0:00 0:00
Paar-, Familien- & SexualethikSexualethikSex vor der Ehe

Ist vorehelicher Sex „Sünde“? Eine Antwort aus biblisch-theologischer Sicht

Kerstin Schmidt

1. Einleitung

1.1 Relevanz des Themas

„Ist Sex vor der Ehe erlaubt?“ Diese Frage wird außerhalb christlicher Kreise heute kaum noch gestellt, denn sexuelle Erfahrungen vor der Ehe sind in unserer Gesellschaft längst kein Tabu mehr. Vielmehr wird ihre Legitimität in der Regel stillschweigend vorausgesetzt. Laut einer Statistik der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hatten ca. 2/3 aller Jugendlichen unter 18 Jahren schon Sexualverkehr.1Jugendsexualität 2010: Repräsentative Wiederholungsumfrage von 14- bis 17-jährigen und ihren Eltern, Hg. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln 2010, S. 109. Während die Zahl der Mädchen, die bereits Erfahrungen mit Geschlechtsverkehr gemacht haben, im Alter zwischen 15 und 16 stark ansteigt, ist eine ähnlich sprunghafte Zunahme bei den Jungen erst ein Jahr später, also zwischen dem 16. und 17. Lebensjahr, zu verzeichnen.2Ebd.  Die Quote derer, die schon vor der Eheschließung Geschlechtsverkehr oder Pettingerfahrungen haben, wird mittlerweile auf 90% geschätzt. Nur 7% der Mädchen und 4% der Jungen verzichten laut der Befragung bewusst auf Sexualität vor der Ehe.3Ebd. S. 106.

Warum sollte man sich dann überhaupt noch mit dem Thema „Sex vor der Ehe“ beschäftigen? Mindestens zwei Gründe legen das nahe: 

Zum einen spielt die Frage innerhalb christlicher Gemeinden zumeist (noch) eine wichtige Rolle und führt nicht selten zu Kontroversen. Zum anderen kann die Beschäftigung mit diesem Thema auch über christliche Kreise hinaus für unsere Gesellschaft wertvoll sein, denn infolge der zunehmenden Sexualisierung des alltäglichen Lebens suchen Menschen in diesem Bereich nach Orientierung. Als ernstzunehmende Anfrage an die gängige Praxis und als Gegenentwurf zu ihr kann es daher gewinnbringend sein, die Frage nach der Ehe als einzig legitimem Rahmen für intime sexuelle Gemeinschaft wieder verstärkt in die gesellschaftliche Diskussion einzubringen.

1.2 Warum die Bibel als Maßstab?

Warum sollte jedoch die Bibel im Bereich der Sexualität überhaupt Maßstab für menschliches Handeln sein?

Damit ist die grundsätzliche Frage berührt, was unser Handeln eigentlich bestimmt. Jede Handlung und Entscheidung eines Menschen fußt auf weltanschaulichen Prämissen. Sie sind das Fundament jedes Handelns. Sich bewusst zu machen, dass ethische Normen von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein können, ist unerlässlich, um menschliche Entscheidungen verstehen zu können, so auch bei der Frage nach der Sexualität vor der Ehe. Je nachdem, von welchen Normen wir geprägt sind und nach welchen Prinzipien wir leben, wird auch unser tägliches Handeln anders aussehen.

Die Ethik unterscheidet bei den Prämissen ethischen Handelns generell zwischen zwei Oberkategorien, nämlich der Situations- und der Prinzipienethik.  Dabei geht und um die Frage, ob die Situation selbst dem Menschen Aufschluss darüber gibt, welches Handeln jeweils gut ist und welches nicht, oder ob dazu allgemeine moralische Prinzipien und Regeln notwendig sind. Wie wir sehen werden ist es nicht zuletzt diese Frage, die selbst Christen heute beim Thema „Sex vor der Ehe“ in zwei Lager spaltet: Sollte die Bibel als Norm auch für das Verhalten im sexuellen Bereich herangezogen werden, weil sie allgemeingültige Prinzipien enthält, oder beschreibt sie intimes Verhalten lediglich in Abhängigkeit von bestimmten zeitgeschichtlichen und kulturellen Gegebenheiten? Sollte letzteres der Fall sein, so könnte der Umgang mit Sexualität, wie die Bibel ihn beschreibt, nicht unmittelbar auf heute übertragen werden. 

Wer dagegen davon ausgeht, dass die Bibel Prinzipien enthält, nach denen auch Menschen heute ihr Leben gestalten sollten, tut das in erster Linie, weil  genau das der Anspruch der Bibel selbst ist.4Um den folgenden Ausführungen zustimmen zu können, ist es also notwendig, diesen Selbstanspruch der Bibel anzuerkennen. Wer hingegen von anderen Voraussetzungen ausgeht, wird natürlicherweise auch zu anderen Ergebnissen gelangen. Hier geht man von der Überzeugung aus: Gott, der allein Inbegriff des Guten ist (vgl. Lk 18,19), teilt dem Menschen durch seine Offenbarung mit, was gut ist (vgl. Mi 6,8). Da Gott unwandelbar ist (vgl. Jes 41,4; Hebr 13,8), ändert sich auch seine Definition des Guten nicht. Folglich haben wir es nicht mit etwas zu tun, was in jeder Situation neu zu bestimmen wäre, denn das Gute definiert sich von Gott her und hat damit zeitlose Gültigkeit. 

Gleichzeitig schließt das Vorhandensein allgemeingültiger ethischer Prinzipien allerdings die Berücksichtigung der einzelnen Situation und ihrer zeitbedingten Umstände nicht völlig aus. Vielmehr kommt ein biblisch begründetes ethisches Urteil dadurch zustande, dass man Prinzipien, die Gott den Menschen an die Hand gegeben hat, unter Einbeziehung der jeweiligen Situation zur Anwendung bringt. Daher werden wir im Folgenden weder eine reine Situations-, noch eine reine Prinzipienethik anwenden, sondern einen Mittelweg gehen, bei dem die biblische Botschaft im Kontext der Zeit Maßstab des Handelns bleibt.

2. Das Verhältnis von Christentum und Sexualität: Ein kurzer Blick in die Kirchengeschichte

Um die aktuelle Diskussion zum Thema Sexualität vor der Ehe besser einordnen zu können, ist ein kurzer Blick in die Kirchengeschichte nützlich.Zunächst einmal kann festgehalten werden, dass vorehelicher Verkehr nicht allein ein Phänomen moderner Zeit seit der sexuellen Revolution des 20. Jahrhunderts ist. Das Phänomen lässt sich schon für die frühe Neuzeit nachweisen.5Vgl. Hubertus Lutterbach, Sexualität. III. Historisch-theologisch, in: LThK 9, 3. Aufl. Freiburg 2000, S. 517. Jedoch war damals im Gegensatz zu heute immer eine künftige Eheschließung mit im Blick. Obwohl Intimität vor der Ehe also gesellschaftlich nicht undenkbar war, bezogen Theologen in der Regel eine einheitliche Stellung für die Verortung des Geschlechtsverkehrs ausschließlich in der Ehe.6Vgl. Michael Banner, Sexualität II. Kirchengeschichtlich und ethisch, in: TRE 31, Berlin 2000, S. 209

Dabei lässt sich beobachten, dass im Lauf der Kirchengeschichte eine andere Frage im Mittelpunkt stand als heute. So diskutierten Theologen bis ins 19. und 20. Jh. hinein immer wieder, ob Geschlechtsverkehr nicht grundsätzlich als „sündhafter Vorgang“ anzusehen sei. Diese Ansicht, die auf ein verkürztes Verständnis der Position Augustins zurückzuführen ist, findet sich beispielsweise bei Gregor dem Großen, Martin Luther, in weiter Verbreitung im Pietismus und bei Tolstoj.7Vgl. ebd. S. 200-207 und Kurt Lüthi, Christliche Sexualethik, S. 178. Diese Abwertung der Sexualität führte in der Kirchengeschichte häufig zu asketischen Bestrebungen. Folglich wurde die Ehe von vielen Theologen, wie z.B. Augustin und Thomas von Aquin, weniger wertgeschätzt, als die ehelose Enthaltsamkeit. Eine neue Wertschätzung der Ehe trat, gepaart mit einer gewissen Skepsis gegenüber der Ehelosigkeit, erst infolge der Reformation ein.

Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts lässt sich dann bei christlichen Theologen allmählich ein Umdenken feststellen: Die negative Einstellung gegenüber menschlicher Sexualität wird zunehmend ersetzt durch eine positiv(er)e Bewertung der menschlichen Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit. Gegenwärtig gilt, dass die evangelische Kirche zwar weiterhin die Ehe als Ort für die „volle geschlechtliche Partnerschaft“ ansieht, sich gleichzeitig aber für eine differenzierte Beurteilung vorehelichen Geschlechtsverkehrs ausspricht.8Denkschrift zu Fragen der Sexualität, Hg. Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland, S. 27. Die katholische Kirche hingegen hält weiterhin an der Ehe als einzig legitimem Rahmen für eine intime Begegnung fest; was darüber hinausgeht, bezeichnet sie als „schwere Sünde“.9In Art. 2390 des Katechismus der Katholischen Kirche heißt es: „Der Geschlechtsakt darf ausschließlich in der Ehe stattfinden; außerhalb der Ehe ist er stets eine schwere Sünde und schließt vom Empfang der Heiligen Kommunion aus.“

Wie dieser kurze geschichtliche Überblick zeigt, hat sich also die Fragestellung innerhalb der letzten Jahrzehnte grundlegend gewandelt: Wurde im Lauf der Kirchengeschichte diskutiert, ob Sexualität jemals keine Sünde sein kann, so steht heute die Frage im Raum, ob Sexualität jemals eine Sünde sein kann (vorausgesetzt, sie geschieht aus Liebe). 

3. Aktuelle Argumente von Christen in der Diskussion um Sex vor der Ehe

Auch Christen sind sich heute bei diesem Thema längst nicht einig. Für den Weg zu einem eigenen Urteil ist es daher hilfreich, sich mit den wichtigsten Pro- und Contra-Argumenten vertraut zu machen.

3.1 Argumente für die Legitimität von Sex vor der Ehe

Eines der Hauptargumente besteht darin, zu behaupten, dass sie in der Bibel nicht ausdrücklich verboten wird. Bibelstellen, auf die Vertreter der entgegengesetzten Meinung verweisen, werden als nicht überzeugend empfunden. Viele dieser Belege hält man für so allgemein formuliert, dass man sie zwar auf das Thema beziehen kann, aber der Text selbst das nicht zwingend nahelegt. Gelegentlich wird darüber hinaus behauptet,  das Hohelied Salomos sei sogar ein Beispiel dafür, dass Intimität vor der Ehe in der Bibel eine zulässige Option sei.

Neben diesen biblischen Bezügen wird häufig auf die heute völlig anderen Lebensumstände verwiesen, die es verbieten, die biblische Praxis der vorehelichen Enthaltsamkeit eins zu eins auf die heutige Zeit zu übertragen. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei das für die Heirat übliche Alter. Bedingt durch längere Ausbildungszeiten und spätere finanzielle Selbstständigkeit wird heutzutage wesentlich später geheiratet, als noch vor wenigen Jahrzehnten, ganz zu schweigen von dem sehr jungen Heiratsalter zu Zeiten der Bibel. Da aber gleichzeitig die Geschlechtsreife nachweislich zunehmend früher eintritt, wird die Zeitspanne zwischen dem Eintreten von sexuellem Verlangen und einer denkbaren Heirat immer größer. Daher erscheint es notwendig, die Forderung nach vorehelicher Enthaltsamkeit zu hinterfragen.

Des Weiteren plädieren Vertreter dieser Position in der Regel dafür, den Umgang mit Sexualität sehr differenziert zu bewerten. Fraling z.B. nennt fünf verschiedene Kategorien: 1. Menschen, die Sexualität konsumieren, 2. Menschen, die mit Sexualität experimentieren, 3. Menschen, die Sexualität unter Ablehnung einer institutionalisierten Regelung in einer festen Beziehung ausüben, 4. Menschen, die ihr Zusammenleben - Sexualität eingeschlossen - als eine Art Probeehe betrachten und 5. Menschen, die mit klarem Ehewillen vorehelichen Verkehr praktizieren.10Bernhard Fraling, Sexualethik, S. 190-192. Die Beurteilung darf sich Fraling zufolge daher nicht nach der Tat an sich richten, sondern muss die Rahmenbedingungen als wesentlichen Faktor mit einbeziehen. Entscheidend ist hier nicht die äußere Form „Ehe“, sondern allein die Qualität der Beziehung. Daher sollte nach Ansicht dieser Vertreter keine kategorische Ablehnung vorehelichen Geschlechtsverkehrs erfolgen. Als biblischer Beleg wird dabei gelegentlich auf Röm 14,14 verwiesen, wonach „nichts unrein ist an sich selbst; nur für den, der es für unrein hält, ist es unrein.“

3.2 Argumente gegen Sex vor der Ehe

Vertreter dieser Position sind der Überzeugung, dass geschlechtliche Intimität aus christlicher Sicht allein im Rahmen der Ehe zulässig ist. Zu den Bibelstellen, die besonders häufig angeführt werden, gehören aus dem Alten Testament 1Mose 2,24, 2Mose 22,15/ 5Mose 22,28-29 und 5Mose 22,13-21. Aus dem Neuen Testament wird vielfach auf 1Kor 7,8-9 verwiesen und auf solche Stellen, die von „Unzucht“ (gr. porneia) sprechen. Hierzu gehören u.a. 1Kor 6,18, Gal 5,19 und 1Thess 4,3. Diese biblischen Bezugspunkte bilden den Schwerpunkt in der Argumentation. 

Darüber hinaus wird auf die natürlichen Vorteile hingewiesen, die es mit sich bringen, wenn intimer Kontakt nur im Rahmen der Ehe stattfindet. Erwähnt wird z.B. im Hinblick auf eine mögliche Schwangerschaft, dass dem Kind durch die Ehe der sichere Rahmen einer Familie gewährleistet wird. Was die Partner selbst betrifft wird zudem auf gesundheitliche Aspekte verwiesen. Diese umfassen nicht nur Geschlechtskrankheiten, die durch wechselnde Partner übertragen werden können. Auch die psychischen Eindrücke, die der erste Sexualkontakt nachweislich mit sich bringt, und die entsprechenden Folgen, wenn diese Beziehung zerbricht, spielen in der Argumentation eine Rolle. Vorehelicher Geschlechtsverkehr wird demzufolge als verantwortungsloses Handeln angesehen, sowohl sich selbst und dem Partner gegenüber, als auch mit Blick auf eine mögliche Schwangerschaft. Nur die Ehe biete wiederum den Schutzraum und die Geborgenheit, die nötig sind, um intime Gemeinschaft in der von Gott beabsichtigten Ganzheitlichkeit erleben zu können.

Mögliche Vorwürfe von Vertretern der Gegenposition werden aufgegriffen und zu entkräften versucht. So wird z.B. auf die Behauptung, die Partner müssten zuerst einmal ausprobieren, ob sie zueinander passen, entgegnet, dass dies selten eine Frage der Biologie sei und ein vollzogener Geschlechtsakt noch kein Garant für eine gelingende Beziehung sei. Dem Vorwurf der Verklemmtheit bei Verzicht auf Sex vor der Ehe wird entgegengehalten, Enthaltsamkeit sei nicht eine Frage von Hemmungen, sondern vielmehr ein Zeichen persönlicher Reife.

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass die Gegner von vorehelichem Geschlechtsverkehr durch biblische und außerbiblische Argumente darlegen, dass Sex nur im Rahmen der Ehe dem Willen Gottes entspricht und dem Wohl des Menschen dient.

4. Biblisch-theologische Betrachtung

Da im Rahmen dieser Dokumentation nicht alle Bibelstellen aufgegriffen werden können, auf die man sich hinsichtlich der Frage nach Sex vor der Ehe bezieht, werden wir uns auf die Wichtigsten beschränken. Dabei sollen in gleichem Maße alttestamentliche und neutestamentliche Aussagen Beachtung finden.

4.1 Aussagen im Alten Testament

4.1.1 1. Mose 2,24

Im Anschluss an den Bericht von der Erschaffung der Frau heißt es in 1Mose 2,24, dass ihretwegen der Mann seine Eltern verlassen, seiner Frau anhangen und mit ihr ein Fleisch werden wird. Für unseren Sachverhalt stellen sich zwei Fragen. Erstens: Was genau bedeutet „anhangen“ (hebr. dābaq)? Und zweitens: Ist in dieser Aufzählung eine zeitliche Reihenfolge intendiert? 

Im Hebräischen kann der Begriff „anhangen“ in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet werden. Dabei bezieht er sich ursprünglich nicht auf zwischenmenschliche Beziehungen, sondern beschreibt das Zusammenhaften oder Zusammenkleben von Dingen oder Stoffen. In den Fällen, wo „anhangen“ auf den zwischenmenschlichen Bereich übertragen wird, drückt es eine enge Beziehung aus, die entweder eine freundschaftliche oder aber eine feindschaftliche sein kann. Eine körperliche Beziehung ist mit der Verwendung dieses Wortes jedoch nicht intendiert, was sich daran zeigt, dass der Begriff neben der erotischen auch eine rein freundschaftliche Zuneigung beschreiben kann (so z.B. in Rut 1,14 oder Spr 18,24). Inhaltlich wird demzufolge in 1Mose 2,24 ausgedrückt, dass der Mann sich zu seiner Frau hält, sich ihr fest anschließt. Dass dabei an den verbindlichen Bund der Ehe zu denken ist, legt die Auslegung Jesu in Mt 19,3-7 nahe.11Vgl. Markus Schäller, Sex Beziehungsweise Ehe, S. 22-23. Als Jesus von den Pharisäern zu einer Stellungnahme zur Ehescheidung aufgefordert wird, verweist er auf 1Mose 2,24. Was Gott durch den dort beschriebenen Vorgang zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht durch Ehescheidung wieder trennen. Daran wird deutlich, dass das Wort „anhangen“ in 1Mose 2,24 nicht eine beliebige Form partnerschaftlichen Zusammenlebens beschreibt, sondern eine verbindliche Ehe.

Ist in 1Mose 2,24 eine zeitliche Reihenfolge intendiert? Zuerst wird der Mann Vater und Mutter verlassen, dann seiner Frau anhangen (sprich: sich durch die Ehe an sie binden) und dann ein Fleisch mit ihr sein. Sowohl auf sprachlicher als auch auf inhaltlicher Ebene lässt sich aus dem Bibeltext nachweisen, dass eine solche chronologische Abfolge hier tatsächlich vorliegt. Rein sprachlich lässt sich beobachten, dass die drei Verben („verlassen“, „anhangen“, „sein“) jeweils durch ein „und“ miteinander verbunden sind. Im Gegensatz zum Deutschen kann das Hebräische anhand der Wortstellung verdeutlichen, wie die einzelnen Teilsätze sich zueinander verhalten. Wenn diese Ereignisse beschreiben, die zeitlich oder logisch aufeinander folgen, muss sich im Hebräischen an das Wort für „und“ unmittelbar das Verb anschließen. Dies ist hier der Fall. Es bleibt aber offen, ob es sich um eine logische oder eine zeitliche Abfolge handelt. Hier hilft ein Blick auf die inhaltliche Aussage des Verses: Das Verlassen der Eltern muss dem Anschließen an die Frau logischerweise zeitlichvorausgehen. Entsprechend stehen dann auch das Anschließen an die Frau und das „Ein-Fleisch-werden“ chronologisch zueinander in Beziehung. Folglich beschreibt der Text, dass dem Geschlechtsverkehr die Eheschließung vorausgeht. Die Trennung von den Eltern, die Eheschließung und die geschlechtliche Vereinigung sind also in ihrer Reihenfolge festgelegt und nicht beliebig austauschbar. Dass diese Reihenfolge auch heute noch bindend ist, kann dadurch bekräftigt werden, dass es sich um eine Ordnung handelt, die Gott im Zuge der Schöpfung festgelegt hat (Schöpfungsordnung). Somit handelt es sich um ein allgemeingültiges Prinzip, das weder auf eine bestimmte Person – hier käme nur Adam in Frage, der jedoch weder Vater noch Mutter hatte, die er hätte verlassen können12Vgl. Markus Schäller, Sex Beziehungsweise Ehe, S. 21. - noch auf eine bestimmte Kultur beschränkt ist. Vielmehr ist es von Beginn der Welt an gesetzt und von nun an offenbar sowohl räumlich als auch zeitlich unbegrenzt gültig.

Für die Situation heute ergibt sich daraus Folgendes: Gemäß der Ordnung, die Gott in der Schöpfung festgelegt hat, sollte Geschlechtsverkehr nur im verbindlichen Rahmen der Ehe stattfinden. Da die Ehe in unserer Gesellschaft offiziell auf dem Standesamt geschlossen wird, ist dieser Schritt als Entsprechung zu dem biblischen „Anhangen“ anzusehen. Der geschlechtliche Umgang hat seinen ordnungsgemäßen Platz somit erst im Anschluss an die standesamtliche Trauung.

4.1.2  5. Mose 22

Neben Gen 2,24 wird häufig auf einige Verse aus 5Mose 22 Bezug genommen, um aufzuzeigen, dass Sexualität vor der Ehe in der Bibel nicht geduldet war. Maßgeblich sind vor allem V. 13-21 und V. 28-29. Hier werden zunächst die inhaltlichen Aussagen zusammengefasst wiedergegeben, bevor wir uns der Frage nach der Relevanz dieser Texte für heute widmen.

In 5Mose 22,13-21wird das Vorgehen geregelt, wenn ein Mann nach der Heirat behauptet, seine Frau sei nicht als Jungfrau in den Stand der Ehe getreten. Ist er damit nachweislich im Recht, so soll die betreffende Frau gesteinigt werden; ist er im Unrecht, werden ihm für die Verbreitung dieses Gerüchts verschiedene Strafen auferlegt. Aus diesen Versen lässt sich deutlich erkennen, dass das Alte Testament der Jungfräulichkeit eine sehr hohe Bedeutung beimisst. Dass der Ehemann erst nach der Hochzeit feststellt, ob er eine Jungfrau geheiratet hat oder nicht, weist außerdem eindeutig darauf hin, dass üblicherweise die Ehe der Ort des ersten geschlechtlichen Kontakts war.Eine andere für unsere Frage relevante Situation wird in 5Mose 22,28-29 (par 2Mose 22,15) geschildert. Hier wird angeordnet, dass ein Mann, der mit einer nicht verlobten Frau Geschlechtsverkehr hat, diese anschließend heiraten soll. Auch dies ist ein Hinweis darauf, dass Geschlechtsverkehr eigentlich auf die Ehe hin angelegt ist und im Vorfeld nicht üblich war. Als Fazit kann deshalb festgehalten werden: „Sexuelle Gemeinschaft zwischen Mann und Frau ist in der Thora also nur in der Ehe gegeben.“

In 5Mose 22,13-21wird das Vorgehen geregelt, wenn ein Mann nach der Heirat behauptet, seine Frau sei nicht als Jungfrau in den Stand der Ehe getreten. Ist er damit nachweislich im Recht, so soll die betreffende Frau gesteinigt werden; ist er im Unrecht, werden ihm für die Verbreitung dieses Gerüchts verschiedene Strafen auferlegt. Aus diesen Versen lässt sich deutlich erkennen, dass das Alte Testament der Jungfräulichkeit eine sehr hohe Bedeutung beimisst. Dass der Ehemann erst nach der Hochzeit feststellt, ob er eine Jungfrau geheiratet hat oder nicht, weist außerdem eindeutig darauf hin, dass üblicherweise die Ehe der Ort des ersten geschlechtlichen Kontakts war.Eine andere für unsere Frage relevante Situation wird in 5Mose 22,28-29 (par 2Mose 22,15) geschildert. Hier wird angeordnet, dass ein Mann, der mit einer nicht verlobten Frau Geschlechtsverkehr hat, diese anschließend heiraten soll. Auch dies ist ein Hinweis darauf, dass Geschlechtsverkehr eigentlich auf die Ehe hin angelegt ist und im Vorfeld nicht üblich war. Als Fazit kann deshalb festgehalten werden: „Sexuelle Gemeinschaft zwischen Mann und Frau ist in der Thora also nur in der Ehe gegeben.“13Georg Huntemann, Biblisches Ethos im Zeitalter der Moralrevolution, S. 460.

Mit diesen Bibelstellen zu begründen, dass auch heute noch der Grundsatz „Kein Sex vor der Ehe“ gilt, wird jedoch nicht jeden überzeugen. Die größte Herausforderung besteht darin, dass sich in der Thora Gesetze finden, die heute selbstverständlich nicht mehr angewendet werden (z.B. die Todesstrafe für ungehorsame Söhne nach 5Mose 21,18-21). Warum sollten also nicht auch die Anweisungen zum Umgang mit Sexualität zu diesen „überholten“ Gesetzen gehören? Der Verweis auf 5Mose 22 wird daher nur einen Gesprächspartner überzeugen, der die hier vorausgesetzte Ansicht teilt, dass hinter den Gesetzen der Thora Prinzipien stehen, die auch heute noch gültig sind. Hier spielen prinzipielle Auslegungsfragen der Bibel die entscheidende Rolle.

4.1.3 Das Hohelied

Das  biblische Buch Hohelied wird gelegentlich als Beleg dafür angeführt, dass auch die Bibel Geschlechtsverkehr vor der Ehe kennt und diesen nicht in jedem Fall verurteilt. Wir werden uns hier darauf beschränken, uns einen Überblick über die in der Diskussion vorgebrachten Argumente zu verschaffen und diese zu bewerten.14Eine begründete eigene Stellungnahme zum „richtigen“ Umgang mit diesem Buch wird damit bewusst vermieden. Im Lauf der Kirchengeschichte und bis in die Gegenwart hinein wird dieser Text sehr unterschiedlich ausgelegt (einen Überblick hierzu bietet z.B. Pope, Marvin H., Song of Songs. A New Translation with Introduction and Commentary  (AncB 7C), New York 1977, S. 89-229), sodass eine eingehende Beschäftigung mit solchen Fragen den Ramen dieser Dokumentation bei Weitem sprengen würde. Für unsere Zwecke genügen Wahrnehmung und Be-urteilung der vorgebrachten Argumente. Ausschlaggebend für alle Argumente ist die Frage, in welchen Kontext das Hohelied die Situationen einordnet. Beschreibt es in vollem Umfang eine voreheliche Situation, oder ist es, zumindest teilweise, im Zusammenhang mit Hochzeit und Ehe zu verstehen? Vertreter, die eine rein voreheliche Situation voraussetzen, begründen dies damit, dass es aufgrund der im Freien stattfindenden Treffen und deren begrenzter Dauer unmöglich ist, hier an ein verheiratetes Ehepaar zu denken; auch eine Heiratsabsicht sei nirgends erkennbar.15So z.B. Herbert Haag / Katharina Elliger, Stört nicht die Liebe, S. 88. Andere hingegen betrachten diese Gedichte als Kunstlieder, die dazu gedacht waren, bei Hochzeitsfeiern vorgetragen zu werden, und sehen das Hohelied somit in klarem Zusammenhang mit der Ehe.16So z.B. Ernst Würthwein, Das Hohelied, in: Die fünf Megilloth, Hg. Otto Eissfeldt (HAT 18), 1940, 2. Aufl. Tübingen 1969, S. 34. Manche gehen auch einen Mittelweg, indem sie das Hohelied in verschiedene Abschnitte einteilen und diese den Kategorien „vor der Hochzeit“, „Hochzeitsprozession“ und „nach der Hochzeit“ zuordnen.17So z.B. Jack S. Deere, Das Hohelied, in: 1. Könige - Hohelied, Hg. John F. Walvoord / Roy F. Zuck (Das Alte Testament erklärt und ausgelegt 2), Stuttgart 1991, S. 700.

Eine eindeutige Bewertung dieses Sachverhalts erscheint kaum möglich. Es sei aber auf zwei Aspekte hingewiesen: Zum einen wird die Behauptung, es handle sich um zwei Verliebte ohne jegliche Heiratsabsicht, dem Text insofern nicht gerecht, als die Geliebte mehrfach als „Braut“ bezeichnet wird (z.B. 4,8-12). Die Ehe ist also zumindest zukünftig mit im Blick. Zum anderen kann nur schwer übersehen werden, dass Aussagen wie in 3,4 und 7,12-13 zumindest nahelegen, dass vorehelicher Verkehr stattgefunden hat, auch wenn sie dies nicht explizit zum Ausdruck bringen. Eine Zuordnung dieser Abschnitte in die Zeit nach der Hochzeit, wie einige sie vorschlagen, wirkt nicht zuletzt aufgrund von 8,1-2 künstlich und daher kaum überzeugend.

Für eine tragfähige Interpretation der Stellen wird von Auslegern das gesamtbiblische Zeugnis herangezogen. Auch hier gibt es allerdings verschiedene Ansichten. Während die einen überzeugt sind, dass es „keinen Text in der Bibel [gibt], der dem Hohenlied formell widersprechen oder die von ihm gewährte Freiheit widerrufen würde“,18Herbert Haag/Katharina Elliger, Stört nicht die Liebe, S. 89. melden andere hier Bedenken an: Sollte das Hohelied vorehelichen Geschlechtsverkehr beschreiben und legitimieren, läge ein klarer Widerspruch zu anderen biblischen Aussagen vor.19So z.B. Helmut Burkhardt, Ethik, S. 90.

Aufgrund der Ergebnisse, die unsere Untersuchung des alttestamentlichen Befundes bisher erbracht hat, kann man allerdings davon ausgehen, dass eine Legitimierung vorehelichen Geschlechtsverkehrs durch das Hohelied kaum zu erwarten ist. Gerade die Tatsache, dass es sich bei dem Hohelied der Gattung nach um Weisheitsliteratur (und nicht um einen Gesetzestext) handelt, warnt generell davor, diesen Text höher zu gewichten, als andere Bibelstellen aus der „Thora“. Eine Beschreibung oder Gutheißung von vorehelichem Verkehr aufgrund der Aussagen im Hohelied ist zwar möglich, aber keineswegs zwingend oder gesichert.

Für das Alte Testament insgesamt können wir somit festhalten, dass die Texte Sexualität innerhalb der Ehe verorten.20Auch dass Jakob mit dem Geschlechtsverkehr mit Rahel sieben Jahre wartete, obwohl die Heirat sicher war, zeigt, dass in der Praxis vorehelicher Verkehr als illegitim galt.

4.2 Aussagen im Neuen Testament

Hinsichtlich des Textbefundes im Neuen Testament sind zwei Fragen relevant: Einerseits die nach der Bedeutung des Begriffs „Unzucht“ (gr. porneia) und andererseits die Auslegung von 1Kor 7. 

4.2.1 Die Bedeutung des Begriffs „Unzucht“ (gr. porneia)

Sowohl Befürworter als auch Gegner vorehelicher Sexualität nehmen in ihrer Argumentation Bezug auf Verse, die von „Unzucht“ sprechen. Das ist deshalb möglich, weil beide Seiten diesen Begriff unterschiedlich füllen. Während die einen unter „Unzucht“ in erster Linie die käufliche Liebe, also den Umgang mit einer Prostituierten, verstehen,21So z.B. Herbert Haag/Katharina Elliger, Stört nicht die Liebe, S. 95. denken die Gegner vorehelicher sexueller Intimität an jegliche Form illegitimen Geschlechtsverkehrs, wobei legitimer Verkehr an die Ehe gebunden ist22So z.B. Markus Schäller, Porneia in Korinth und die Argumentation des Paulus, Hammerbrücke 2006, S. 178.. Daher ist es nötig, zunächst grundsätzlich die Bedeutung des griechischen Wortes „porneia“ näher zu untersuchen. Exemplarisch wird dies an den Bibelstellen überprüft, die in der Literatur besonders häufig erwähnt werden, nämlich 1Kor 6,18, Gal 5,19 und 1Thess 4,3.

Der Begriff „porneia“ wurde ursprünglich verwendet, um entweder Ehebruch – also den außerehelichen Verkehr einer verheirateten Person – oder den Umgang mit einer Prostituierten zu beschreiben. In der Zeit des Spätjudentums erweiterte sich der Wortgebrauch, sodass mit „porneia“ auch geschlechtliche Vergehen im Allgemeinen bezeichnet werden konnten, ohne dass diese inhaltlich näher bestimmt waren. Daher lässt sich nicht sicher nachweisen, ob bei der Verwendung des Begriffs „porneia“ im Neuen Testament vorehelicher Geschlechts-verkehr inbegriffen war oder nicht. Auch dass in den spätjüdisch-rabbinischen Schriften die frühe Heirat als Schutzmittel gegen „porneia“ empfohlen wird, ist nicht zwingend als Beleg gegen vorehelichen Geschlechtsverkehr mit dem künftigen Partner zu werten, denn stattdessen könnte „porneia“ hier ebenso gut den Gang zur Prostituierten bezeichnen.

Eben dieses nicht klar umrissene Bedeutungsspektrum macht es schwierig, für die jeweilige Verwendung im Neuen Testament immer die zutreffende Bedeutung zu ermitteln. Aufschluss kann hier allenfalls der Kontext geben. So lässt sich für 1Kor 6,18 anhand der Erwähnung der „Dirne“ in V.16 überzeugend belegen, dass in V.18 „porneia“ im Sinne der Prostitution zu deuten ist.23So z.B. Gerhard Dautzenberg, Studien zur paulinischen Theologie und zur frühchristlichen Rezeption des Alten Testaments (GSTR 13), Gießen 1999, S. 155. In 1Thess 4,3 dürfte aufgrund der Anweisung in V.4, jeder solle „seine eigene Frau“ zu gewinnen suchen, bei „porneia“ in erster Linie Ehebruch - möglicherweise auch Prostitution - im Blick sein. Etwas schwieriger gestaltet sich die Ermittlung der Wortbedeutung in Gal 5,19, denn hier wird „porneia“ in einem Lasterkatalog neben anderen Vergehen ohne nähere Bestimmung lediglich aufgezählt. Vermutlich hat Paulus hier keine konkrete Form der „porneia“ im Blick, sondern bezieht sich allgemein auf jede Art illegitimen Geschlechtsverkehrs.

Somit können wir für die Bedeutung von „porneia“ im Neuen Testament festhalten, dass durch diese Bibelstellen weder bewiesen noch sicher ausgeschlossen werden kann, dass hier die Rede von vorehelichem Verkehr mit dem künftigen Ehepartner ist.

4.2.2 1. Kor. 7

Mit 1Kor 7,9 liegt ein weiterer neutestamentlicher Vers vor, auf den in der Diskussion häufig Bezug genommen wird. Inhaltlich empfiehlt Paulus hier all denen, die sich nicht enthalten können, die Heirat, denn es sei besser, zu heiraten, als von den „Begierden“ verzehrt zu werden. Die Argumentation des Paulus ist offensichtlich: Wer sich nicht enthalten kann, soll heiraten; ohne Heirat besteht die Gefahr, vom geschlechtlichen Verlangen in einen illegitimen Sexualverkehr gezwungen zu werden. Zweimal macht Paulus hier also deutlich, dass nur die Ehe als Ort intimer Aktivität in Frage kommt. Wie innerhalb dieses Rahmens Sexualität auf gottgewollte Weise gelebt werden kann, hat Paulus in den vorangehenden Versen bereits deutlich gemacht: Mann und Frau sollen ihrer Verantwortung füreinander, auch in körperlicher Hinsicht, nachkommen (V. 3). Sie sollen sich einander völlig hingeben (V.4) und grundsätzlich nicht auf intime Gemeinschaft verzichten, um sich nicht infolge sexuellen Verlangens zu versündigen (V. 5). Die einzige Ausnahme zu diesem Grundsatz ist dann gegeben, wenn beide Ehepartner sich enthalten möchten und die Zeit der Enthaltsamkeit begrenzt und dem Gebet gewidmet ist (V. 5). Dass diese Anweisungen sich ausschließlich an Verheiratete richten, zeigt einmal mehr, dass die Bibel die geschlechtliche Gemeinschaft nur innerhalb der Ehe verortet.

Befürworter von vorehelichem Geschlechtsverkehr, die ihren Gegnern zumeist die Möglichkeit einer klaren Bezugnahme auf die Bibel absprechen (s.o.), gehen in der Regel nicht auf 1Kor 7 ein. Überzeugende Argumente gegen 1Kor 7,9 seitens dieser Vertreter liegen nicht vor. Denkbar wäre z.B. der Verweis darauf gewesen, dass Paulus von einem kulturellen Hintergrund her schreibt, der sich von unserem heutigen sehr stark unterscheidet. Dieser Einwand wäre durch 1Kor 7,9 selbst letztlich nicht zu entkräften. Weiterführend wäre hier lediglich der Rückverweis auf eine andere Bibelstelle, nämlich auf die Schöpfungsordnung in 1Mose 2,24.

4.3 Zusammenfassung und Auswertung des biblischen Befundes

Insgesamt lässt sich für den biblischen Befund Folgendes festhalten: Die Bibel schweigt zum Thema voreheliche Sexualität keineswegs. Vielmehr gibt es zahlreiche Bibelstellen, auf die in diesem Zusammenhang verwiesen werden kann. Die meisten Bibelstellen zum Thema verorten den Geschlechtsverkehr eindeutig in der Ehe. Belege für vorehelichen Verkehr finden sich nicht, auch wenn einige Belege keine eindeutigen Rückschlüsse zulassen.

Allerdings ist der Einwand berechtigt, bei einigen der behandelten Stellen handle es sich um zu wenig spezifische Bibelstellen: Aussagen wie in 5Mose 22 und 1Kor 7 können leicht als kulturell bedingt entkräftet werden, indem man argumentiert, solche Aussagen seien nicht auf Wertvorstellungen Gottes zurückzuführen, sondern sie spiegelten lediglich die Gegebenheiten in biblischer Zeit wider. 

Im Gegenzug sind einem solchen Argumentationsgang jedoch mindestens zwei Anfragen entgegenzuhalten:

  1. War Geschlechtsverkehr in der damaligen Gesellschaft wirklich nur im Rahmen der Ehe zulässig?
  2. Schließen sich kulturell bedingte Aussagen und eine mögliche Relevanz für heute kategorisch gegenseitig aus?

Die Tatsache, dass wir unter anderen Bedingungen leben als die Menschen damals, führt zwar dazu, dass nicht alle biblischen Aussagen unmittelbar auf heute übertragen werden können; jedoch ist damit noch längst keine grundsätzliche Bedeutungslosigkeit jener Aussagen für das Leben heute gegeben. Vielmehr lassen sich hinter solchen kulturell bedingten Aussagen häufig durchaus zeitlos gültige Wertvorstellungen Gottes entdecken. Auch der Verweis auf das Verbot der „porneia“ ist für unsere Fragestellung zu unspezifisch, denn „Unzucht“ bezieht sich nicht eindeutig auf vorehelichen Geschlechtsverkehr mit dem künftigen Partner. Andererseits kann aber ebenso wenig das Hohelied als absolut sicherer Beleg für die Duldung von intimer Gemeinschaft vor der Ehe herangezogen werden.

Aus biblischer Sicht ist 1Mose  2,24 das stärkste Argument gegen „Sex vor der Ehe“, denn hier wird eine von Gott gesetzte, allgemeingültige Schöpfungsordnung beschrieben. Diese gibt eine klare Reihenfolge von „Eltern verlassen“, „der Frau anhangen“ und „ein Fleisch werden“ vor und verortet so den Geschlechtsverkehr in der Ehe. Auf diesem Hintergrund können gesamtbiblisch betrachtet dann auch solche Bibelstellen als Argumente gegen Intimität vor der Ehe angeführt werden, die für sich genommen in der Diskussion oft nicht eindeutig sind. So belegt 5Mose 22, dass die Anweisungen aus 1Mose 2,24 im Volk Israel zur Anwendung kamen. Auch die vielen neutestamentlichen Aufforderungen zur Vermeidung von Unzucht zeigen, dass Christen nicht beliebig mit ihrer Sexualität umgehen, sondern sich an Gottes Vorgaben im Rahmen der Schöpfungsordnung halten sollten. Dass dies die Beschränkung der sexuellen Intimität auf die Ehe einschließt, wird im Neuen Testament besonders anhand von1Kor 7,9 deutlich.

Aus biblisch-theologischer Sicht ist die Frage, ob voreheliche Sexualität illegitimes Handeln und damit „Sünde“ ist,  deshalb mit Ja zu beantworten, weil vorehelicher Geschlechtsverkehr ein Verstoß gegen die von Gott gesetzte Schöpfungsordnung ist. Mit ihr liegt eine dauerhaft gültige Ordnung vor, die weder durch kulturelle, noch durch gesellschaftliche oder zeitgeschichtliche Faktoren außer Kraft gesetzt wird. Das gesamtbiblische Zeugnis steht in einer Linie mit dieser Schöpfungsordnung.

5. Ausblick: Impulse für die Gemeindepraxis

Das Thema „Sex vor der Ehe“ wird je nach Art, Prägung und Struktur in der einzelnen Gemeinde unterschiedlich viel Raum einnehmen. Allen Gemeinden dürfte jedoch gemeinsam sein, dass sie dieses Thema gerade in der heutigen Zeit als eine große Herausforderung empfinden. Daher sollen an dieser Stelle ein paar Schlaglichter aufgezeigt werden, wie unsere Untersuchung für die Gemeindepraxis fruchtbar gemacht werden kann - und zwar sowohl für die Teenie- und Jugendarbeit, als auch für die Gesamtgemeinde.

Da Teenager und Jugendliche über die Medien ständig mit dem Thema Sex konfrontiert werden, ist es wichtig, dass die Gemeinde ihnen Gottes Wertvorstellungen vermittelt. Dabei ist damit zu rechnen, dass junge Menschen der Ansicht, intimer Kontakt gehöre nur in die Ehe, mit Anfragen und Einwänden begegnen. Daher ist eine gründliche Vorbereitung notwendig, wenn dieses Thema angegangen werden soll. Hier kann die vorliegende Dokumentation als Grundlage dienen. 

Im Teenie- oder Jugendkreis bietet es sich an, die Teilnehmer bei Themeneinheiten aktiv mit einzubeziehen. In unserem Fall könnte dies so aussehen, dass ein Teil der Gruppe mit den Argumenten für, der andere Teil mit den Argumenten gegen Sex vor der Ehe (s.o. Punkt 3) konfrontiert wird. Damit die Teenies und Jugendlichen sich selbst mit der Thematik auseinandersetzen, könnte die Aufgabe entweder darin bestehen, sich mit den gelieferten Argumente vertraut zu  machen und diese in einer anschließenden Diskussionsrunde zu vertreten. Alternativ wäre es auch denkbar, dass die jeweilige Gruppe die vorgelegten Argumente möglichst überzeugend entkräften soll. Ob eine solche Aktion möglich ist, hängt natürlich von der Dynamik der jeweiligen Gruppe ab - hier muss der Leiter abschätzen, ob seine Gruppe auch bei diesem Thema gesprächig und diskutierfreudig sein wird, oder nicht. Je nach Situation könnte auch eine Trennung der Gruppe nach Geschlechtern helfen, Gesprächsbarrieren abzubauen. Bei der thematischen Entfaltung seitens des Leiters sollte auf jeden Fall 1Mose 2,24 aufgegriffen werden. Von den übrigen Bibelstellen kann nach eigenem Ermessen eine Auswahl getroffen werden. 

Neben einer guten Erklärung der Bibeltexte ist es wichtig, den Teenies und Jugendlichen die Vorzüge des Wartens bis zur Ehe aufzuzeigen. Hierzu gehören z.B. die folgenden Punkte: 

  • Bis zur Hochzeit gibt es immer noch ein „Mehr“ in der Beziehung, auf das man sich freuen und gespannt warten kann; 
  • dadurch wird die Hochzeit und Ehe zu etwas ganz Besonderem; 
  • aufeinander zu warten ist ein Ausdruck der Wertschätzung und Liebe dem künftigen Partner gegenüber; 
  • die Weigerung, vor der Ehe mit jemandem zu schlafen, schützt davor, ausgenutzt zu werden bzw. macht deutlich, ob der andere wirklich an einem als Person interessiert ist; 
  • die seelischen Verletzungen, die im Fall des Zerbrechens einer Beziehung entstehen, sind größer, wenn man bereits miteinander geschlafen hat. 

Für die Teenies und Jugendlichen könnte es darüber hinaus eindrücklich sein, wenn sich ein Ehepaar der Gemeinde bereit erklärt, in dieser Gruppenstunde dabei zu sein. Ein persönlicher Bericht, wie die Herausforderungen des Wartens bis zur Ehe gemeistert wurden (oder welche Fehler man vermeiden sollte), kann bezeugen, dass Gottes Plan gut ist und in der Praxis tatsächlich funktioniert. Alternativ könnten die erwachsenen Gemeindeglieder auch vorab ihre eigenen Erfahrungen und ihre Ratschläge für die junge Generation schriftlich und ggf. anonym bei dem Gruppenleiter einreichen, sodass dieser sie in die Stundengestaltung einbringen kann.

Im Gottesdienst kann die Gesamtgemeinde das Thema z.B. durch Einzelpredigten oder eine Predigtreihe zu den oben behandelten Bibelstellen aufgreifen. Um deutlich zu machen, dass die Gemeinde auch in Fragen der Sexualität Anlaufstelle sein möchte, kann der Pastor in seiner Predigt auf die Möglichkeit von Gesprächen im geschützten Rahmen der Seelsorge hinweisen. Auch ein Themenabend oder das Angebot von Gesprächsgruppen, in denen Gelegenheit zum Austausch besteht, können für die Gemeindeglieder hilfreich sein. So stehen z.B. viele Eltern vor der Herausforderung, wie sie ihren Kindern bereits in der Erziehung Gottes Wertvorstellungen im Bereich Sexualität vermitteln können, und würden gerne von den Erfahrungen der Älteren profitieren. Gemeinsam könnte eine solche Gesprächsgruppe auch eine Liste wie die obige über die Vorzüge des Wartens erstellen. Diese könnte sowohl den Eltern für das Gespräch mit ihren Kindern dienen als auch dem Gruppenleiter für das Gespräch im Teenie- oder Jugendkreis. Wenn die Gemeindesituation dies zulässt, wäre neben diesen gruppenspezifischen Angeboten ein direkter Austausch zwischen Jung und Alt sicherlich spannend und bereichernd. Jedoch muss sorgfältig abgewogen werden, ob auf beiden Seiten die dazu nötige Offenheit und Gesprächsbereitschaft gegeben ist.

Obwohl „Sex vor der Ehe“ biblisch gesehen als Sünde einzustufen ist, sollte bei der Beschäftigung mit diesem Thema immer darauf geachtet werden, es nicht zur „Supersünde“ zu erheben. Man bedenke, dass 5Mose 22,29 als „Strafe“ für vorehelichen Geschlechtsverkehr lediglich die Zahlung des Brautpreises und die anschließende Heirat vorsieht. Gerade die Gemeinde sollte ein Raum sein, in dem Menschen neben klaren Wertvorstellungen und Korrektur auch Annahme in ihrer Fehlerhaftigkeit und Vergebung finden können.

Wenn Gemeinden unserer Gesellschaft - weiterhin oder wieder neu - den von Gott gewollten Umgang mit Sexualität vorleben, können sie dadurch dazu beitragen, Salz und Licht zu sein in einer Welt, die gerade in diesem Bereich Orientierung sucht und benötigt wie vielleicht nie zuvor.

© 2012 Institut für Ethik & Werte

Kerstin Schmidt

Kerstin Schmidt

Endnoten

  • 1
    Jugendsexualität 2010: Repräsentative Wiederholungsumfrage von 14- bis 17-jährigen und ihren Eltern, Hg. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln 2010, S. 109.
  • 2
    Ebd. 
  • 3
    Ebd. S. 106.
  • 4
    Um den folgenden Ausführungen zustimmen zu können, ist es also notwendig, diesen Selbstanspruch der Bibel anzuerkennen. Wer hingegen von anderen Voraussetzungen ausgeht, wird natürlicherweise auch zu anderen Ergebnissen gelangen.
  • 5
    Vgl. Hubertus Lutterbach, Sexualität. III. Historisch-theologisch, in: LThK 9, 3. Aufl. Freiburg 2000, S. 517.
  • 6
    Vgl. Michael Banner, Sexualität II. Kirchengeschichtlich und ethisch, in: TRE 31, Berlin 2000, S. 209
  • 7
    Vgl. ebd. S. 200-207 und Kurt Lüthi, Christliche Sexualethik, S. 178.
  • 8
    Denkschrift zu Fragen der Sexualität, Hg. Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland, S. 27.
  • 9
    In Art. 2390 des Katechismus der Katholischen Kirche heißt es: „Der Geschlechtsakt darf ausschließlich in der Ehe stattfinden; außerhalb der Ehe ist er stets eine schwere Sünde und schließt vom Empfang der Heiligen Kommunion aus.“
  • 10
    Bernhard Fraling, Sexualethik, S. 190-192.
  • 11
    Vgl. Markus Schäller, Sex Beziehungsweise Ehe, S. 22-23.
  • 12
    Vgl. Markus Schäller, Sex Beziehungsweise Ehe, S. 21.
  • 13
    Georg Huntemann, Biblisches Ethos im Zeitalter der Moralrevolution, S. 460.
  • 14
    Eine begründete eigene Stellungnahme zum „richtigen“ Umgang mit diesem Buch wird damit bewusst vermieden. Im Lauf der Kirchengeschichte und bis in die Gegenwart hinein wird dieser Text sehr unterschiedlich ausgelegt (einen Überblick hierzu bietet z.B. Pope, Marvin H., Song of Songs. A New Translation with Introduction and Commentary  (AncB 7C), New York 1977, S. 89-229), sodass eine eingehende Beschäftigung mit solchen Fragen den Ramen dieser Dokumentation bei Weitem sprengen würde. Für unsere Zwecke genügen Wahrnehmung und Be-urteilung der vorgebrachten Argumente.
  • 15
    So z.B. Herbert Haag / Katharina Elliger, Stört nicht die Liebe, S. 88.
  • 16
    So z.B. Ernst Würthwein, Das Hohelied, in: Die fünf Megilloth, Hg. Otto Eissfeldt (HAT 18), 1940, 2. Aufl. Tübingen 1969, S. 34.
  • 17
    So z.B. Jack S. Deere, Das Hohelied, in: 1. Könige - Hohelied, Hg. John F. Walvoord / Roy F. Zuck (Das Alte Testament erklärt und ausgelegt 2), Stuttgart 1991, S. 700.
  • 18
    Herbert Haag/Katharina Elliger, Stört nicht die Liebe, S. 89.
  • 19
    So z.B. Helmut Burkhardt, Ethik, S. 90.
  • 20
    Auch dass Jakob mit dem Geschlechtsverkehr mit Rahel sieben Jahre wartete, obwohl die Heirat sicher war, zeigt, dass in der Praxis vorehelicher Verkehr als illegitim galt.
  • 21
    So z.B. Herbert Haag/Katharina Elliger, Stört nicht die Liebe, S. 95.
  • 22
    So z.B. Markus Schäller, Porneia in Korinth und die Argumentation des Paulus, Hammerbrücke 2006, S. 178.
  • 23
    So z.B. Gerhard Dautzenberg, Studien zur paulinischen Theologie und zur frühchristlichen Rezeption des Alten Testaments (GSTR 13), Gießen 1999, S. 155.