haben sich früher selbst befriedigt. Bei den Frauen sind es 29 Prozent, die sich befriedigen, und 22 Prozent, die sich früher selbst befriedigt haben.5Vgl. auch Künkler, Singles, S.116. In beiden Gruppen findet ein großer Teil der Selbstbefriedigung mit pornografischen Bildern und Filmen statt. Weitere Fakten zur Pornografie sind im Kapitel „Sexualität und Pornografie“ beschrieben.
Fazit: Ca. 90 Prozent der Männer und 60-80 Prozent der Frauen praktizieren oder praktizierten irgendwann in ihrem Leben Selbstbefriedigung, häufig in der Jugendzeit intensiver als im höheren Alter. Ein großer Teil tut es im Zusammenhang mit Internetpornografie. Nahezu alle meiner ratsuchenden Männer sagen, dass sie das Porno-Schauen und sich dabei zu befriedigen menschenverachtend finden und als Sünde einstufen. Unsicher werden sie dann, wenn es um Selbstbefriedigung ohne pornografische Bilder geht. Einige fragen: „Geht das denn überhaupt: Selbstbefriedigung, ohne an eine Frau zu denken?“ Andere sagen: „Sexualität und der Orgasmus sind für die Ehe geschaffen. Selbstbefriedigung ist Sünde.“ Fast alle bestätigen, dass das Thema in ihrer Gemeinde nirgends ausführlicher angesprochen wird.
An dieser Stelle kann sicher jeder seine Geschichte anfügen, seinen ersten feuchten Traum, die eigenen Kämpfe mit Selbstbefriedigung, eventuell mit Pornografie verbunden, und die mangelnde Thematisierung und Hilfestellung bei diesen Fragen in der Gemeinde. Dieses Kapitel gibt Orientierungshilfen auf biblischer Grundlage und ermutigt zur eigenverantwortlichen Entscheidung.
Und noch ein Wort an die Väter: Uns Vätern kommt eine besondere Verantwortung zu, mit unseren Söhnen rechtzeitig über Fragen der Sexualität zu reden. Damit meine ich kein einzelnes Gespräch zu diesem Thema, sondern einen vorsichtigen Prozess, bei dem man immer wieder neu schauen muss, wann der richtige Zeitpunkt ist, in der einen oder anderen Weise auf damit verbundene Fragen einzugehen.
Ein Blick in die Geschichte6Burhenne, Matthias. Selbstbefriedigung – Bibel, Gemeinde und deine Geschichte. In: „Selbstbefriedigung“. Weißes Kreuz Zeitschrift für Lebensfragen, Ausgabe I/2011, Nr. 45. Weißes Kreuz e.V.: Ahnathal/Kassel, S. 4-6.
Selbstbefriedigung, Masturbation, Auto- oder Solosexualität, Onanie – verschiedene Begriffe, die alle einen Vorgang meinen, nämlich die Befriedigung der eigenen Sexualorgane mit den eigenen Händen oder mit Gegenständen. Die Bewertung der Selbstbefriedigung war über die Jahrhunderte bis in unsere Zeit umstritten. Im antiken Griechenland war die Selbstbefriedigung zwar weitgehend akzeptiert, aber in weiten Teilen der Geschichte wurde sie negativ eingeordnet, mit teilweise abenteuerlichen Begründungen:
- Die Meinung der Kirche in früheren Jahrhunderten war, dass Selbstbefriedigung eine abtreibende Methode der Empfängnisverhütung sei. Deshalb wurde sie abgelehnt. Die Begründung aus damaliger Sicht war logisch, denn man war davon überzeugt, dass das Sperma des Mannes das komplette zukünftige Leben enthalte, bis zu Vorstellungen eines Miniembryos, den die Frau dann nur austrägt.7Noonan, John T. (1969), in: Schirrmacher, Thomas. Familienplanung eine Option für Christen? Bonn: Verlag für Kultur und Wissenschaft; 1. Auflage (Mai 2006), S. 126ff.
- Immanuel Kant führt die Masturbation als eine Weise der „Selbstschändung“ auf und nennt sie eine „sittliche Verfehlung“, mit der man seine „eigene Persönlichkeit“ aufgebe.8Vgl. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten. Teil 2: Tugendlehre, AA 425. Den Ursprung der lange Zeit vorherrschenden Meinung, dass Selbstbefriedigung die Nervensubstanz mindere, konnte der Anthropologe Weston La Barre aufklären. Sie liegt in der irrigen Annahme, dass man sich die Gehirnmasse im Sinne eines Kraftstoffes vorstellte, der angeblich bei der Selbstbefriedigung verloren ginge.9Vgl. Weston La Barre, Muelos. A Stone Age Superstition about Sexuality, Columbia University Press: New York 1985.
Biblische Einordnung verschiedener Formen von Selbstbefriedigung
Wie sieht es nun mit biblischen Aussagen zum Thema Selbstbefriedigung aus? Zur Sexualität an sich finden wir zahlreiche Aussagen in der Bibel. Es beginnt mit 1. Mose 1,27-28. Dort heißt es: „So schuf Gott die Menschen nach seinem Bild, nach dem Bild Gottes schuf er sie, als Mann und Frau schuf er sie. Und Gott segnete sie und gab ihnen den Auftrag: Seid fruchtbar und vermehrt euch ...“ Und Vers 31: „Danach betrachtete Gott alles, was er geschaffen hatte. Und er sah, dass es sehr gut war.“ Der Mensch und auch seine Fähigkeit zur Sexualität sind sehr gut. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Aussagen im Alten und Neuen Testament zum Thema Sexualität, wie sie gedacht ist und wie sie durch Versuchungen angegriffen und verzerrt wird.
Demgegenüber gibt es zum Thema Selbstbefriedigung keine direkten Bibelstellen. Dies erklärt sicher teilweise die Sprachlosigkeit in Gemeinden bei diesem Thema. Fälschlicherweise wurde oft 1. Mose 38,8-10 (die Bestrafung Onans) herangezogen, da hier der Ursprung des unglücklichen Wortes Onanie liegt. Beim genauen Lesen wird aber klar, dass es sich hier nicht um Selbstbefriedigung, sondern am ehesten um eine Unterbrechung des Samenergusses, Coitus interruptus, handelt, um die Schwagerehe nicht erfüllen zu müssen. Deshalb erfolgte auch das Gericht Gottes.
Stellen aus dem Alten Testament heranzuziehen (5. Mose 23,11; 3. Mose 15,16-18), in denen von der Unreinheit der Männer durch einen Samenerguss gesprochen wird, und damit die Sündhaftigkeit von Selbstbefriedigung zu erklären, ist keine überzeugende Herangehensweise. Erstens gibt es einen Unterschied zwischen Unreinheit und Sünde, zweitens wird der Unreinheitsgedanke im Bereich Sexualität in anderen Bereichen (zum Beispiel bei der Monatsblutung der Frau) nicht auf heutige Situationen übertragen.
Wie aber kann man Selbstbefriedigung biblisch bewerten, wenn wir keine klaren Aussagen haben, die wir als biblische Richtlinien nehmen können?
Meiner Ansicht nach ist dies nur möglich, indem man in Gottes Geschichte mit den Menschen nach biblischem Zeugnis leitenden Motiven, v.a. also dem Sinn dieses Schöpfungsaspektes, und den darin eingeschlossenen Weisungen fragt. Bezogen auf das Thema Selbstbefriedigung fragen wir daher nach:
- der Beziehung des Menschen zu sich selbst und zu anderen Menschen,
- der eigenen schöpfungsbedingten Körperlichkeit (zum Beispiel Unterschied zwischen Mann und Frau),
- der Liebe, was sie ausmacht und wie sie gelebt werden soll,
- dem Sinn des Geschlechtsverkehrs (Liebe schenken / Einheit erleben, Vermehrung, Orgasmus genießen).
In meiner seelsorgerlichen Praxis erlebe ich immer wieder drei Bereiche, in denen Selbstbefriedigung eine Relevanz hat. Daraus entwickelte sich in den letzten Jahren ein Modell, das ich im Gespräch mit Ratsuchenden beim Thema Selbstbefriedigung und der Frage, ob diese Sünde ist, erkläre. Es ist das „Drei-Bereiche-Modell der Selbstbefriedigung“ (siehe Grafik). Dieses Modell bietet einen differenzierten Ansatz und fordert zur eigenverantwortlichen Entscheidung vor Gott auf. Dieser Prüfungs- und Entscheidungsprozess soll ganz im Sinne der folgenden drei Bibelstellen gestaltet werden:
Galater 5,13: „Ihr seid berufen, liebe Freunde, in Freiheit zu leben – nicht in der Freiheit, euren sündigen Neigungen nachzugehen, sondern in der Freiheit, einander in Liebe zu dienen.“
Korinther 6,12: „Mir ist alles erlaubt. Aber nicht alles ist gut. Es ist mir zwar alles erlaubt, doch ich will mich von nichts beherrschen lassen.“
Thessalonicher 5,20-22: „Verachtet das prophe-tische Reden nicht, sondern prüft alles, was gesagt wird, und behaltet das Gute. Meidet das Böse in jeglicher Form!“
Mir ist bewusst, dass Modelle Schwächen haben und nicht vollständig die komplexe Realität widerspiegeln. Trotzdem meine ich, dass bei einem Thema, das gerade Männer derartig stark beschäftigt und zumindest heute im Kontext eines „Tsunamis der Pornografie“ steht, Orientierungshilfen angeboten werden müssen.
Bereich 1: Selbstbefriedigung im Jugendalter
Der erste Bereich geht davon aus, dass es eine Selbstbefriedigung im Jugendalter gibt, die ohne pornografische Bilder stattfindet, zum Beispiel durch sexuelle Erregtheit (wir denken an das Beispiel von Sven). In diesen Situationen merkt man – vielleicht überrascht –, dass durch weiteres Reiben sehr schnell schöne Gefühle und ein Orgasmus entstehen können. Hier findet ein „Sich-Kennenlernen“, seinen Körper „kennen lernen“ statt. Dass Jugendliche durchaus diese Form praktizieren, zeigt die oben erwähnte Studie aus dem Buch „Mit Teens über Sex reden“. Bei den Jungs dachten 30 Prozent nicht an eine Person, wenn sie Selbstbefriedigung praktizierten, bei den Mädchen waren es sogar 66 Prozent.10Baum, Rainer und Katrin. Mit Teens über Sex reden. Dillenburg: Christliche Verlagsgesellschaft, 2010, S. 80.
Ich glaube, dass diese Form der Selbstbefriedigung nicht in den Bereich der Sünde fällt, insbesondere nicht, wenn sie das erste Mal stattfindet. Hier gibt es einen Sinn, ein Ziel: sich als Jugendlicher in seiner schöpfungsgemäßen Art zu kennen, zu erforschen. Die Genitalien gehören zu unserer Geschöpflichkeit dazu, zu der Gott sein Ja gesprochen hat. Manchen Frauen hilft die Erfahrung aus der Selbstbefriedigung ohne Pornografie, später ihrem Ehemann zu zeigen, wie er sie gut erregen kann.
Damit habe ich aber nicht gesagt, dass man sich als Jugendlicher erforschen muss, um später glückliche Sexualität zu haben. Ich glaube, dass es durchaus Vorteile hat, wenn man hier nicht „rumprobiert“, bis man einen Orgasmus hat, sondern einfach warten kann, bis dieses Erkunden mit dem Ehepartner gemeinsam stattfinden kann. An dieser Stelle könnte man den Realitätsbezug zurecht hinterfragen: Leider liegt ja in unserer pornografisierten Gesellschaft das Einstiegsalter vieler Jugendlicher in die Pornografie bei elf oder 12 Jahren, also oft noch vor dem ersten „feuchten Traum“, den ersten eigenen Orgasmuserfahrungen, die mit circa 12 Jahren beginnen. In diesem Alter haben leider viele Jugendliche schon die heftigsten Sexpraktiken gesehen. Dass ein solcher Weg in die Pornografie die sexuelle Lerngeschichte fehlprägt, ist unbenommen. Doch um die Neugierde, das Ausprobieren-Wollen der eigenen Geschlechtlichkeit kommen viele Jugendliche nicht herum. Wie kann man mit dem Erwachen der eigenen Sexualität also gut umgehen? Unter Abwägung aller Vor- und Nachteile nenne ich hier bewusst diese Möglichkeit – Selbstbefriedigung im Jugendalter ohne Pornografie – als Alternative.
Bereich 3: Selbstbefriedigung mit pornografischen Bildern oder Filmen
Bevor ich zum kniffligeren zweiten Bereich komme, spreche ich kurz den großen, klar abtrennbaren dritten Bereich an: die Selbstbefriedigung mit Pornografie. Sie ist klar Sünde, denn wir finden dazu zahlreiche Stellen in der Bibel (zum Beispiel Matthäus 5,27-28: „Ehebruch durch den begehrlichen Blick“). Die Bewertung ist eindeutig, allein die Wege aus der Nutzung von Pornografie sind schwierig und langwierig, besonders wenn die Nutzung schon im Jugendalter begann und zur sündigen Gewohnheit, vielleicht sogar zur Sexsucht wurde.
Bereich 2: Selbstbefriedigung ohne pornografische Bilder in zwei Lebensrealitäten
Im zweiten Bereich sind verschiedene Formen von Selbstbefriedigung möglich, die ohne pornografischen Inhalt stattfinden.
Lebensrealität Single
Was ist nun mit „Selbstbefriedigung ohne pornografische Bilder“ – also, einer pornofreien Solosexualität – konkret gemeint? Diese Frage betrifft nicht nur Unverheiratete, sondern auch geschiedene oder verwitwete Menschen. Sie kennen die Sexualität mit ihrem Ehepartner seit Jahren, hatten sich meist an eine gewisse Regelmäßigkeit gewöhnt und sind nun wieder allein. Die Frage einer erneuten Heirat ist oft offen, doch die sexuellen Bedürfnisse gehen ja nicht mit dem Partner, sondern sind – nach dem ersten Trauerprozess – häufig schnell wieder vorhanden. Gibt es für diese Menschen den Weg der „Selbstbefriedigung ohne pornografische Bilder“?
Nun könnte man kurzgefasst sagen, der Sinn von Sexualität sei doch Vermehrung, dem Partner Liebe zu schenken (Einheit zu erleben) und sicher auch selbst die schönen Gefühle eines Orgasmus‘ zu genießen. In der christlichen Sexualethik sprechen verschiedene Autoren von der Liebessexualität, die nur möglich ist, wenn sie auf den Partner ausgerichtet ist. Folglich ist dann jede Selbstbefriedigung, auch ohne Pornografie, Egosexualität und Sünde, weil man sich nur um sich selbst dreht und keine Vermehrung möglich ist, egal, ob man ein 40jähriger Single oder ein verwitweter älterer Mann ist. Doch muss kritisch angemerkt werden, dass „den Partner erfreuen“, „Einheit erleben“ und „Vermehrung“ nicht alles ist. Es gibt zudem das schöne Gefühl des Orgasmus. Darf das ein Single nie erleben und genießen oder ein Verwitweter nie wieder? Diese Erfahrung der eigenen Sexualität ist für Alleinstehende möglich, wenn auch nicht die drei anderen Aspekte. Muss bei Alleinstehenden die Sexualität das ganze Leben „brach“ liegen? Diese Frage wird oft unbeantwortet gelassen. Eine Möglichkeit ist sicher, sich zu enthalten, den Wunsch nach Sexualität an Gott abzugeben. Das kann man als Verheirateter leicht sagen. Es als Single zu leben hingegen kann unendlich schwer sein. Einige landen aus Verzweiflung dann irgendwann in der Pornografie. Hier kann, meiner Ansicht nach, die gelegentliche „Selbstbefriedigung ohne Pornografie“ – die pornofreie Solosexualität – eine hilfreiche
und schützende Möglichkeit sein. Sicher muss auch dies in einem gesunden Maß und nicht in einer suchtartigen Struktur gelebt werden. Dies zu beachten gilt aber für jede Art von Sexualität.
Selbstverständlich bringt die „Selbstbefriedigung ohne Pornografie“ immer Lerneffekte mit sich bringt. In der Ehe muss man dann manches wieder verlernen, wie zum Beispiel: „Ich kann Sexualität zu jeder Zeit und an meinem Wunschort praktizieren.“ Diese Struktur ist in der Ehesexualität anders. Hier stelle ich mich auf meine Partnerin ein. Eine gute Ehekommunikation muss Stück für Stück aufgebaut werden.
Deshalb halte ich es für jüngere Menschen für sehr wichtig, im Blick auf eine mögliche spätere Ehe, die Spannung auszuhalten, Sex haben zu wollen und noch nicht erleben zu können. Wenn man einfach ständig in die „Selbstbefriedigung ohne Pornografie“ ausweicht und diese bei jedem kleinen Anflug von sexueller Lust oder bei der Bewältigung von Frust als „Seelentröster und Verdrängungstechnik“ praktiziert, dann findet ein unguter bis sündiger Gebrauch dieser Selbstbefriedigung statt.
Wichtig ist ebenfalls zu beachten, dass Menschen, die schon in einem regelmäßigen Pornografie-Konsum hängen, es schwerer haben, eine „Selbstbefriedigung ohne Pornografie“ zu praktizieren oder überhaupt zu entwickeln, da das „Kopfkino“, angefüllt mit Pornobildern, oft aktiviert wird. Auf der anderen Seite hat es sich bei einigen Ratsuchenden gezeigt, dass sie die „Selbstbefriedigung ohne Pornografie“ durchaus nutzen können, um ihren Pornografie-Konsum zu reduzieren oder völlig zu beenden. Manchen gelingt der Weg aus der Pornografie besser, wenn diese Zwischenstufe eingebaut wird, als gleich komplett auf Pornografie und Selbstbefriedigung verzichten zu müssen. Bei einer länger praktizierten Selbstbefriedigung ohne Bilder verblassen dann langsam die alten Pornobilder im Kopf, und so verringert sich das Zurückfallen in die Pornografie deutlich.
Verheiratet und Selbstbefriedigung
Bei den Verheirateten passt der etwas merkwürdige Begriff „Notselbstbefriedigung“. Schöner klingt zwar das Wort „Solosexualität“, das für Singles auch passend ist. Für die Ehesituation empfinde ich den Begriff eher missverständlich, weil er vielleicht vermittelt, dass es völlig o.k. und immer sinnvoll ist, wenn jeder neben der Ehesexualität auch noch seine Solosexualität pflegt. Erfahrungen aus der Seelsorge zeigen, dass eine falsch verstandene Solosexualität manchmal sogar die gemeinsame Sexualität verringert oder sogar irgendwann beendet. Dies ist aber gerade nicht das Ziel der „Notselbstbefriedigung“, sondern sie dient dem Ziel, die miteinander geteilte Sexualität zu stärken!
Letztlich habe ich für verheiratete Menschen, insbesondere für Männer, festgestellt, dass dieser zweite Bereich (siehe Tabelle) eine hilfreiche Notlösung sein kann, wenn es um die Häufigkeit der Sexualität geht. Dieses Thema ist in fast jeder Ehe ein gewichtiges Thema. Manche Paare haben von ihrer Anlage her zwar ein ähnliches Bedürfnis, aber meine Beratungspraxis zeigt, dass es eher „normal“ ist, dass 70 bis 90 Prozent der Ehepaare es anders erleben. Manchmal besteht die Unterschiedlichkeit im Bedürfnis schon immer, in anderen Fällen, wie bei Niko, verändern bestimmte Lebensumstände (z.B. eine Schwangerschaft) die Bedürfnisintensität der beiden Partner in unterschiedliche Richtungen.
Hier ein Beispiel für eine grundsätzliche Unterschiedlichkeit und die Herausforderung, die damit entsteht: Ein Mann hat gerne ein- bis dreimal in der Woche Geschlechtsverkehr und denkt teilweise bis zu 30 bis 50 Mal am Tag an Sex mit seiner Frau. Seine Frau dagegen denkt in der Regel einmal in der Woche an Sex oder nur, wenn sie ihren Eisprung hat.
An dieser Stelle kann ein kleiner Selbsttest hilfreich sein. Fragen Sie Ihren Partner: „Wie oft denkst du am Tag/in der Woche an Sex / Geschlechtsverkehr?“ Dies kann zu einem interessanten Gespräch und zu einem vertieften Begreifen der Andersartigkeit des Partners führen. Absolut zentral ist, dass ein gemeinsamer Weg entwickelt wird. Vielleicht ist das Ergebnis ein Kompromiss im Bereich der Häufigkeit. Aber nicht jedem Ehepaar gelingt dieser Kompromiss, besonders nicht, wenn Krankheiten die sexuelle Begegnung vielleicht für Monate oder Jahre verhindern. Oder es gibt beruflich bedingte Phasen, in denen man längere Zeit an verschiedenen Orten leben muss. Hier kann die „Notselbstbefriedigung“ eine Hilfe sein, das Thema zu entspannen und auch die Versuchbarkeit zu reduzieren. Wichtig ist, dass man diese Variante mit seinem Ehepartner zuvor besprochen hat, denn grundlegendes Ziel muss der gemeinsame Geschlechtsverkehr bleiben.
Zusammenfassung
Selbstbefriedigung wird von circa. 90 Prozent der Männer und 60-80 Prozent der Frauen irgendwann im Leben praktiziert. Häufig ist sie mit Pornografie verknüpft, aber nicht immer. Leider wird das Thema in den meisten Gemeinden und christlichen Verbänden nicht angesprochen11Vgl. Künkler, Singles, S.128ff., was viele Menschen verunsichert und zu vereinfachten Schlüssen kommen lässt, wie: Selbstbefriedigung ist immer Sünde. Das „Drei-Bereiche-Modell der Selbstbefriedigung“ will keine Versuchung oder Verwirrung schaffen, sondern:
- die biblische Komplexität des Themas sowie
- die Vielfalt der Lebensrealitäten berücksichtigen,
- Verhaltensmöglichkeiten zur Diskussion stellen,
- vor dem „Tsunami der Pornografie“ schützen und Hilfen anbieten.
Das Modell bietet einen differenzierten Bewertungsansatz unterschiedlich motivierter Formen von Selbstbefriedigung. Es soll bewusst eine eigenverantwortliche Entscheidung unterstützen. Dabei geht es auf die unterschiedlichen Lebenssituationen (Jugendliche, Erwachsene, Verheiratete und Unverheiratete, Verwitwete) ein. In unterschiedlichen Lebenssituationen kann eine „Notselbstbefriedigung“ hilfreich sein. Manchmal ermöglicht sie die ersten Schritte aus der pornografischen Selbstbefriedigung.
Hilfreiche Links
Nachfolgend sind ein paar weiterführende Hilfsangebote zum Umgang mit Pornografie aufgeführt.
Autor
Matthias Burhenne
Endnoten
- 1Einzelne Abschnitte dieses Textes sind dem Buch: Burhenne, Matthias. Sexualität & Seelsorge. Holzgerlingen: SCM Hänssler im SCM-Verlag 2011, S. 155-168 entnommen.
- 2Hoyndorf, Stephan / Reinhold, Marion / Christmann, Fred. Behandlung sexueller Störungen. Weinheim: Beltz PsychologieVerlagsUnion, 1995.
- 3http://de.statista.com/statistik/daten/studie/276/umfrage/selbstbefriedigung-bei-frauen/; 10.07.2012, vergl. auch neuere Zahlen zu Christen in Künkler, Tobias / Faix, Tobias u.a. Christliche Singles. Wie sie leben, glauben und lieben. Holzgerlingen: SCM R.Brockhaus, 2020, S.114ff. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Autoren ausschließlich unter Singles geforscht haben.
- 4Baum, Rainer und Katrin. Mit Teens über Sex reden. Dillenburg: Christliche Verlagsgesellschaft, 2010, S. 80.
- 5Vgl. auch Künkler, Singles, S.116.
- 6Burhenne, Matthias. Selbstbefriedigung – Bibel, Gemeinde und deine Geschichte. In: „Selbstbefriedigung“. Weißes Kreuz Zeitschrift für Lebensfragen, Ausgabe I/2011, Nr. 45. Weißes Kreuz e.V.: Ahnathal/Kassel, S. 4-6.
- 7Noonan, John T. (1969), in: Schirrmacher, Thomas. Familienplanung eine Option für Christen? Bonn: Verlag für Kultur und Wissenschaft; 1. Auflage (Mai 2006), S. 126ff.
- 8Vgl. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten. Teil 2: Tugendlehre, AA 425.
- 9Vgl. Weston La Barre, Muelos. A Stone Age Superstition about Sexuality, Columbia University Press: New York 1985.
- 10Baum, Rainer und Katrin. Mit Teens über Sex reden. Dillenburg: Christliche Verlagsgesellschaft, 2010, S. 80.
- 11Vgl. Künkler, Singles, S.128ff.